Anfang der 1990er Jahre hatte man glauben können, dass sich die Welt zum Besseren wendet. Darauf wiesen die zahllosen Innovationen in Wissenschaft und Technik mit der spürbaren Steigerung des Komforts im Alltäglichen. Und das Sahnehäubchen war die Überwindung jahrzehntealter politisch-militärischer Konflikte, die wie eine dunkle Wolke über allem hingen. Dazu kam die Ausbreitung der Demokratie. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sah damit schon den Endpunkt der Geschichte herannahen.
Politischer Fortschritt
Es war kein Zeichen von Naivität anzunehmen, dass die Menschheit ein lernfähiger Organismus ist. Etwas langsam zwar, aber doch immer wieder zu erstaunlichen Fortschritten fähig. Wissenschaft und Technik machten die Vorreiter, das Politische und Soziale folgte.
Das neue Aufbrechen uralter Konflikte in Bürgerkriegen in Teilen Südosteuropas erschien zunächst wie eine Reihe von Unfällen. Sie waren schrecklich und schockierend. Aber sie erschütterten nicht den Glauben an den prinzipiellen politischen Fortschritt. Selbst die Regierungen der von Bürgerkriegen durchgeschüttelten Staaten strebten die Mitgliedschaft in der Europäischen Union an, die ja gerade als grosse friedenserhaltende Macht auftrat.
Zugleich wuchs die innere Sensibilität. Alle Arten der Ungerechtigkeit stiessen mehr und mehr auf Protest. Wie ein roter Faden ziehen sich diese Protestbewegungen seit den 1960er Jahren durch die Nachkriegsgeschichte, so dass das Ende des Kalten Krieges wie eine logische Folge aussah, auch wenn man über die wirklichen Ursachen streiten kann. Aber dieses Ende passt zu der Psychohistorie, nach der die Menschheit nach und nach sensibler und klüger wird.
Weltmacht Empathie
Der amerikanische Bestsellerautor Jeremy Rifkin hat 2009 darüber ein Buch herausgebracht: „Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein“. In der Empathie sah er einen weltweiten Megatrend, der mit der immer engeren Vernetzung der Menschen zusammenhängt. Je mehr man miteinander kommuniziere und sich über Medien wie den Film in andere Menschen hineinversetzen könne, desto stärker wachsen das Einfühlungsvermögen und das Verständnis füreinander. Bezeichnend sei, so Rifkin, dass bei einer Umfrage in den USA von 2008, welche wichtigste Eigenschaft ein Präsident haben solle, die Empathie genannt wurde.
Jeremy Rifkin liebt steile Thesen und er neigt zu Übertreibungen. Aber er trifft zumindest die eine oder andere Stimmung recht genau. Und in der Zeit, als er sein Buch schrieb, gab es neben vielen Konflikten, Hass und Gewalt noch den Optimismus, dass sich die Menschheit tendenziell aufeinander zu bewegt.
Unlösbare Probleme
Dieses bessere Selbst der Menschheit verliert aber an Überzeugungskraft. Denn mehr und mehr zeigt sich, dass sich viele der wichtigsten Konflikte nicht lösen lassen. So beruhen die Institutionen der Europäischen Union auf besten Absichten und hehren Idealen, aber in der Praxis lassen sich diese Ideale weniger und weniger umsetzen. Bis heute gibt es keine Lösung für die Flüchtlingsfrage. Allein die Lebensbedingungen in den Lagern an Europas Südgrenzen, auf dem Balkan und zum Teil mitten in Paris dementieren die besten Absichten und Erklärungen.
Das ist ein Beispiel für viele ungelöste Probleme. Als nächstes müsste man die Klimaproblematik erwähnen und die stetig wachsende Verschuldung der Staaten. Keines dieser Probleme hat sich von heute auf morgen ergeben und ist so plötzlich aufgetreten wie die Corona-Pandemie. Aber selbst nach vielen Jahren mit zahllosen Konferenzen ist noch niemandem ein Lösungsweg eingefallen. Natürlich werden immer wieder „Beschlüsse“ gefasst, aber jeder weiss oder spürt zumindest, dass hier Lösungen lediglich simuliert werden. Für energische Schritte fehlt die Kraft.
