Die Massenaufmärsche von Paris und anderswo haben die Strassen und Plätze dem Alltag wieder zurückgegeben. Charlie Hebdo ist in Millionenauflage mit dem weinenden Propheten auf der Front bei den Leuten. Erörterungen über Islam und den Westen, über Freiheit und Extremismus, über Religion und Gewalt füllen zurzeit Spalten, Talks und das Web.
Mit «Charlie» haben sich Massen und Prominente identifiziert. Die Chiffre steht für die Inanspruchnahme schrankenloser Freiheit mit dem Medium der frechen, respektlosen Satire. Unter den vielen, die sich solidarisch einreihten ins demonstrative «Je suis» oder «Nous sommes Charlie», gaben nicht wenige zu, dass ihnen die Angriffigkeit des kleinen Magazins mitunter Bauchschmerzen machte. Sie demonstrierten trotzdem, weil sie erkannt hatten, dass die von keinen Rücksichten domestizierte, die unflätige, die verletzende Satire das scharfe Instrument ist, welches dem Kampf gegen die immer und überall wirkenden Tendenzen zur Beschneidung und Verengung der Freiheit dient.
Utopie der offenen Gesellschaft
Über diese Freiheit und deren Bedrohungen ist eine riesige Auseinandersetzung in Gang gekommen. Nicht nur Analysen, Meinungen und Diskussionen sind Teile davon. Sie findet genauso Ausdruck in Demonstrationen, Mahnwachen und ostentativen Begegnungen. Worte und Gesten bekannter und unbekannter Personen berühren oft stärker als kluge Essays. Wir sind Zeugen und Teilnehmer einer grossen Positionsbestimmung des Prinzips und der Utopie der offenen freien Gesellschaft. Diese Debatte spielt sich ab in einer Welt, in der weder die Utopie der Offenheit allen als erstrebenswert vorschwebt noch das Prinzip der Freiheit überall hochgehalten wird.
Nach dem Terroranschlag auf Charlie Hebdo wurde erneut und verstärkt der Ruf laut, die Muslime sollten sich vom gewalttätigen Islamismus distanzieren. Anders als bei früheren Aufforderungen aus ähnlichem Anlass haben musilimische Organisationen das denn auch rasch und unzweideutig getan – vor allem in Frankreich, aber auch in anderen Ländern und auf internationaler Ebene. Französische Moslems beteiligten sich in zudem grosser Zahl an den überwältigenden Demonstrationen des letzten Wochenendes, die dem Terror das gemeinschaftliche Bekenntnis zu republikanischen Werten entgegensetzten.
Innerislamische Trennlinie
Indem Muslime und ihre Organe den islamistischen Extremisten das Recht absprechen, sich auf die Worte des Propheten Mohammed zu berufen, ziehen sie eine klare Trennlinie. Sie tun dies in solcher Deutlichkeit erklärtermassen auch deshalb, weil sie fürchten, die bereits mit Nine-Eleven verglichenen Morde von Paris könnten auf die Gesamtheit der Muslime zurückfallen.
Gerade in Frankreich, wo die Integration der grossen islamischen Minderheit (die Rede ist – ohne verlässliche Zahlenbasis – von über sechs Millionen oder etwa zehn Prozent der Bevölkerung) ein wachsendes Problem ist, kann man diese Sorge der Muslime gut verstehen. Soziale Reibungen und Brandherde gibt es da seit langem. Und da der Front National als schnell an Einfluss gewinnende politische Kraft die Integrationsprobleme destruktiv bewirtschaftet, werden Diskriminierungen und Revolten immer mehr zu einem explosiven, für das Land gefährlichen Gemisch.
Distanzierungsforderungen von aussen
Neben der prompten Distanzierung gab es aber auch Stimmen – und zwar nicht nur unter Moslems – , die in der Forderung nach klaren Absagen an den Terror eine Zumutung erblickten. Da werde nämlich gefordert, was nicht nur für jeden zivilisierten Menschen, sondern auch für den gelebten Glauben so gut wie aller Anhänger des Islam selbstverständlich sei. Eine solche Forderung sei im Grunde beleidigend und diskriminierend. Dies umso mehr, da entsprechendes von anderen Religionen nicht verlangt werde, obschon es bekanntlich auch christliche, jüdische, hinduistische, buddhistische Extremismen gab und weiterhin gibt.
