Er sei, erzählen Freunde, bis zu seinem Tod stets neugierig geblieben. Mut und Neugier, habe er einst gesagt, machten den guten Journalisten aus. Harold Evans hatte beides im Übermass, und er scheute sich nicht, seine Stärken zu zeigen: gegenüber Politikern, Verlegern und Wirtschaftsführern. «News ist, was immer jemand unterdrücken will», sagte er einem Interviewer: «Alles andere ist Werbung.»
Der Sohn eines Dampflokomotivführers und einer kleinen Ladenbesitzerin in Nordengland vergass nie, dass er der Arbeiterklasse entstammte, egal wie hoch in der Hierarchie der britischen Presse und später des amerikanischen Verlagswesens er auch stieg. Mochte die Queen ihn 2004 für seine Verdienste um den Journalismus adeln, für Freunde, Bekannte und Untergebene blieb Sir Harold schlicht Harry Evans.
«Ein wahres Genie»
Für Bob Woodward, der als Reporter der «Washington Post» im Team mit Carl Bernstein den Watergate-Skandal aufdeckte, war Harold Evans «ein wahres Genie». Er kenne, sagt der 77-Jährige, keinen zweiten, der im Umgang mit Wörtern so gewandt gewesen sei, «als wegweisender Chefredaktor, gewandter Schreiber, Buchverleger, Buchautor und, am wichtigsten, als anregender Gesprächspartner».
Harold Evans’ lange Karriere war untypisch. Bereits als 15-Jähriger schrieb er Zeitungen in und um Manchester an und erkundigte sich nach einem Job. Schliesslich stellte eine Wochenzeitung in Ashton-under-Lyne den Jugendlichen an – nicht zuletzt, weil er stenografieren konnte, was er als einziger Junge unter lauter Mädchen in der Schule gelernt hatte. Auch herrschte 1943 noch Krieg, und die meisten erwachsenen Männer im Lande leisteten Militärdient: «Ich berichtete über die Untersuchungen, die Gerichte und ging einfach auf die Strasse, um lokale Nachrichten zu finden. Man nannte das Paragraphieren.»
Ein Bewunderer Hollywoods
Hollywood, erinnerte sich Harold Evans später, habe schon früh seine Zuneigung zu Zeitungen verstärkt: «Ich identifizierte mich mit dem Redaktor der kleinen Lokalzeitung, der es mit den Gaunern aufnimmt, mit dem hartgesottenen Reporter, der etwas aufdeckt und dabei die Liebe des Mädchens gewinnt, und mit dem Auslandkorrespondenten, der feindliche Spione überlistet.»
Unter anderem berichtete der junge Journalist in Ashton-under-Lyne über einen Besuch von Heilsarmeegeneral George Carpenter. Als der hohe Gast die versammelten Heilsarmisten fragte, ob sie gerettet worden seien, gab sich Evans als Journalist zu erkennen. «Aber auch Sie können gerettet werden», sagte der General.
Ein perfekter Handwerker
Nach dem Krieg und einem ersten Schulabschluss diente Harold Evans drei Jahre lang in der Royal Air Force (RAF), wo er für eine Truppenzeitung verantwortlich war und in einem Fall zur Freude der Dienstkollegen statt der üblichen Aufnahmen eines britischen Flugzeugs das Foto einer nur spärlich bekleideten Filmschauspielerin auf die Frontseite hievte – früher Beweis seines Talents im Umgang mit gedruckten Zeitungen. «Er konnte alles», erinnert sich Alan Rusbridger, Ex-Chefredaktor des Londoner «Guardian» und selbst einer der besten seiner Zunft: «Wundervoll schreiben; wirkungsvoll gestalten; einfühlsam redigieren; die perfekte Schlagzeige formulieren; ein Bild beschneiden; Rechtshändel überstehen.»
