Konventioneller könnte eine Autobiographie kaum beginnen. Stefan Aust fängt mit seiner Herkunft an und beschreibt recht ausführlich das Leben seines Grossvaters und seines Vaters. Aber was den Leser von den ersten Zeilen an in den Bann schlägt, ist die leicht ironische Art, wie Aust das Lebensgefühl der Bewohner von Hamburg Blankenese schildert. Sofort ist man mittendrin in Hamburg, dem hanseatischen Selbstbewusstsein und den ersten Erlebnissen von Stefan Aust.
Die Schülerzeitung
Und von Anfang an ist klar, warum Aust seinen Grossvater und Vater vorstellt. Denn sein Grossvater war ein wagemutiger Unternehmer, der es bis zu einer eigenen Reederei brachte, aber diese aufgrund der widrigen Zeitumstände am Ende verkaufen musste. Sein Vater hielt sich lange Zeit in Amerika und Kanada auf und versuchte später in Deutschland dieses und jenes. In diesem Zusammenhang entstand ein Reiterhof. Als Junge hat Aust die ersten Pferde zugeritten, und daraus ist seine lebenslange Leidenschaft für das Reiten erwachsen. Und der Wagemut des Grossvaters, das etwas Unstete des Vaters, aber auch das durchaus schöne und abwechslungsreiche Familienleben bilden die Ingredienzien seines Charakters.
Der Journalismus wurde ihm zwar nicht gerade in die Wiege gelegt, aber schon in der Schule arbeitete er an einer Schülerzeitung mit, die sich gezielt mit dem Lehrerkollegium anlegte und es damit prompt in eine Sendung des Fernsehens schaffte. Einer seiner Schulkameraden, mit dem zusammen er die Schülerzeitung herausbrachte, war Wolfgang Röhl, der Bruder von Klaus Rainer Röhl. Daraus ergab sich später seine Mitarbeit bei «Konkret» und seine Bekanntschaft mit Ulrike Meinhof. Und im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit lernte er Rudi Dutschke und andere Prominente der damaligen Studentenbewegung kennen.
Besessen vom Recherchieren
Man erlebt also Zeitgeschichte aus erster Hand, zum Beispiel den Tod Benno Ohnesorgs und den Anschlag auf Rudi Dutschke. So dicht Stefan Aust an diesen Ereignissen auch dran war, so hielt er doch, jedenfalls schildert er es so, eine gewisse Distanz. Denn mit dem Marxismus oder dem Maoismus konnte er nicht viel anfangen und beschreibt sich selbst als skeptisch. Aber er ist zugleich eine schillernde Gestalt. Das hängt mit seinem Verständnis von Journalismus zusammen.
Denn Aust ist besessen vom Recherchieren. Gegen Ende seines Buches, als er schon Herausgeber der «Welt» ist, schreibt er, dass ihn das Kommentieren nicht reizt. Er will ganz nahe an die Ereignisse, und am liebsten ist er mittendrin. Wieder und wieder schildert er, wie er Personen der Zeitgeschichte aufspürt und zur Rede stellt – das Wort Interview wäre etwas zu schwach –, in Archiven forscht und mit geradezu kriminalistischem Spürsinn Zusammenhänge aufdeckt, die anderen entgangen sind. So brachte er Franz Josef Strauss in Bedrängnis, Hans Filbinger im Nachgang zu Rolf Hochhuts erstem Angriff zu Fall, so kam er dem geheimnisvollen Agenten Werner Mauss auf die Spur oder fand den Ursprung der Fälschungen der Hitler-Tagebücher heraus.
Baader-Meinhof-Gruppe
Einer seiner grössten und beeindruckendsten Erfolge ist die Darstellung des Terrorismus der Baader-Meinhof-Gruppe beziehungsweise der Roten-Armee-Fraktion RAF. Ulrike Meinhof kannte er von seinen journalistischen Anfängen her. Dazu kamen zahllose persönliche Begegnungen mit anderen Mitgliedern aus diesem Umfeld und später ein akribisches Studium der Wortprotokolle des Prozesses in Stuttgart-Stammheim. Diese Protokolle von 192 Prozesstagen füllen 15’800 Seiten, und nicht nur an dieser Stelle ist man von der unglaublichen Arbeitskapazität von Stefan Aust beeindruckt. Aber es gibt auch Zweifel.
So hat Stefan Aust auf Sizilien die gemeinsamen Kinder von Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl gewissermassen entführt und zu Röhl nach Hamburg verbracht, weil die Befürchtung bestand, dass Meinhof diese in ein Lager der Fatah stecken wollte. Hat Aust damit die Grenzen journalistischer Tätigkeit überschritten? in seiner Autobiografie geht er auf diesen Vorgang nicht weiter ein, erwähnt aber, dass Rudolf Augstein ihn auch deswegen zum Chefredakteur des «Spiegel» gemacht habe, weil der diese Aktion grossartig fand.
