Im Osten Deutschlands können keine Landesregierungen mehr formiert werden ohne vom BSW diktierte pazifistische Bekenntnisse. Das Nein zu Waffenlieferungen für die Ukraine findet in der Bevölkerung viel Zustimmung. Auch in der baldigen Bundestagswahl könnte der Ukrainekrieg den Ausschlag geben.
In Thüringen haben sich Ende letzter Woche nach langem Gezerre CDU, SPD und BSW auf einen Koalitionsvertrag verständigt. Knackpunkt der Einigung für diese Brombeer-Koalition sind die Vorgaben Sahra Wagenknechts: keine weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine und keine Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen. Letztere sollen in Deutschland die Abschreckung gegen die russische Bedrohung sicherstellen, die von den in Kaliningrad bereits aufgestellten Iskander-Systemen ausgeht.
Die Eiertänze der thüringischen Koalitionsverhandlungen haben einen Vertragsentwurf hervorgebracht, in dem 28 Mal das Wort «Frieden» steht. Diese weltpolitische Ambition wirkt etwas schräg im Regierungsprogramm eines Bundeslands, das gerade mal 2,5 Prozent der Bevölkerung Deutschlands ausmacht.
Ähnliches vermeldet jetzt auch Brandenburg. Hier haben zwei Monate nach der Landtagswahl die SPD und das BSW zu einer Koalition zusammengefunden. Die Schwierigkeit lag auch hier an systemsprengenden Friedenspostulaten der Wagenknecht-Partei, die deren Chefin als unverhandelbar deklarierte. Nun gibt es trotzdem eine diplomatische Einigung, die aber – wie auch in Thüringen – erst noch das Plazet von der regionalen Basis der Neupartei benötigt.
Im Brandenburger Koalitionsvertrag liest die ausgehandelte Lösung sich so: «Wir nehmen die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst, dass sich der Krieg ausweitet und damit das Risiko besteht, dass auch Deutschland in eine sich immer schneller drehende Kriegsspirale hineingezogen wird. Der Krieg wird nicht durch weitere Waffenlieferungen beendet werden können.»
Sahra Wagenknecht, die sich hierin übrigens mit der AfD einig ist, trifft mit ihrer absoluten Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine einen Nerv: Im September waren 51 Prozent der Deutschen gegen weitere Waffenlieferungen; 38 Prozent waren dafür. Bei der Raketenstationierung sind 45 Prozent dagegen und 40 Prozent dafür (Stand Oktober).
In der deutschen Bevölkerung gibt es seit dem Nato-Doppelbeschluss von 1979 eine starke pazifistische Strömung, verbunden mit einer verbreiteten Abneigung gegen die Westbindung, sprich: die USA. Die Idee «Frieden schaffen ohne Waffen» ist aus der deutschen Politik nicht mehr verschwunden. Sie hat eine unverändert hohe Anziehungs- und Mobilisierungskraft – und dies, obschon der so verfemte Nato-Doppelbeschluss sich als historisch erfolgreich erwiesen hat: 1988 trat der INF-Abrüstungsvertrag zwischen Nato und Sowjetunion in Kraft.
Deutschland musste im Zweiten Weltkrieg mit unvorstellbaren menschlichen Opfern und gigantischen militärischen Anstrengungen von der NS-Herrschaft befreit werden. Und ausgerechnet in Deutschland hält ein Grossteil der Bevölkerung die Illusion aufrecht, man könne ein aggressives Gewaltregime wie Putins Russland allein mit Diplomatie in die Schranken weisen. Zudem redet man sich ein, es gelte bloss auf jede Vergeltungskapazität zu verzichten, um eine manifeste russische Bedrohung wie die Iskander-Aufstellung im nahen Kaliningrad zu neutralisieren.
Die Friedensbewegung der 80er-Jahre vereinte damals linke, christliche und moralische Impulse. Deren gemeinsamer Nenner war letztlich der Glaube, was sein solle, das werde auch sein. Die feste Überzeugung, für das Richtige zu stehen, würde schon genügen, die Welt zum Guten zu verändern. Der Friede werde kein frommer Wunsch bleiben, weil der Gang der Geschichte ihm entgegenkommen werde. Das war eher ein diffuses Zeitgefühl als eine klare Haltung, und es wurde von weiten Kreisen der Gesellschaft geteilt.
Als dann ab 1989 auch noch der Ostblock sich aufzulösen begann, schien sich die Friedensvision zu realisieren – und alsbald begannen die Staaten Westeuropas durch Wegsparen ihrer Verteidigung die Friedensdividende zu konsumieren. So etwas wie Kampf für die Freiheit entschwand völlig aus der westlichen Vorstellungswelt: Man war in postheroischen Zeiten angelangt.
Und dort will eine Mehrheit der Menschen nun offenbar bleiben. Der Krieg, den Putins Russland der Ukraine schon seit 2014 aufzwingt, stört allerdings das postheroische Weltbild. AfD und BSW haben sich zu Wortführern derjenigen erhoben, die diese weltpolitische Störung in ähnlicher Weise nicht akzeptieren, wie andere die Störung durch das Coronavirus von sich wiesen. Eben deshalb finden die Rechtsextremen und die Linksrechten mit ihrer simplen Antikriegs-Rhetorik weit über ihre eigene Anhängerschaft hinaus viel Anklang. Die angeblich dem Frieden verpflichtete Litanei ist bekannt: Man kann gegen eine Atommacht nicht gewinnen; mehr Waffen beenden den Krieg nicht; man muss mit Putin verhandeln; die Sanktionen schaden nur uns selber.
In den Bundestagswahlen vom kommenden Februar wird diese Art von Friedensdiskurs eine grosse, vielleicht gar die Hauptrolle spielen. Was dessen Postulate so fatal wahlkampftauglich macht, ist ihre Einfachheit. Sie verlangen, anders als die weiteren grossen Themen, denen sich Deutschland stellen muss (Wirtschaft, Klima, Infrastruktur, Sozialpolitik, Migration etc.) keine komplexen, langwierigen und teuren Lösungen, sondern bloss einen simplen Stopp: aufhören, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen. That’s it. Solche Einfachheit ist im Wahlkampf verführerisch.
Die Klaviatur der Angst vor einem möglichen Herüberschwappen des Kriegs werden nicht nur BSW und AfD bespielen. Olaf Scholz hat sich bereits als «der Besonnene» ins Spiel gebracht, der Deutschland mit der Verweigerung von Taurus-Lieferungen an die Ukraine angeblich vor Kriegsrisiken bewahrt. Er stylt sein notorisches Zögern jetzt offensiv zur staatsmännischen Weisheit. Vielleicht hat er sich ausgerechnet, dass er sich mit dieser Volte vom Odium des gescheiterten Kanzlers und von seinen desaströsen Beliebtheitswerten lösen könnte.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese kühne Strategie aufgeht. Gegen den herrischen, manch Unbequemes (Anstrengung! Leistung!) fordernden Friedrich Merz könnte das Angebot einer Politik, welche unter Verzicht auf schrille Töne das geistige Komfortbedürfnis der Wählerinnen und Wähler befriedigt, eine valable Option sein.
Scholz, der Friedenskanzler? Das hat zwar in der Europawahl vor einem halben Jahr nicht funktioniert, aber seither ist die Lage in der Ukraine bedrohlicher geworden. Hinzu kommt: Scholz hat nicht viel anderes anzubieten. Die Leistungen seiner Ampel sind überschaubar. Warum nicht entschlossen auf die «German Angst» setzen und sich den Erschreckten als «den Besonnenen unter den demokratischen Bewerbern» anbieten?