«Es ist Januar und ich frage mich, wohin geht die Reise?» Eine Winterlandschaft gleitet vorbei. Bald fährt eine Zugkomposition in ein Bahnhof-Untergeschoss ein, hält an. Nun hat die Kamera einen SBB-Wagen im Fokus, 1. Klasse. Wir sind in Zürich. So beginnt das persönliche, ja intime neue Werk von Stefan Haupt, «Zürcher Tagebuch», von Januar 2016 bis März 2020. Entstanden ist eine sensitive Hommage an die Stadt, wo der Autor 1961 geboren wurde, den allergrössten Teil seines bisherigen Lebens verbrachte: Zürich, die «Haupt»-Stadt.
Auch der Schreibende ist Stadtzürcher, im Niederdorf geboren, in der Limmatstadt wohnhaft, als ewig Verliebter gewissermassen. Auch wenn ein geschätzter Filmemacher zu einer «Liebeserklärung» an das Objekt der Begierde ansetzt ist – mit Verlaub – Skepsis nicht ganz fehl am Platz. Sie erweist sich hier aber als unbegründet.
Stefan Haupt weiss als erfolgreicher und mehrfach ausgezeichneter Dokumentar- wie Spielfilmer mit seiner Zu- und Einordnung des Zürcherischen die Stadt porentief zu lesen. So in seinem ersten Spielfilm «Utopia Blues» (2001), dem Drama um einen psychisch versehrten Teenager im Bann der Drogen und seiner Passion für coole Musik. Dann vortrefflich doku-fiktional auch in «Der Kreis» (2014), einem punktgenauen Sittenbild über die Schwulenszene am Ende der 1950er-Jahre. Und schliesslich 2019 im Historien-Drama «Zwingli», in dem einem die Zeit der Reformation in Zürich so unverkrampft und spannend nähergebracht wird, wie man das so noch nicht gesehen hat.
In seinem aktuellen Film schickt Stefan Haupt sich an, im Hier und Jetzt mit «einem permanenten Überfordertsein durch die mediale Newsüberflutung in Echtzeit – und dem ganz persönlichen Bestreben, mit dem gelebten Alltag und all seinen Anforderungen zurechtzukommen». Die da etwas sind: Klimawandel, Fragen zur Gleichstellung der Geschlechter, Migrationsfragen, politisch-populistische Strömungen oder, wie es Haupt formuliert, «die zunehmende Schere zwischen Arm und Reich, Fragen nach der Käuflichkeit der Demokratie, der konstanten Schwächung ihrer Institutionen genauso wie der unabhängigen Medien».
Kein Thesenfilm
Ebenso fragt sich der Autor: «Was ist wirklich wichtig? Wie will ich leben? Wohin bewegt sich unser multioptionales vielschichtiges Leben? Steuern wir unaufhaltsam auf einen Abgrund zu oder beginnt da gerade wieder neues Blut in den Adern zu fliessen?» Das sind die Kernfragen, die Stefan Haupt zu seinem Film-Tagebuch inspiriert haben. Es hält motivierende Antworten bereit, lässt Fragen offen, wirft neue auf.
Stefan Haupt hat ein Flair entwickelt, ausgehend vom eigenen Empfinden über das Medium Film das übergeordnete Grössere, Universelle kenntlich zu machen und es wieder auf den Betrachter zurückzuführen. Ohne das kritiklos geschönte Abfeiern irgendeiner Ideologie, aber auch ohne in Jammertiraden zu verfallen, gar einen trendigen Aktivismus zu bedienen. Sein «Zürcher Tagebuch» macht exakt das deutlich: Diesem Autor ist Authentizität wichtiger als eine selbstgefällige Verbildlichung von Thesen.
Primetower, Josefwiese, Böögg
«Zürcher Tagebuch» ist urbanes Vexierbild und jahreszeitliches, oft flash-artiges Bouquet zugleich. Mit dem Geflecht der Geleisestränge hin zum Hauptbahnhof. Oder dem schillernden, illuminierten, phallisch himmelwärts ragenden Primetower, der architektonischen Metapher für das zeitgenössische pulsierende Finanz-Turicum im digital-globalisierten Zeitalter – sauschön, aber auch ein unzugänglicher Tresor mit Geheimnissen.
Näher heran zoomt Stefan Haupt abseits des Paradeplatz-Bankenschicks, des eleganten Bellevues oder des Zürichbergs, dem Ort des etablierten Wohlstands: in sein multikulturelles Homeland (da fühlt sich auch der Schreibende aufgehoben), die Stadtkreise 4 und 5, Wipkingen, mit den quirligen Hotspots ums Lettenareal bei den Flüssen Sihl und Limmat, die Brücken und Stege, der stillgelegte Bahnviadukt. Und da ist auch der mausgraue Getreidespeicher, der Swissmill-Turm, von dem beim genauen Hinsehen eine faszinierende Sogwirkung ausgeht. Natürlich erkennt man ebenso die Begegnungsoase Josefwiese, den Röntgenplatz mit den strahlenförmig abgehenden Häuserzeilen.