Nacht der Aussichtslosigkeit
Empathie, wie Jeremy Rifkin sie beschrieb, aber setzt Handlungsfähigkeit voraus. Selbst wenn man sich in einem Film in fremdes Leid hineinversetzt, ohne daran unmittelbar etwas ändern zu können, so gehört doch die Vorstellung dazu, dass wir uns in einer Welt bewegen, in der wir an Verbesserungen mitwirken können. Unmittelbar deutlich wird das immer dann, wenn Filme direkt oder indirekt mit sozialen oder politischen Bewegungen verbunden sind.
Probleme oder Missstände, an deren Lösung gearbeitet werden kann, bieten dem Einzelnen einen Ansporn. Was aber geschieht, wenn die Aussichten auf Verbesserung sich mehr und mehr an den Härten der Wirklichkeit stossen und in der Nacht der Aussichtslosigkeit verschwinden?
Hilfsorganisationen hören deswegen nicht auf, Spenden zu sammeln, Politiker schliessen nicht ihre Büros, und die Wissenschaftler stellen ihre Computer nicht ab. An der verbreiteten Aktivität ändert sich überhaupt nichts. Jeder ist ungeheuer beschäftigt, und alles Tun erscheint von grösster Wichtigkeit.
Das innere Schulterzucken
Wenn es schon keine Lösungen mehr gibt, muss man wenigstens so tun, als ob es sie gäbe. So trifft man sich auf Konferenzen und vereinbart Ziele, von denen jeder weiss, dass sie nie durchgesetzt werden: von der Aufnahme von Flüchtlingen bis zur 1,5-Grad-Grenze bei der Klimaerwärmung. Nicht nur Politiker simulieren Lösungen, sondern auch Wissenschaftler. Da wird das Forschungsschiff Polarstern fast ein Jahr lang in die Arktis geschickt, um noch mehr Daten vom Schwinden des Eises zu sammeln, Satelliten werden in Umlaufbahnen zur Erde platziert, um noch genauer den Anstieg des Meeresspiegels und andere sich anbahnende Umweltkatastrophen zu vermessen. Für die Wissenschaftler mögen das gigantische Fortschritte sein, ihr Schönheitsfehler besteht aber darin, dass sie ausserhalb der Scientific Community niemandem auch nur den geringsten Nutzen bringen.
Man kann fragen, ob dieser Leerlauf ein Zeichen für die Kompensation von Hilflosigkeit oder Ausdruck einer zynischen Geisteshaltung ist. Vielleicht sind die Übergänge fliessend, eines aber ist sicher: Wenn auf den oberen Ebenen Lösungen nur noch simuliert werden, entmutigt das diejengen, die sich orientieren wollen, um in ihrem kleineren Rahmen konstruktive Beiträge zu leisten. Jedwedes Engagement für andere Menschen oder die Umwelt setzt den Glauben an ein Gelingen voraus. Wenn es den aber nicht mehr gibt, nicht einmal mehr als einen Traum, von dem Martin Luther King sprach, dann kommt es zu einem inneren Schulterzucken.
Dann entdeckt man auch an sich selbst, dass man die ewigen Geschichten von den Flüchtlingen in grösster Not nicht mehr hören kann. Man stumpft ab, und fern sind die Zeiten, als ein Rupert Neudeck Tausende von vietnamesischen Flüchtlingen mit seinem Schiff, der Cap Anamur, im chinesischen Meer rettete. Das war 1979. Zehn Jahre später ging der Kalte Krieg zu Ende. Seitdem sind wir den Weg von einer empathischen zu einer resignierten Zivilisation gegangen.