Alan Rusbridger zufolge gab es niemanden, der über das Handwerk des Journalismus besser Bescheid wusste als Harold Evens, und auch keinen, der sein Wissen mit so viel Leidenschaft vermittelte. So gab Evans 1972 unter dem Titel «Editing and Design» ein fünfbändiges Werk über Sprachgebrauch, Typographie und Layout heraus. Es waren damals die besten Lehrbücher für angehende Journalisten, vor allem das 332-seitige «Pictures on Page», eine Einführung in die Praxis des Fotojournalismus, der Zeitungsgrafik und des Seitenlayouts. Sein letztes Buch trug 2017 den Titel «Do I Make Myself Clear?» – Drücke ich mich klar aus? Der Untertitel: «Warum es wichtig ist, gut zu schreiben.»
Ein Verehrer Amerikas
Nach der Dienstzeit in der RAF studierte Harold Evans an der University of Durham Politik und Wirtschaft und verbrachte als Stipendiat ein Jahr in den Vereinigten Staaten, wo er an der University of Chicago sowie an der Stanford University studierte und wo seine Liebe für Amerika erwachte, wohin er 1984 auswandern und 1993 Staatsbürger werden sollte. Das Land war für ihn ein Ort, wo «zu träumen noch erlaubt war» und über das er zwei Sachbücher schrieb, die beide zu Bestsellern wurden: «The American Century» (1998) und «They Made America: From the Steam Engine to the Search Engine, Two Centuries of Innovators» (2004).
Harold Evans’ Karriere in England begann 1961 beim «Northern Echo» in Darlington, wo er im Alter von 33 Jahren Chefredaktor wurde – als später Nachfolger des legendäre W. T. Stead (1849–1912), der seinerzeit zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, weil er im «Echo» über Kinderprostitution, «weisse Sklaverei» geschrieben hatte. Bevor Stead Chefredaktor wurde, schrieb er einem Freund, er wisse nicht, ob er, journalistisch unerfahren, den Posten antreten solle, es wäre aber auch «a glorious opportunity of attacking the devil» – eine einzigartige Gelegenheit, den Teufel, d. h. soziale Ungerechtigkeiten zu attackieren.
Ein unerschrockener Enthüller
Kein Wunder, hing in Harold Evans’ Büro in Darlington ein Bild des verehrten Vorgängers, dessen Credo er nacheiferte, als er in einer Reihe von Artikeln bewies, dass Timothy Evans (kein Verwandter) 1950 zu Unrecht als Doppelmörder hingerichtet worden war. «Wir haben einen Riesenstunk gemacht», sagte der Chefredaktor des «Northern Echo» später. Das britische Parlament untersuchte den Fall, kam wie die Zeitung zum Schluss, dass der Verurteilte unschuldig war und die Königin begnadigte Timothy Evans posthum. Und der Fall trug wesentlich dazu bei, dass in Grossbritannien die Todesstrafe abgeschafft wurde.
In der Folge wurde die «Sunday Times» in London, die sich im Besitz des kanadischen Verlegers Roy Thompson befand, auf den profilierten Chefredaktor in Nordengland aufmerksam und stellte ihn 1965 als Mitarbeiter an. Bereits ein Jahr später rückte Harold Evans als Chefredaktor nach und verwandelte das eher langweilige Blatt in einen lebendigen Hort des investigativen Journalismus. Er kreierte ein eigenes «Insight Team», dem vier Top-Reporter und ein Rechercheur angehörten.
Ein Widersacher der Regierung
Unter anderem enthüllte die «Sunday Times» 1967, dass der sowjetische Maulwurf Kim Philby nicht nur, wies es offiziell hiess, ein niederrangiger Diplomat gewesen war, als er nach Moskau überlief, sondern Chef der anti-sowjetischen Spionageabwehr des MI6 und erster Verbindungsoffizier zur CIA. Vorwürfe, das Blatt habe mit seinen Enthüllungen die nationale Sicherheit gefährdet, zog die britische Regierung beschämt zurück. Als erster Chefredaktor hatte es Evans zuvor gewagt, eine sogenannte «D-Notice» des britischen Geheimdiensts zu missachten, eine «freiwillige Anweisung», welche die Publikation des Primeurs verhindern sollte.
