Könnte sie bald einmal den amtierenden Regierungschef Giuseppe Conte ablösen? Die am Sonntag vom „Corriere della sera“ veröffentlichte Meinungsumfrage wirft im politischen Rom hohe Wellen und löst eine Flut von Spekulationen aus.
Zwar steuert Giuseppe Conte das Land recht souverän durch die Corona-Krise. Laut der Corriere-Umfrage liegt sein Beliebtheitswert bei sensationellen 61 Prozent. Im Februar waren es noch 48 Prozent.
Doch das könnte sich bald ändern. Dann nämlich, wenn die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Epidemie voll auf die breite Bevölkerung durchschlagen.
Salvini im Sinkflug
Zwar trägt die rechtspopulistische Lega von Matteo Salvini einen wesentlichen Anteil an der Verbreitung des Virus in Norditalien. Salvini verharmloste die Pandemie, sprach von Hysterie und spottete über Vorsichtsmassnahmen. Und die Lega-Führung in der Lombardei versagte zunächst radikal. Das hindert die Rechtspopulisten jetzt nicht daran, Ministerpräsident Conte für seine Corona-Politik anzuprangern und ihm eine Mitschuld an den 35’000 verstorbenen Italienern zu geben. Seit Wochen fordern die Rechtsparteien den Rücktritt Contes und seiner Regierung, die aus Sozialdemokraten und Vertretern der Protestpartei „Cinque Stelle“ besteht.
Doch Salvinis traditionelles Gezeter bringt ihm in der Wählergunst keinen Zuwachs. Im Gegenteil: Die Lega ist im Sinkflug, bleibt allerdings stärkste Partei. Laut der Ipsos-Umfrage des Corriere käme die Lega heute auf 23,5 Prozent. Bei den Europawahlen vor einem Jahr erzielte sie 34,3 Prozent.
Die italienischen Brüder
Doch eine andere Rechtspartei ist im Aufschwung. Die sehr rechts stehende Partei „Fratelli d’Italia“ (Brüder Italiens) legt seit Monaten zu und kommt jetzt laut Ipsos auf 17,5 Prozent der Stimmen. Damit ist sie zur drittstärksten italienischen Partei geworden und hat die Cinque Stelle überholt.
Im Logo der Fratelli d’Italia flackert eine grün-weiss-rote Flamme – das gleiche Symbol, das der neofaschistische „Movimento Sociale Italiano“ (MSI) verwendet hatte. Der von Giorgio Almirante geführte MSI war zwischen 1946 und 1995 die Nachfolgepartei von Mussolinis Bewegung.
1995 wurde der MSI von Gianfranco Fini „ent-mussolinisiert“. Fini verwandelte die Bewegung in eine konservative, rechtsnationale Partei und verpasste ihr einen neuen Namen: „Alleanza Nazionale“ (AN). Berlusconis Partei „Forza Italia“ regierte dann jahrelang mit der AN (und teilweise mit der Lega Nord).
Jung und frech
Giorgia Meloni war schon bald ein Aushängeschild der AN. Sie hatte eine Sprachschule besucht und arbeitete in Bars und als Kindermädchen. Mit 15 Jahren trat sie in die „Jugendfront“ des neofaschistischen MSI ein. Später engagierte sie sich in der Studentenbewegung der AN und wurde Journalistin. Die junge, frech auftretende AN-Frau faszinierte Berlusconi. 2008 berief er sie in sein Kabinett als Ministerin für Jugend und Sport.
2009 fusionierten Forza Italia und die AN. Die neue Partei hiess „Popolo della Libertà“ (PdL).
Meloni gehörte zu den ersten, die merkten, dass Berlusconis grosse Zeit zu Ende ging. Auch der flatterige Rechtskurs des Regierungschefs behagte ihr immer weniger. So setzte sie sich 2013 von Berlusconis Popolo della Libertà ab. Mit Gesinnungsgenossen gründete sie die rechtsradikalen Fratelli d’Italia. Schnell fand die alte faschistische und neofaschistische Klientele wieder eine politische Heimat.
Eine Mussolini-Nostalgikerin?
Der Parteiname der Fratelli bezieht sich auf die erste Strophe der italienischen Nationalhymne: „Fratelli d’Italia,
L’Italia s’è desta ...“ (Brüder Italiens, Italien hat sich erhoben ...).
Ist die resolute Giorgia Meloni eine Mussolini-Nostalgikerin und eine verkappte Faschistin, wie viele ihrer Wähler? Nein, das ist sie nicht. Aber sie schützt die faschistischen Wählerinnen und Wähler. Sie will sie ja nicht verlieren. Nie hat sie sich klar von Mussolinis Verbrechen distanziert. Sie sagt nur, Mussolini müsse „im Kontext seiner Zeit“ gesehen werden. Und sie tritt an Meetings auf, an denen Teilnehmer den Arm zum Römischen Gruss (eine Art Hitler-Gruss) strecken.
Rechtes Dreigespann
Die italienische Rechte besteht seit Mitte der Neunzigerjahre aus drei Blöcken: Aus Berlusconis Forza Italia, aus der Lega Nord (heute: Lega) und aus der Azione Nazionale (heute: Fratelli d’Italia).