Haupt präsentiert auch Wohlbekanntes aus dem Zürcher Ereignisfundus mit beschwingten Menschenmassen (von denen allerdings in Coronazeiten nicht mehr viel zu sehen ist). Das «Sechseläuten» erscheint im Film mit einer speziell explosiven Böögg-Verbrennung, die etwas Verstörendes hat. Oder die Bildsplitter vom bombastischen Feuerwerk des Seenachtsfests. Die Chilbi-Ambiance mit Kettenkarussell und Riesenrad. Der Streetparade-Groove, die Demonstration am Helvetiaplatz und anderes mehr. Irgendwie hat in Zürich alles etwas mit allem anderen zu tun, so wie es sich für einen Schmelztiegel gehört.
Ins Private eintauchen
Allerdings ist nicht das Herzeigen des öffentlichen Stadtlebens des Pudels Kern in «Zürcher Tagebuch». Haupts Film ist – bis ins extrem Nahe hinein – persönlich, seelentief im Eigenen verwurzelt, was keineswegs immer eine gute Idee sein muss für einen Kreativen. Bei Stefan Haupt aber macht es Sinn, weil er kann, was er wagt: tief ins Private einzutauchen, sich aber das Gespür für die uneitle, vornehme Distanz bewahrend. Es geht ihm sichtlich eben auch um seine Neugierde auf die gesellschaftspolitische Befindlichkeit, von der er ein Teil ist.
Nachdenklich stimmend, aber von schalkhafter Melancholie umflort sind Auszüge aus Sofa-Gesprächen mit den Eltern sowie eine Begegnung mit einer der Grossmütter in einem Heim. Angesprochen wird dabei Gewesenes, Aktuelles, unausweichlich Kommendes, will heissen: Abschied nehmen vom Leben, vom Sein. So vermittelt der Autor einen jederzeit von Respekt geprägten, aber direkten Einblick in die Hauptsche Lebensphilosophie, an der sich eigene Gedanken spiegeln lassen.
Zu Wort kommen in diesem Kontext auch die Kinder des Regisseurs: drei Töchter – zwei davon junge Erwachsene, eine Primarschülerin – und ein Sohn. Er studiert in Berlin, mochte vor der Kamera nicht auftreten, erlaubt dem Papa aber, ihn zu zitieren. Und er steuert, weil zuweilen als DJ unterwegs, Elemente zum Soundtrack bei. Der Haupt-Nachwuchs ist selbstbewusst und eloquent unterwegs und hat Substanzielles zu sagen. Niemand käme auf die Idee, da werde Vorgegebenes rezitiert, damit es dem Vater in den Kram passt.
Zürich, wo es zuweilen chlöpft
Dort, wo es gilt, komplexere gesellschaftspolitische Zusammenhänge zu akzentuieren, bietet Haupt Aussagen von teils bekannten Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Medien oder Kultur an. Wohltuend, dass man es nicht mit den üblichen Promi-Experten zu tun hat, sondern mit Fach- und Sachwissenden aus dem Freundes- und Bekanntenkreis des Regisseurs. Dazu gehören auch drei Flüchtlinge, die in Zürich leben. Einer stammt aus Afghanistan, zwei weitere sind Kambodschaner, die von Stefan Haupts Eltern aufgenommen wurden.
Der Filmschnitt von «Zürcher Tagebuch» war im März 2020 abgeschlossen. Die den Alltag verändernde Corona-Pandemie wird nicht thematisiert. Das ist kein Fehler. Denn der Film hat eine Scharnierfunktion zwischen Vergangenheit und Zukunft und ist wie ein Gleitflug für Gedanken, Assoziationen fürs Herz, fürs Gemüt, für den Intellekt, für eine veränderte Wahrnehmen einer Stadt, die leibt und lebt und wo es zuweilen chlöpft.
«Zürcher Tagebuch» ist eine puzzleartige Auslegeordnung, wie es sich für ein Tagebuch geziemt. Dass das Resultat des ambitionierten Vorhabens so stimmig und überzeugend ist, hat auch mit dem professionellen Engagement eines illustren Mitarbeiterstabs zu tun. Für den Schnitt etwa war der Berner Christof Schertenleib, für die Kamera der deutsche Lutz Konermann zuständig; beide sind auch als Filmautoren bestens bekannt. Und die Sprecherstimme hat Stefan Haupt dem Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart anvertraut.
«Jetzt fiel ein Stern. Siehst du, wie schön er fiel?»
Zum Finale gibt es wohlgesetzte Worte des Zürcher Lyrikers, Dramatikers und Erzählers Albert Ehrismann (1908–1998) aus seinem Gedicht «Zärtliches Gespräch». Es wurde 1939 veröffentlicht, an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg, einer für Zürich von existenziellen Unsicherheiten geprägten Zeit.
Du kannst nicht schlafen?
Sieh, die Nacht schläft auch.
Wie spät es sei,
und ob ich dich noch liebe?
Ich liebe dich.
Es ist ein alter Brauch.
Und lebte ich,
wenn ich nicht bei dir bliebe?
Jetzt fiel ein Stern,
siehst du, wie schön er fiel?
Er hing ganz oben
in den schmalsten Rahen.
Wir dürfen wünschen
Wünsche bitte viel!
Es war ein Glück,
dass wir ihn fallen sahen.»
Poetische Wortexzellenz mit Vollmond-Impressionen zum Ausklang von Stefan Haupts multiplem herznahem «Zürcher Tagebuch», das so ist, wie die geliebte Stadt mit ihren Menschen: allzeit bewegt und bewegend für alle.
Alle Fotos: Xenix Filmverleih