Norman Vincent Peale, reformierter Pfarrer in New York, hatte ziemliche Mühe, für sein erstes, 1949 geschriebenes Buch einen Verleger zu finden. Als es dann 1952 endlich erschien, eroberte es die Charts im Sturm. Bis heute ist es ein Bestseller. Den Titel kennen alle: „Die Kraft positiven Denkens”.
Peale landete nicht nur einen phänomenalen Erfolg, sondern etablierte mit dem Buchtitel auch ein Mantra der Populärpsychologie und Ratgeberliteratur. Im Einklang mit dem Fortschrittsoptimismus der Fifties verbreitete der clevere Autor das Evangelium eines selbstgemachten guten Lebens. Wohlstand, Gesundheit und Glück, so die von ihm und vielen weiteren Positivdenkern verbreitete Botschaft, könnten mit Psychotechniken erreicht und dauerhaft festgehalten werden.
Sektiererische Psychotechnik
Fokussiert man so direkt auf ihren Kern, so tritt der sektiererische Charakter dieser Lehre klar zutage. Ihrer durchschlagenden Wirkung tut die geistige Dürftigkeit jedoch bis heute keinen Abbruch. Denn obschon der behauptete Kausalzusammenhang zwischen positivem Denken und Wohlergehen jedem alltagstauglichen Verstand dubios erscheinen muss, lässt der gleiche Common Sense nicht an seiner Überzeugung rütteln, eine optimistische Grundhaltung wirke sich im Leben irgendwie positiv aus.
Wer bei Verstand ist, traut den von dieser Instanz verfochtenen Gewissheiten nicht unbesehen; mindestens stellt er sie unter gewisse Vorbehalte. Dem Erfolg des Peale’schen Machwerks konnten dessen Ungereimtheiten allerdings nichts anhaben. Vielmehr zeigt sich immer wieder, dass zweifelhafte Verlässlichkeit die Verführungskraft eines genial verkauften Glücksversprechens offensichtlich nicht schwächt. Aus eigener Erfahrung weiss man ja, dass Optimismus sich halt gut anfühlt, auf andere ausstrahlt und gelegentlich sogar hilft, innere Sperren zu überwinden. Wer sich also dem Konzept des Positiven Denkens anvertrauen will, glaubt in Alltagserfahrungen problemlos die gesuchten Indizien zu finden, welche die wacklige Plausibilität der Heilslehre scheinbar stabilisieren.
Was sagt eigentlich die Bezeichnung „Positives Denken”? Das Gegensatzpaar positiv/negativ wird in der Umgangssprache meist im weitesten Sinn von gut/schlecht gebraucht. Positiv meint ursprünglich (von lat. positum) das Gesetzte, Festgelegte. Der Gegensatz dazu ist zunächst nicht – wie in der Umgangssprache – das Negative, sondern das Relative oder das Unbestimmte. Negativ ist wörtlich das Verneinende (von lat. negare), was dann als Negation des Festgelegten zum Gegensatz des Positiven wird.
Begnadeter Verkäufer
In diesem Sinn, und nicht in dem des umgangssprachlichen positiv = gut, versteht sich „Positives Denken” als Bewusstseinstechnik, die das Verneinende verwirft und die bejahend-optimistische Haltung zum ehernen Prinzip erhebt.
Doch wenn es um dieses Prinzip geht, warum hat Peale dann nicht einfach den Optimismus als Allerweltsmittel angepriesen? Die Antwort ist klar: Weil er ein begnadeter Verkäufer war. Seine Formel „The Power of Positive Thinking” suggerierte die Existenz einer lernbaren Methode, einer Technik der Selbstoptimierung. Das war Peales Äquivalent zum bombensicheren Anlagetipp, zum garantiert wirkenden Haarwuchsmittel und zur unbedenklichen Glückspille in Einem. Mit dem Versprechen der unüberwindlichen Kraft seiner Psychomethode hatte er das Fundament für ein lukratives Geschäft gelegt.
Gut vermarktete Versprechen sind Selbstläufer: Sie verkaufen sich, und die Abnehmer sind zufrieden. Wie bei einer Sekte, die Gebetserhörungen verspricht, suchen überzeugte Anhänger auch beim Positiven Denken im Falle ausbleibender Wirkung den Fehler bei sich selbst und nicht bei der Heilslehre, der zu glauben sie sich nun mal entschlossen haben. Dank diesem Mechanismus erzeugen solche Systeme sich automatisch vermehrende Testimonials von Überzeugten.
Mit einem gesunden, aus Grundvertrauen genährten Optimismus hat die seit Vincent Peale tausendfach variierte Pseudoreligion der Selbstoptimierung nichts zu tun. Nicht dass mit der Positivdenken-Masche auf schlitzohrige Art Geld verdient wird, ist das Problem. Schlimmer ist ihr sektiererischer Charakter, der viele Anhänger in den Stand der Unmündigkeit drängt. Zudem ist die Positivdenken-Lehre mit ihrer notorischen Leugnung von Realitäten des Scheiterns und Unglücks im Kern unwahrhaftig und aufklärungsfeindlich.