Fünf Jahre später deckte das Blatt auf, was 1972 am «Bloody Sunday» im nordirischen Derry tatsächlich geschehen war, als britische Soldaten während eines Protestmarsches gegen die Inhaftierungen ohne Verfahren 26 unbewaffnete Demonstranten erschossen. 1974 fand die «Sunday Times» nach dreijährigen Recherchen heraus, dass eine nachlässig gewartete Türe zum Frachtraum des Flugzeugs zum Absturz einer DC-10 der Turkish Airline über Paris geführt hatte, der 346 Menschen das Leben kostete.
Ein engagierter Opferanwalt
Als Harold Evans’ grösster Erfolg gilt gemeinhin die Kampagne der «Sunday Times» gegen «Distiller», den britischen Hersteller von Thalidomid. Das Medikament, das auch unter dem Namen Contergan bekannt, war in den 1950er-Jahren von der deutschen Chemiefirma Grunenthal als Beruhigungsmittel entwickelt worden und wurde gegen morgendliche Übelkeit bei Schwangeren verschrieben. In der Folge sollten weltweit gegen 10’000 Säuglinge deformiert auf die Welt kommen.
Die «Sunday Times» enthüllte nicht, wie schädlich Thalidomid war, was bereits bekannt war. Das Blatt setzte sich aber dafür ein, dass die betroffenen Familien von der Herstellerfirma angemessen entschädigt wurden. Gleichzeitig wehrte sich Harold Evans erfolgreich gegen ein Gesetz, das es Zeitungen verbot, über ein laufendes Verfahren zu berichten, selbst wenn der Prozess das öffentliche Interesse tangierte.
Am Ende urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der Versuch der britischen Regierung, die Berichterstattung über das Thalidomid-Verfahren zu verhindern, hätte die Redefreiheit verletzt. Das entsprechende Gesetz musste geändert werden. Der Dokumentarfilm «Attacking the Devil», in Anlehnung an das Diktum von W. T. Stead, zeichnet die ganze Episode nach.
«Unter all den Themen, über die er in seiner Laufbahn berichtete, hat ihm Thalidomid am meisten bedeutet», sagt heute ein früherer Mitarbeiter über Harold Evans: «Er hat die Kinder nie im Stich gelassen.» So schrieb Evans etwa alle 650 Mitglieder des britischen Parlaments in dieser Sache persönlich an und legte die Kopie des Artikels seiner Zeitung über das schädliche Medikament bei. Er verachtete aber den Kampagnenjournalismus, wie britische Boulevardblätter ihn betrieben, um Prominente zu Fall zu bringen.
Ein gutgläubiges Opfer
1978 stellte die «Sunday Times» wegen eines Streiks der Druckergewerkschaft über die neue Computer-Technologie und den resultierenden Stellenabbau ihr Erscheinen für fast ein Jahr ein, was Verleger Roy Thompson schmerzliche Verluste bescherte. Die zähe Auseinandersetzung zwischen Management und Belegschaft endete drei Jahr später mit dem Verkauf der Sonntagszeitung an den australischen Verleger Rupert Murdoch.
Harold Evans, auf der Redaktion nicht unumstritten, wurde 1981 Chef der täglichen «Times». Dies im Glauben, Rupert Murdoch, ein Freund Margaret Thatchers, würde keinen Einfluss auf die politische Linie der Zeitung nehmen. Evans irrte, wehrte sich vergebens und wurde entlassen. «Mein Ehrgeiz war stärker als mein Urteilsvermögen», schrieb er 1983 in seinen Memoiren «Good Times, Bad Times».
Ein Fehler war es auch, wie er einräumte, sich statt gegen den Verkauf der «Times» an Rupert Murdoch wider eine Übernahme der Zeitung durch einen Verbund von Journalisten gestellt zu haben: «Ich war zu naiv und zu gutgläubig». Immerhin soll der als «australische Killerbiene» karikierte Verleger den Abgang mit einer Entschädigung von 450’000 Dollar erleichert haben. «Am Ende steigt oder fällt alles mit den Werten und den Einschätzungen des Besitzers», folgerte Evans nach seiner Niederlage: «Auf höchster Ebene ist eine grosse Zeitung aber nicht nur ein persönlicher Besitz, sondern ein öffentliches Gut.»
