Ein bewährtes Rezept: Wer das Neue propagieren und verkaufen will, karikiert und diffamiert das Alte. Genauso macht es der Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, der Schaffhauser Christian Amsler, mit dem Lehrplan 21 und dem bisherigen Unterricht. „Früher wurde schlicht etwas ‘durchgenommen’ “, stellt er lapidar fest. Heute dagegen würde mit den Kompetenzen „das Zusammenwirken von Wissen, Können und Wollen“ geschult, betont er voller Euphorie.(1)
Früher passives, heute aktives Lernen
So einfach geht das. Man konstruiert einen plakativen Gegensatz und stellt den Status quo typischerweise so schlimm wie möglich dar: Bis heute nahm man etwas durch; in Zukunft schule man endlich Kompetenzen. Auslöser sei der Lehrplan 21. Er führe von der alten zur neuen Schule, vom verstaubten zum zeitgemässen Unterricht. So mindestens lässt sich Amslers Statement deuten. Sein salopper Satz setzt ganze Generationen gewissenhafter Lehrerinnen und Lehrer unter Generalverdacht.
Mit seiner Aussage steht er nicht allein. Vor einiger Zeit war in der Zeitschrift „ph-Akzente“ der Pädagogischen Hochschule Zürich zu lesen: „Während Lernen in der Schule früher oft die passive Übernahme von passivem Wissen bedeutete, geht es im Unterricht heute um die aktive Auseinandersetzung mit Lernzielen und Lerninhalten.“ Auch hier eine unselige Dichotomie: früher passives Konsumieren von Stoff – heute (endlich) aktives Lernen und Konstruieren.
Das Modewort „Kompetenz“
Diese „früheren“ Pädagogen fragen sich zu Recht, ob sie mit ihren fertigkeitsorientierten Lernzielen nicht auch Können geschult hätten – und sie fragen vielleicht weiter, warum von einem Paradigmenwechsel die Rede sei und was der Lehrplan 21 mit seinen Kompetenzen wirklich Neues bringe. Nicht umsonst seien Einführungen in den Lehrplan 21, so der Originalton von der Basis, oft verlorene Zeit – und für die Kantone wohl verlorenes Geld.
Das Wort „Kompetenz“ bedeutete früher einmal „Zuständigkeit“. Doch in der Zwischenzeit wurde es als betriebswirtschaftlich-erziehungswissenschaftlicher Doppelbalg zum geschwollenen Ersatzwort für „Können“ und verkam zu einem „Schlagwort“.(2) Jürgen Oelkers, emeritierter Zürcher Ordinarius für Pädagogik, gibt zu bedenken: Der Modebegriff „Kompetenz“ muss heute „für alles herhalten, was irgendwie innovativ klingt und doch selten das traditionelle Begriffspaar ‚Wissen und Können‘ übersteigt.“ (3)
Verzettelung
Zuerst kannte die Pädagogik nur drei Kompetenzen: die Sozial-, die Methoden- und die Selbstkompetenz. Dann kam noch die Sachkompetenz dazu. Und weil das Wort Kompetenz eben alles meint und damit eigentlich nichts aussagt, muss es aufgesplittert werden in verschiedene Teilkompetenzen. Darum umfasst die zweite Fassung des Lehrplans 21 auf 470 Seiten 363 Kompetenzen, unterteilt in über 2300 Kompetenzstufen.
Der Homo sapiens wird so zum Homo competens. In der Folge gibt es eigentlich nichts mehr, wozu wir nicht kompetent gemacht werden können: Teamkompetenz, interreligiöse Kompetenz, Neugierkompetenz, Stresskompetenz, Darstellungskompetenz, Unterstreichkompetenz, Hilfe-Annahme-Kompetenz usw. usf.
Probleme lösen können
Als Vater des heutigen Kompetenzbegriffes gilt Prof. Franz E. Weinert, Gründungsrektor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München. Viele Wissenschaftler haben seine präzisen Ideen allerdings verdreht und verwässert. Weinert wollte die Schule wegbringen von einer oft einseitigen Dominanz des Wissens. Fähigkeiten fördern und schulen, das war seine Devise: Junge Menschen müssen Probleme lösen können. Dazu brauchen sie Wissen, Willen und Motivation.
Es ist die alte Erkenntnis, die pflichtbewusste Lehrerinnen und Lehrer immer geleitet hat: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll junge Menschen besser denken und handeln lassen. Darin enthalten sind die „drei grossen G“: Grundkenntnisse, Grundfertigkeiten und Grundhaltungen. Diese Trias kann eigentlich gar nicht veralten, weil sie so etwas wie ein Nonplusultra darstellt. Eine Art Naturgesetz – wie die pädagogischen Gesetzestafeln vom didaktischen Berg Sinai. Sie sind kurz, knapp und konkret.