Schöpferisches Nein
Warum also nicht den Spiess umdrehen und die Kräfte negativen Denkens erkunden? Nein sagen zu können, ist bekanntlich eine der elementaren Sprachleistungen. Das Kleinkind tut, indem es sie erobert, einen entscheidenden Schritt auf dem langen Weg zur Individuation. Erst durch die Negation einer Position – einer Setzung – entstehen Unterschiede von Wahrnehmungen, Ansichten, Haltungen, Meinungen, Absichten. Das Nein steht am Ursprung von Vielstimmigkeit und menschlicher Sozialität.
Negation ist des weiteren eine Treiberin von Erkenntnissen. Die Feststellung einer Abweichung vom Erwarteten und Gewussten setzt das Fragen in Gang. Erwiesene Fehler und Irrtümer sowie lückenhaftes oder gänzlich fehlendes Wissen sind es, die das Experimentieren, Spekulieren und Forschen voranbringen. Wissen zu vermitteln ist denn auch nicht das oberste Ziel von Bildung; vielmehr geht es darum, mit der Negation von Wissen umgehen zu lernen und sich somit die schöpferische Fähigkeit zu verneinendem Denken anzueignen.
Ursprung von Wissen und Freiheit
Seit René Descartes ist der methodische Zweifel Motor von Wissenschaft und Erkenntnis. Auf dieser Linie hat Karl R. Popper in der Falsifizierbarkeit das verlässliche Kriterium für die Formulierung stringenter wissenschaftlicher Aussagen gefunden: Nur Sätze, die sinnvoll negierbar sind, können als Beschreibungen oder Argumente zugelassen werden. Prüfstein aller Aussagen, die logische oder wissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen, ist ihre Negation, genauer: die prinzipielle Möglichkeit, ihnen direkt zu widersprechen.
Negatives Denken ist eine Bedingung der Freiheit. Die Welt scheut die Leere, sie füllt alle Dimensionen des Wirklichen aus mit Gegenständen, Tatsachen, Ansprüchen, Bedeutungen, Setzungen. Erst die Verneinung dessen, was nicht sein soll, schafft Raum für Freiheiten. Negation ist deshalb auch Voraussetzung der Möglichkeit eines Bejahens, denn dieses braucht den von Gegenständen, Tatsachen, Ansprüchen, Bedeutungen, Setzungen entleerten Raum, um überhaupt entscheiden und eigene Setzungen vornehmen zu können.
Rehabilitierte Negation
Genau wie positives Denken eine notorisch viel zu gute Presse hat, kommt negatives Denken andauernd zu schlecht weg. Seit es Denker gibt, hatten sie gegen die Diskriminierung des Negativen anzukämpfen. So hat schon Platon die schlecht beleumdete Negation als Bewegerin der Denkfigur der Dialektik mit grosser Wirkung rehabilitiert. Die Antithese als Nein zur These ist gewissermassen die Ursprungshandlung des Denkens. Sie ist der das bequeme Ruhen störende Stachel, die antreibende Kraft, die Spannung des Geistes.
Ein radikaler Denker des Negativen war Theodor W. Adorno. In seinem Hauptwerk „Negative Dialektik” entwirft er eine Philosophie, welche die Differenz zwischen Denken und Sein als unüberbrückbare Kluft versteht. Er geht so weit, philosophisches Denken als beinahe aussichtslos zu erachten; zumindest verlangt es eine permanente kritische Selbstreflexion.
Adorno und Peale waren Zeitgenossen. Man könnte sie als Herolde des Negativen und des Positiven einander gegenüberstellen. Beide erreichten Kultstatus. Heute ist von Peale allerdings nur sein Buchtitel präsent, während Adorno ein nach wie vor stark rezipierter und diskutierter Philosoph ist.
Durch den Twitterer „Nein Quarterly” – dies die Twitter-Identität des amerikanischen Germanisten Eric Jarosinsky – ist Adorno neuerdings zur popkulturellen Referenz geworden. Seit vier Jahren veröffentlicht Jarosinski seine witzigen und anspielungsreichen „Nein”-Tweets mit dem Icon eines stilisierten Adorno-Porträts. Er zählt mittlerweile 137'000 Follower. Angesichts der Millionenauflagen von „Die Kraft positiven Denkens” ist das natürlich nicht viel. Aber im Unterschied zu Peales Buch sind die sarkastischen „Nein”-Tweets gut verwurzelt in den zweieinhalb tausend Jahren der Entwicklung abendländisch-aufklärerischen Denkens.