Ein erfolgreicher Buchverleger
1984 zog Harold Evans in die Vereinigten Staaten, wo er an der Duke University und in Yale unterrichtete, bevor er wenig Aufsehen erregend für verschiedene Arbeitgeber tätig wurde. Unter anderem gründete er 1987 für den Verlag Condé Nast das Magazin «Traveller», das insofern bahnbrechend war, als seine Autoren, meist renommierte Schriftsteller, keine Einladungen oder Geschenke irgendwelcher Natur annehmen durften.
Inzwischen hatte Harold Evans 1981 ein zweites Mal geheiratet und zwar Tina Brown, eine frühere Mitarbeiterin der Londoner «Times» und Chefredaktorin des High Society-Magazins «Tatler». Die ambitionierte Journalistin machte auch in New York Karriere, erst als Chefredaktorin des Monatsmagazins «Vanity Fair» und später des Wochenmagazins «The New Yorker». 2008 gründete Brown die linksliberale Website «The Daily Beast», die in der Folge mit «Newsweek» fusionierte. Mit ihrem Gatten bildete sie eines der prominentesten Paare New Yorks. Die beiden wohnten in einem Apartment in Manhattans exklusivem Quartier Sutton Place und führten ein reges, viel beachtetes Sozialleben.
Ein Entdecker Barack Obamas
1990 wurde Harold Evens Präsident des New Yorker Verlages Random House, wo er sieben Jahre lang mit bekannten Autorinnen wie Shana Alexander, Maya Angelou oder Gail Sheehy und renommierten Autoren wie Henry Kissinger, Neil Sheehan oder William Styron ins Geschäft kam. Evans war bekannt dafür, exorbitante Vorschüsse zu zahlen. Für Marlon Brandos Memoiren «Songs My Mother Taught Me» zahlte er fünf Millionen Dollar, für Colin Powells Erinnerungen «My American Journey» gar 6,5 Millionen Dollar. Dagegen erwarb er 1994 für mickrige 40’000 Dollar die Memoiren «Dreams From My Father» eines nahezu unbekannten späteren US-Senators namens Barack Obama.
Am Ende seiner über 70-jährigen Karriere kehrte Harold Evens noch einmal in den Journalismus zurück. Er arbeitete für Mortimer Zuckermans Wochenmagazin «U.S. News & World Report» und ab 2011 für die Nachrichtenagentur Reuters. Die Passion für die Presse hatte er in der Zwischenzeit nie verloren. «Wie betörend duftet eine frisch gedruckte Zeitung», schrieb er in seinen 2009 erschienenen Memoiren «My Paper Chase».
Ein unermüdlicher Sucher
Doch Evans fürchtete auch um die Zukunft der Presse. «Ich glaube, dass sich ob des Zwangs zu höheren Auflagen die Verpflichtung für das öffentliche Wohl vermindert hat», sagte der 81-Jährige in einem Interview mit National Public Radio (NPR). «Der investigative Journalismus, wie er mir als absolut essenziell vorschwebt, ist in Gefahr und an einigen Orten bereits ausgestorben. Wir brauchen diesen Suchscheinwerfer, um zu wissen, was zur Hölle vorgeht.»
Für Harold Evans, sagt der frühere «Times»-Weggefährte Bruce Page nach dessen Tod, sei die Wahrheit stets eine Notwendigkeit gewesen, «weil er wusste, dass sie immer komplex ist – folglich überraschend – und nicht erfunden werden kann.» Evans selbst bemerkte, der Umstand, dass der Tumult der Welt durch die Abwägung von Werten innerhalb der Disziplin einer gedruckten Zeitungsseite verständlich gemacht werden könne, fasziniere ihn unendlich.
«Er wusste, warum Journalismus wichtig war», schreibt Alan Rusbridger im «Guardian» am Ende seines Nachrufs auf Harold Evans: «Er verhalf dem Journalismus zu einem guten Ruf. Er erinnerte uns daran, warum wir Journalisten sein wollten und was guter Journalismus alles erreichen konnte und sollte. Keiner von uns darf das vergessen.»
Quellen: AP, Reuters, BBC, The Northern Echo, The Guardian, The New York Times, The New Yorker, The Washington Post, Wikipedia