In der Aufforderung zur Distanzierung vom Extremismus steckt tatsächlich eine kaum verborgene Beschuldigung. Sie unterstellt, es gebe eine «gemeinsame Sache» zwischen den gewöhnlichen Gläubigen und den Mördern; mindestens aber bestehe der begründete Verdacht dazu. Nun gibt es allerdings gerade im Fall Frankreichs zahlreiche muslimische Gruppierungen und Subkulturen, deren Sympathien für Extremismus offensichtlich sind und die immer wieder mit entsprechenden Exzessen auffallen.
Ausdruck der Fremdheit
Die prompte Klarheit, mit der Exponenten des Islam in Frankreich sich von gewalttätigen Islamisten distanzierten, war also zweifellos nötig. Kommt jedoch die Aufforderung zur Distanzierung von aussen, so ist sie im Grunde ein Ausdruck von Fremdheit. Sie ergeht notorisch an «die andern» und kreidet ihnen ein Defizit an. Es fehle ihnen, so der mehr oder weniger deutlich ausgedrückte Vorwurf, an verantwortlicher Moral und aufgeklärtem Denken.
Selbst wenn es zuträfe, dass die Religion und Kultur der «andern», die man ja kaum kennt und versteht, solche Mängel hätte, wäre damit erstens schon rein logisch nicht gesagt, die eigene Religion und Kultur sei von derartigen Mängeln frei. Das insinuierte Gefälle zwischen «uns» und «den andern», welches vermeintlich zu deren Belehrung berechtigt, ist eine blosse Behauptung. Und zweitens ist eine solche Defizitzuweisung so oder so keine geeignete Avance für einen Dialog zwischen den Religionen, von dem man sich allenfalls Entwicklungen in Richtung von mehr gegenseitiger Toleranz versprechen könnte.
Rechenschaftspflicht
Toleranz, Verantwortlichkeit und Aufklärung in religiösen Dingen beginnt immer auf dem eigenen Terrain. Der Prozess kommt nur in Gang mit der Grundeinsicht, dass Religion im säkularen und multikulturellen Kontext, in dem wir (glücklicherweise!) nun einmal leben, einer Rechenschaftspflicht unterliegt. Dabei geht es um eine gegenseitige Befragung zur Verträglichkeit mit der offenen säkularen Gesellschaft sowie zur Vereinbarkeit mit Demokratie, republikanischen Werten und Menschenrechten. Die Teilnahme an diesem Rechenschaftsdialog steht allen offen, sein Ort ist die Öffentlichkeit und die Regeln sind diejenigen des vernünftigen Diskurses.
Sich unter Berufung auf geoffenbarte Wahrheiten dem Forum offener Diskussion zu entziehen, gilt nicht. Religionen leben nun einmal mit anderen Religionen und zudem auch mit religiös Indifferenten, Areligiösen und Antireligiösen zusammen und geraten nolens volens mit ihnen in Kontakt, manchmal auch ins Gespräch oder in Auseinandersetzungen.
Alle in einer offenen Gesellschaft existierenden Religionen müssen deshalb fähig sein zu einer kategorialen Unterscheidung zwischen ihren heiligen Überlieferungen und den für die gesamte Gesellschaft geltenden Werten und Normen. Sätze wie «Gott hat gesagt», «Gott will» oder «Gott befiehlt» sind auf dem säkularen Forum keine Argumente; es obliegt den diese Sätze glaubenden Gemeinschaften, sie im säkularen Kontext verständlich und religiös praktikabel zu machen. Jede Religion muss die Schätze ihrer Tradition und Kultur vermitteln und gleichzeitig das offen Militante und das unterschwellig Aggressive bändigen und zivilisieren.
