Er publiziert in kurzen Zyklen. Mit seinen Erfolgsbüchern erzielt er rege Resonanz. Und wenn er auftritt, sind ihm ein grosses Auditorium und mediale Multiplikation sicher. Gemeint ist der deutsche TV-Philosoph Richard David Precht. Viele liegen ihm zu Füssen. Mitte August 2019 lud ihn die „NZZ am Sonntag“ zu einem grossen Interview [1]. Als Bestsellerautor verkündet er auch hier seine Bildungsrevolution: Es muss alles ganz anders werden. Die Schule grundlegend neu denken, verlangt der Vielgefragte.
Fächer und Klassen abschaffen
Eines ist tröstlich: Immerhin fordert Precht nicht mehr, als wir aus seinen Büchern und Referaten bereits kennen. 2013 erschien seine Schrift „Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern“. Die Titelgrafik zeigt ein verängstigtes Mädchen. Immer wieder muss es – offenbar als Strafe – den rüden Satz schreiben: „Ich darf nicht denken.“
Es ist eine radikale Abrechnung mit dem deutschen Schulsystem – oder mit dem katastrophenverliebten Titel der ersten ZDF-Philosophie-Sendung „Precht“ ausgedrückt: „Skandal Schule. Macht Lernen dumm?“ Woher Dummheiten kommen, ist nicht so eindeutig. Entsprechend maliziös fragte darum „Die Zeit“: „Macht Precht dumm?“
Im gleichen Jahr, 2013, trat er in der Aula der Universität Zürich auf. Prechts Botschaft: Er möchte spätestens nach dem sechsten Schuljahr Klassen und Fächer abschaffen. Natürlich kennt Prechts Schule weder Zensuren noch Klausuren, weder direkte Instruktion noch Hausaufgaben. Stattdessen sollten Lernhäuser entstehen, in denen jedes Kind nach seinem eigenen Tempo arbeitet – und erst noch ohne Anstrengung, dafür mit Spass.
Englisches College-System
Das Vorbild ortet der Philosoph im englischen College-System. Die Schülerinnen und Schüler sollten möglichst individuell begleitet werden und in jahrgangsübergreifenden Projektgruppen eigenmotiviert arbeiten, beispielsweise an Problemen einer nachhaltigen Ernährung oder an aktuellen wirtschaftspolitischen Themen.
Schulisch hat Precht eigentlich nichts Neues zu sagen. Viele seiner Gedanken kennen wir beispielsweise aus der „child centered education“ der bekannten amerikanischen Reformpädagogin Marietta Johnson (1864–1938) und ihrer „organischen Schule“. Forschungstheoretische und empirische Belege für seine provokativen Aussagen gibt es keine; Studien sucht man vergebens.
Nicht umsonst wirft ihm der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube „intellektuelle Schlampigkeit“ vor [2]. In manchem muss man Precht allerdings auch recht geben: Er kritisiert die Fächerfülle, die überladenen Lehrpläne, den immensen Stoffdruck, die fehlende Übungszeit, die dichte Prüfungskaskade. Das gilt auch für die Schweizer Volksschule. Und der Lehrplan 21 schafft hier keine Abhilfe. Leider. Im Gegenteil. Das erhöht die Last der Hast.
Gutes Kind, böse Gesellschaft
Precht erklärt die deutschen Schulen für irreparabel krank, so dass man „einer normalen Mittelschichtsfamilie“ für ihr Kind die öffentliche Schule nicht mehr empfehlen könne. Mit diesem Zerrbild beleidigt er unzählige Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit Sachverstand und Leidenschaft um die Kinder und den Schulalltag kümmern. Tag für Tag. Sie müssten eigentlich entrüstet aufschreien.
Der renommierte deutsche Bildungswissenschaftler Andreas Helmke versucht eine Antwort [3]: Die Botschaft von dem guten Kind und der bösen Gesellschaft mit ihren Zwangsanstalten verkündet neben Richard David Precht beispielsweise auch der Hirnforscher Gerald Hüther. „Man kennt sie seit Jean Jacques Rousseaus ’Émile‘. Für die Pädagogik ist sie weitgehend fruchtlos. Aber das hindert nicht einmal die vielen Lehrer unter den Zuschauern am Applaus.“
Wunsch nach pädagogischen Priestern
Weiter schreibt Helmke: „Die Sehnsucht, endlich von den Mühen des Alltags zwischen erster Stunde und abendlicher Klassenarbeitskorrektur befreit zu werden, scheint gross zu sein. Ebenso die Hoffnung, dass es doch eine andere Welt gibt. Eine Welt, in der die Schüler ganz von alleine einsehen, dass sie sich anstrengen müssen, eine Welt, in der Lehrer nicht mehr Lehrer sind, sondern Coachs und, ja, Freunde.“
Helmke zitiert den Bildungsjournalisten und Filmemacher Reinhard Kahl: „Aus der Alltagsverzweiflung vieler Lehrer erwächst der Wunsch nach Feldgottesdiensten und Priestern.“ Precht und Hüther nähren entsprechende Illusionen. Doch der pädagogische Alltag ist anspruchsvoll und anstrengend; denn die Gesellschaft fordert von der Schule vieles und auch Widersprüchliches. Das ist schlichte Realität.
Der Unterricht ist darum voller Dilemmata, voller Spannungen. Wir können sie nicht einfach ausblenden. Die Widersprüche lassen sich auch nicht auflösen. Lehrerinnen und Lehrer müssen sie aushalten, reflexiv handhaben und daraus die pädagogische Spannkraft fürs Mögliche und Alltägliche gewinnen. Hier muss man sie stärken: Es ist die pädagogische Kernaufgabe, Schülerinnen und Schüler gesellschaftsfähig zu machen.
Schule nicht neu erfinden
Man würde gerne wissen, wo denn die politischen Mehrheiten für eine Precht’sche „Bildungsrevolution“ zu finden sind und welche Vorteile dieser radikale Umbruch mit sich brächte. Precht bleibt die Antwort schuldig. Gesellschaftspolitisch wäre das ein weiterer Schritt zur Entsolidarisierung. Prechts pädagogische Zauberformel heisst Individualisierung. Die Digitalisierung verstärkt sie. Auf der Gegenseite schwindet die Sozialität. Das wissen wir aus der Forschung.
Die Schule wird die neuen Technologien für sich nutzen. Sie muss deswegen nicht neu gedacht und neu erfunden werden; das glauben nur modische Philosophen, die von ihrer missionarischen Botschaft leben.
[1]Richard David Precht: „Algebra braucht kaum jemand im Leben. Das ist verschwendete Zeit“. In: NZZaS, 18.08.2019, S. 18f.
[2]Jürgen Kaube: Oh ihr Rennpferde, fresst einfach mehr Phrasenhafer!. In: FAZ, 29.04.2013, S. 28.
[3]Andreas Helmke: Von der Hattie-Studie zu Handlungsstrategien für den Unterrichtsalltag. Vortrag. Msc. unpubl., 2014.