Die Angst vor dem Zufälligen
Der Lehrplan 21 bringt vieles und Umfassendes. Doch die Grundskepsis bleibt: Wer so viel bringt, bringt allen etwas. Alles aber ist der Feind von etwas. Oder anders gesagt: Wenn die Fülle der Vorgaben so umfassend wirkt, werden sie im Alltag kaum Realität. Nicht umsonst meinte die Basel SP-Ständerätin Anita Fetz in der ZEIT: „Eine überambitionierte Bürokratenmaus hat einen Dokumentenberg geboren.“
Sie spricht damit aus, was nicht wenige befürchten: Die vielen Vorgaben führen dazu, dass der Wissens- und Könnensaufbau eher zufällig bleiben wird und das Systematische zu kurz kommt. Jugendliche aber brauchen kognitive Ordnungsstrukturen, Denkprozesse benötigen klare Wissensstrukturen. „Wenn man die Schule in unzählige Einzelkompetenzen zerlegt, zerfällt die Gestalt des Unterrichts irgendwann zu Staub“, gibt Ralph Fehlmann, Fachdidaktiker an der Universität Zürich, zu bedenken.
Wissen und Können verknüpfen
Realitätsbezogene Lehrerinnen und Lehrer wussten es schon immer: Können oder eben Kompetenz kann nur mit Allgemein- und Fachwissen erarbeitet werden – einem Wissen, das nicht additive Kenntnisse meint, sondern geordnetes Strukturwissen. Dazu braucht es eine klare Unterrichts- und Lehrstrategie: Wie vermittle und schule ich als Lehrer verstandenes und anwendbares Wissen? Das Reflektieren und Beschreiben des eigenen Lernprozesses, bekannt als metakognitives Denken, fördert und stärkt diese Lehrstrategie.
Ein solcher Unterricht ist nicht mit dem blossen Nachvollzug von Schulwissen gleichzusetzen. Schon immer ging es um das Verstehen, Durcharbeiten und Anwenden von Inhalten durch die Schülerinnen und Schüler, also um zunehmendes Können oder um kontinuierlich verbesserte Kompetenz. Darin liegt das Geheimnis eines lernwirksamen Unterrichts. Auch in der alten Schule. Dazu braucht es keinen Paradigmenwechsel.
Wider den Geist der Beliebigkeit
Wer allerdings den Lehrplan 21 betrachtet, erhält nicht selten den Eindruck von Beliebigkeit und Zufälligkeit. Es macht den Eindruck, als komme es in der Schule nicht so sehr auf die Geometrie, die Grammatik der deutschen Sprache, das Kreieren und Verstehen von Texten, die Geschichte unserer Herkunft als solche an, sondern primär auf den Erwerb von Kompetenzen wie das „Lernen des Lernens“ oder das Googeln von Informationen. Das ist nicht prinzipiell falsch, aber Kompetenzen ergeben sich eben erst als Nebeneffekt intensiven Nachdenkens und Arbeitens an Inhalten. Wissen und Können entstehen nicht beiläufig, sondern als Ergebnis von Engagement. Bei einem solchen Unterricht werden Lehrer auch nicht zu Verwaltern von Kompetenzen und zu Lernbegleitern degradiert. Sie bleiben, was sie immer waren: Pädagogen.
Schule und Unterricht haben eben mehr als lediglich einen instrumentellen Sinn; sie vermitteln mehr als messbare und anwendbare Kompetenzen – mit dem kalten Kalkül ökonomischer Nützlichkeit und der Employability. Das wäre der schulische McKinsey.
Technokratischer Geist
Bildung lässt sich nicht in der Hast rascher Erledigung erwerben; sie ist mehr als fachliche Qualifikation und „Fitsein für...“. Unserem humanistischen Menschenbild entspricht es in keiner Weise, Kinder und Jugendliche in Kompetenzen zu zerlegen. Der Dekonstruktion des Menschen in Teilkompetenzen wohnt ein technokratischer Geist inne; da atmet etwas Seelenloses.
Darum müsste der Lehrplan 21 ein stärkeres Augenmerk auf die bildungsphilosophischen Ziele der Schule legen und sie humanistisch abstützen. Gerade die heutige Zeit bräuchte eine stärkere Umorientierung hin zu Werten, wie sie Wilhelm von Humboldt vertreten hat: Bildung als Kultivierung seiner selbst und als Fähigkeit umfassender Orientierung – in einer Welt, die aus den Fugen gerät. Humboldt statt McKinsey lautet der Imperativ der Stunde.
(1) Christian Amsler, Bildung für Nachhaltige Entwicklung im Lehrplan 21 – für unsere Kinder und für die Zukunft, in: ilz.ch 3/2016, S. 3
(2) Rolf Dubs, Die Defizite des Lehrplans 21, in: Schweiz am Sonntag, 2.11.2014
(3) Jürgen Oelkers (2009), Die Persönlichkeit im Lehrberuf und wie man sie bildet. Vortrag an der PH Zug, 27.10.2009, Msc. S. 9