Mehr als zwanzig Jahre lang dominierte Berlusconi die Rechte; ohne ihn ging gar nichts. Dann vor zwei Jahren brach Berlusconis Forza Italia ein. Die von Matteo Salvini geführte Lega begann den rechten Block zu beherrschen. Die Fratelli d’Italia spielten zunächst eine untergeordnete Rolle. Doch seit gut einem Jahr geht es mit den italienischen Brüdern aufwärts. Die Fratelli sind die einzigen, die langsam, aber regelmässig in der Wählergunst zulegen.
Meloni tritt immer wieder mit Salvini auf. Ideologisch liegen die beiden nicht weit auseinander. Auch sie steht der EU und dem Euro kritisch gegenüber, will keine Bootsflüchtlinge ins Land lassen, will die Immigration begrenzen und hat Kontakte mit den europäischen Rechtspopulisten. Zudem bewirtschaftet sie, wie Salvini, das bekannte, unappetitliche rechtspopulistische Programm.
Distanz zu Salvini
Doch Salvinis aggressives Trommelfeuer gegen die Regierung, gegen Europa, gegen Merkel, gegen die Ausländer beginnt viele zu ermüden. Seine fast täglichen, hasserfüllten Auftritte kommen immer weniger an.
Davon profitiert Meloni. Und sie profitiert auch davon, dass Berlusconis Partei immer weiter schrumpft. Viele, die heute für sie stimmen, haben früher für Berlusconi votiert. Seine einst staatstragende Forza Italia liegt laut der letzten Umfrage bei noch 7 Prozent.
Reizbar, aufbrausend
Meloni ist schlau. Es gelingt ihr immer wieder, trotz gemeinsamer Auftritte, sich von Salvini zu distanzieren. Ihre Forderungen wirken massvoller als jene von Salvini. Damit spricht sie ein gemässigteres Publikum an. Vieles in ihrem Programm klingt vernünftig. Sie appelliert an den Stolz der Italiener auf weniger plumpe Art, als dies Salvini tut.
Alles andere als gemässigt ist jedoch oft ihre Ausdrucksweise. Sie schreit herum, redet sich in Rage, lässt die Gegner nicht zu Wort kommen, ist reizbar, aufbrausend und unbeherrscht. Bei einer Diskussionssendung am Fernsehen wollte ihr die Moderatorin Lilli Gruber den Ton abstellen: „Tolgo l’audio.“ (Siehe Video unten)
Ministerpräsidentin Meloni?
Schon wird in Rom spekuliert, dass die Fratelli d’Italia eines Tages die stärkste Rechtspartei werden könnten. Und dann?
Die drei Rechtsformationen verfügen zur Zeit über ein Wählerpotential von insgesamt fast 50 Prozent. Irgendwann wird die Rechte an die Macht zurückkehren.
Wenn es den Fratelli gelingt, stärkste Rechtspartei zu werden, würde Meloni sicher den Anspruch erheben, Ministerpräsidentin zu werden. Die viertgrösste europäische Volkswirtschaft würde dann von einer rechtsradikalen Vertreterin einer postfaschistischen Partei geführt.
Meloni muss warten
Natürlich sind das Sandkastenspiele. Vieles bleibt unklar: Hält der Aufschwung der Fratelli an? Gelingt Salvini doch noch ein Comeback? Wird seine riesige Propagandamaschinerie ihm wieder Auftrieb geben? Niemand weiss es. Stimmungen können in Italien sehr schnell umschlagen. Das italienische Parteiengefüge ist sehr labil. Schon spekuliert man, dass der parteilose Giuseppe Conte eine eigene Partei gründen könnte.
Sicher scheint nur: Meloni muss noch warten. Ein schneller Regierungswechsel ist nicht in Sicht.
Contes ambitiöses Aufbauprogramm
Vieles hängt jetzt davon ab, ob es Conte gelingt, die wirtschaftlichen Schäden der Pandemie in Grenzen zu halten. Dass die EU Italien mit vielen Milliarden unter die Arme greift, wird als Erfolg Contes gewertet. Er hat inzwischen ein ambitiöses 55-Punke-Programm zur Modernisierung des Landes vorgestellt. Da geht es um die digitale Revolution, Infrastruktur, grüne Wirtschaft, Investitionen und Forschung, Gesundheit und Justiz – und natürlich geht es wieder einmal um den Abbau der Bürokratie. Sollten die EU-Gelder nicht im Sumpf der Mafia verschwinden und sollte es Conte gelingen, die Corona-Schäden abzufedern, wird er wohl noch einige Zeit regieren können.
Wenn aber Italien (noch mehr) in wirtschaftliche Turbulenzen gerät, könnten die Chancen der heute 43-jährigen Meloni wachsen.
Bürgermeisterin von Rom?
Aber auch wenn sie nicht bald Ministerpräsidentin wird: Auf dem Weg nach ganz oben könnte sie einen Zwischenstopp einlegen. Nächstes Jahr finden in Rom Bürgermeisterwahlen statt. Offenbar will Meloni kandidieren. Ihre Chancen stehen nicht schlecht.
Das Amt hat nur einen grossen Nachteil: Man kann sich die Finger verbrennen. Und damit seine Karriere ruinieren.
Giorgia Meloni in einer von der Star-Moderatorin Lilli Gruber geleiteten TV-Diskussionssendung (März 2019)