Die Ausstellung der Werke von Franceso Jodice gibt den Besuchern harte Nüsse zu knacken. Die Räume sind gefüllt mit Bildern, Texten, Videos und Materialien aller Art. So wurden einige Bücher ausgebreitet, die den Künstler, wie er selbst beteuert, nachhaltig beschäftigt haben.
Akte des Entstehens
Man wandert durch Panoramen von Bedeutungen, die in der Ausstellung allerdings nur deshalb von Bedeutung sind, weil der Künstler sie hier und jetzt zusammengestellt hat. Der Akt des Zusammenstellens ist für ihn essentiell. Die Kunst besteht nicht im Werk, das sich in seiner Form und Aussagekraft vom Prozess des Entstehens loslöst. Nein, die Akte des Entstehens gehörenm wesentlich dazu.
Und natürlich Erläuterungen. Sie sind zum Teil handschriftlich an die Wände aufgetragen. Zumeist enthalten sie Hinweise auf Missstände vielerlei Art: die Unwirtlichkeit der Städte, die Verschandelung der Natur, die Verdinglichung der Menschen durch die Ausbeutung. Die Grenzen der Darstellungsformen sind fliessend. Videos, Filmstills, Zeitungsausschnitte, Fotos, Interviewausschnitte stehen gleichberechtigt nebeneinander. Es ist auch kaum zu erkennen, wo die Übergänge zwischen reiner Dokumentation und künstlerischer Gestaltung verlaufen.
Eine Gemeinsamkeit der ausgestellten Bilder besteht in den Techniken der Verfremdung. Dadurch bekommt alles einen geheimnisvollen Touch. Diesen Effekt auf die Spitze getrieben hat Francesco Jodice mit seinen zufällig aufgenommenen Bildern von Passanten. Gerade wenn man die Person nur von hinten sieht, umgibt sie eine Aura unerzählter Bezüge und Möglichkeiten.
Unendlicher Roman
Nicht nur bei diesen Bildern stechen die Verbindungen zur deutschen Romantik ins Auge. Auch damals ging es um die schöpferische Subjektivität der Künstler, die sich selbst, analog zur idealistischen Ich-Philosophie, ins Zentrum stellten. Die Welt war nichts anderes als eine Materialsammlung, aus der sie sich bedienen konnten. In dem berühmten 66. Fragment von Novalis heisst es: „Alle Zufälle unseres Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen, alles ist erstes Glied in einer unendlichen Reihe, Anfang eines unendlichen Romans.“
Der Gefahr der allzu grossen Beliebigkeit versucht Francesco Jodice zu entgehen, indem er in einzelnen Werken die sozialen Bezüge in den Mittelpunkt stellt. So ist ihm eine beeindruckende Dokumentation der Arbeitsbedingungen in Dubai gelungen. Auch wenn dieses Thema nicht unbekannt ist, lässt die schamlose Ausbeutung den Betrachter nicht unberührt.
Francesco Jodice lebt in Mailand, wo er als Professor fur „Urbane Visuelle Anthropologie“ an der NABA Kunstakademie sowie als Dozent fur Fotografie an der „Fondazione Forma per la Fotografia“ tätig ist. Seine Werke waren unter anderem auf der documenta11, auf den Biennalen von Venedig und Sao Paulo, in der Tate Modern, dem Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia sowie im Castello di Rivoli zu sehen. – Die aktuelle Ausstellung in Winterthur ist in Zusammenarbeit mit CAMERA, Centro Italiano per la Fotografia in Turin, entstanden
Im Vorwort zur Begleitpublikation sieht der Kurator Thomas Seelig in der Ausstellung Happening & Fluxus von Harald Szeemann, die 1970 in Köln stattfand, einen Bezugspunkt. Und er resümiert: „Francesco Jodice arbeitet mit Methoden der Recherche, Vernetzung, Partizipation und Erzählkunst, über welche er die Welt dekonstruiert und im Massstab zum Menschen befragt.“ Viel auf einmal.
FRANCESCO JODICE – PANORAMA
11.02.–07.05.2017
Fotomuseum Winterthur, Grüzenstrasse 45
Begleitband: Spektor Verlag, Fotomuseum Winterthur, CHF 38.---