Neutraler Zwischenbereich
Treffen unterschiedliche Kulturen oder Religionen aufeinander ohne dass die eine die andere unterwirft, so stellt sich die Frage eines Verhaltens zwischen diesen beiden Welten. Dieses «Dazwischen» ist ein religiös-kulturell neutral gearteter Raum. Der Westen hat sich angewöhnt, diesen als «säkular» zu verstehen und mit den von ihm entwickelten Grundwerten (Allgemeine Menschenrechte), Instrumenten (kritische Vernunft) und Verfahrensregeln (offener Dialog) näher zu bestimmen. Andere Kulturen werden diesen Raum oder dieses Forum der globalen Begegnung vielleicht in eigenen Kategorien beschreiben wollen.
Etwas anderes als eine Art Niemandsland kann das «Dazwischen» jedoch nicht sein. Basis einer friedlich globalisierten Welt wie auch Grundlage einer säkular-offenen Gesellschaft ist idealerweise ein solches religiös-kulturell neutralisiertes Niemandsland. Dieses ist nicht einfach gegeben, sondern muss mit zielgerichtetem Denken und Handeln aller entworfen, erprobt, etabliert und vermutlich immer wieder revidiert werden. Wenn dieser Begegnungsraum bisher zumeist in westlicher Terminologie umrissen wird, so heisst das nicht, die westliche Kultur habe hierfür ein Privileg. Allerdings hat die wünschbare interkulturelle Debatte hierüber noch nicht richtig begonnen (Vorstösse wie eine islamische Version der Menschenrechte haben bisher eher abwehrenden Charakter).
Intellektuelle Distanz zu sich selbst
Wahrscheinlich wird die Frage strittig bleiben, wie der interkulturelle Begegnungsort oder das Niemandsland im «Dazwischen» denn nun genau aussehen soll und was für Regeln dort gelten. Doch schon im Vorfeld einer solchen vielleicht utopischen Übereinkunft sind Ansätze zur Verständigung möglich. Sie stellen Religionen und Kulturen vor die Herausforderung, aus dem eigenen Vorstellungsraum herauszutreten, um eine Aussensicht auf sich selbst zu gewinnen.
In einem derartigen Abstandnehmen von der eigenen Denkwelt besteht die wirklich nötige Distanzierung. Sie reicht tiefer und weiter als die Distanzierung, die jeweils eingefordert wird nach Untaten von Extremisten, die ihre Religion pervertieren. Das intellektuell distanzierte und zugleich der eigenen Tradition verbundene Denken heisst bei den monotheistischen Weltreligionen Theologie. Den hinsichtlich ihrer Freiheit, Differenziertheit und Offenheit sehr verschiedenen Theologien ist mindestens gemeinsam, dass sie bei ihrer Religion Begrifflichkeiten etablieren, Unterscheidungen vornehmen und ein Minimum an diskursiver Verhandelbarkeit herbeiführen.
Dialog statt Gewalt
Alle monotheistischen Buchreligionen haben ihre Gewaltgeschichten. Sie kennen Gewaltdispositionen, die noch zuwenig aufgearbeitet sind. Doch entgegen einem populären Missverständnis sind ihre heiligen Schriften keine zeitlosen Festlegungen. Judentum, Christentum und Islam sind vielmehr geprägt durch die Kunst der stetigen Neuinterpretation ihrer grundlegenden Bücher. Diese zu verstehen war und ist immer ein dialogischer Prozess. Die drei Religionen kennen in ihrer Geschichte Phasen der geistigen Hochblüte wie auch der Stagnation.
Zwischen stagnierenden Religionen und Kulturen ist ein fruchtbarer Austausch zweifellos schlechter möglich als in Phasen angeregten geistigen Lebens. Die Anforderung, auf dem Forum des säkularen Niemandslands Rechenschaft zu geben über die eigenen Vorstellungen von gutem Leben kann zu einem starken Impuls für geistige Regsamkeit werden. Die Hoffnung, im zivilisierenden Dialog der Religionen und Kulturen ein paar Schritte voranzukommen, ist kühn, aber nicht völlig unbegründet.