Im falschen Krieg
Manchmal gibt es kleine Bemerkungen, die Irritationen auslösen. So hat Stefan Aust 1982 zusammen mit einem Kameramann während des Krieges zwischen dem Irak und Iran am Kaspischen Meer auf der iranischen Seite die Front besucht. Das entsprechende Kapitel beginnt mit dem Satz: «Irgendwie wollte ich immer mal als Reporter in einen richtigen Krieg.» Dann schildert er, wie sie am Kaspischen Meer sassen, auf die Fahrt an die Front warteten und sich die Zeit unter anderem mit reichlichem Genuss von Kaviar vertrieben. Dann waren sie an der Front, aber ernüchtert stellt Aust fest: «Dieser Krieg hatte irgendwie nichts mit uns zu tun.» Als Leser fragt man sich: Was hatten die Herren denn erwartet? Dass ein Krieg ganz nach ihrem Geschmack stattfindet?
Die Autobiografie ist durchzogen von diversen Hinweisen, dass Aust in den besten Hotels wohnt, mit den prominentesten Leuten per Du ist und mit ihnen, wie zum Beispiel mit Gerhard Schröder, so manche Flasche Rotwein geleert hat. Gegen Ende erwähnt er wieder und wieder sein Satellitentelefon, von dem aus er in die turbulenten Ereignisse im «Spiegel» eingreift, die seine Ablösung einleiteten und begleiteten.
Man kann diese kleinen Eitelkeiten und Hinweise auf eine gewisse Selbstverliebtheit übergehen, denn in Austs Berichten überwiegt die Spannung. Und dass er immer mal wieder darauf hinweist, was für ein toller Hecht er doch ist, dürfte nicht einmal so verkehrt sein. Denn er hat als Chef von «Panorama», als Chefredakteur vom «Spiegel», als Gründer und Leiter vom Spiegel-TV und nicht zuletzt als Buch- und Filmautor wieder und wieder herausragende Leistungen gezeigt, die aller Bewunderung wert sind. Und es ist alles andere als verkehrt, dass Aust anhand einer Grafik darstellt, dass der «Spiegel» unter seiner langjährigen Ägide sich weit überdurchschnittlich gut am Markt behauptet hat. Und er versucht, möglichst ohne bitteren Unterton die Tatsache zu schildern, dass ihn die Geschäftsführung vom Spiegel und wohl auch einige Kollegen loswerden wollten und er schliesslich zur «Welt» ging.
Wer ist Stefan Aust?
Aber etwas fehlt in dieser Autobiographie, die in ihrer Originalfassung weitaus länger gewesen sein soll und von der Lektorin rigoros zusammengekürzt wurde. Denn man kommt Stefan Aust kaum nahe. Hin und wieder, allerdings sehr sparsam, erwähnt er seine Begeisterung für das Reiten, aber es gibt bei ihm keine innere Entwicklung, die man nachvollziehen könnte. Über seine Erfolge hat er sich gefreut, natürlich, manches hat ihn geärgert, aber das schildert er nur zwischen den Zeilen. Gegen Ende betont er seine enge Beziehung zu Rudolf Augstein, wobei dieser laut einer Anekdote gesagt haben soll, dass sein längstes Telefonat mit Aust zwei Minuten gedauert habe. Stefan Aust erwähnt diese Anekdote.
Aber irgendwie bleibt Stefan Aust in seinen Schilderungen innerlich unbeteiligt. Er trifft über längere Zeit Menschen, die zu Terroristen und Mördern wurden, er redet mit Betrügern und Hochstaplern, er greift Politiker an und bringt einen sogar zu Fall, er kommt mit ehemaligen Stasi-Vertretern zusammen, die heimlich mit der RAF kooperiert haben, oder er baut eine Art Vertrauensverhältnis zu dem Top-Agenten Werner Mauss auf. Dazu liest er unzählige Dossiers und Akten. Aber man erfährt nie, dass ihn der unmittelbare Blick in menschliche Abgründe erschüttert oder dass er eine innere Veränderung durchgemacht hätte. Er bleibt stets in der Rolle des Fernsehmoderators, der möglichst unbewegt den nächsten Beitrag ankündigt.
Und deswegen bleibt einem dieser Stefan Aust, der seine «Zeitreise» mit «Die Autobiografie» untertitelt hat, merkwürdig fremd. Man liest gerne seine spannenden Schilderungen, aber am Ende geriete man in Verlegenheit, wenn man sagen sollte, wie man zu Stefan Aust steht.
Stefan Aust: Zeitreise. Die Autobiografie. München: Piper Verlag, 2021, 656 Seiten, ca. 26 Euro.