Es ist interessant zu beobachten, wie sich das Bild eines Landes – und namentlich eines ‚exotischen’ wie Indien – verändert, wenn man von der Innen- zur Aussenansicht wechselt, von Bombay in die Schweiz etwa. Was eben noch allwichtig gewesen ist, schrumpft plötzlich zur Non-Valeur. Das Land verschwindet im aufgewirbelten Staub der globalen Informationsschwemme.
Was nicht nur schlecht ist. Denn ‚Valeur’ heisst heute: Wertvoll, wichtig – weil bedrohlich. Und bedrohlich ist Indien nicht, auch deshalb, weil seine Probleme immer schon da waren und deshalb nichts Neues sind; und uns nicht direkt bedrohen.
Statt dem Staccato von Horrormeldungen senkt sich ein sanfter Schleier über das Land. Das Informationsloch wird gestopft durch das – ausgerechnet! – altmodische Kinoprogramm: Ein bisschen Kumbh Mela-Atmosphäre im Lelouch-Film Un Plus Une, eine Bollywood-Dusche in Form der Seven Angry Indian Goddesses. Am 19. Juni kam dann noch das Konterfei von Narendra Modi hinzu, der zwischen zwei Auslandreisen eine Armee weissgekleideter Yogis zum Internationalen Yoga-Tag anführte. Und draussen ist ohnehin Monsun.
Eindrucksvoll in Zürich, belanglos in Delhi
Ein gutes Beispiel für die unterschiedliche Bewertung eines Landes aufgrund eines Tapetenwechsels wurde mir vor einigen Monaten bewusst, als ich in Delhi eine Ausstellung des Fotografen Steve McCurry anschaute. Es waren grossenteils dieselben Bilder, die ich ein Jahr zuvor in Zürich gesehen hatte.
Damals hatten sie mich beeindruckt – die starken Farbkontraste, die ausdrucksvollen Gesichter, der Zusammenprall von Welten: Armut und Lebensfreude, Gewalt und Grazie, Zerstörung und Schönheit. Das war das chaotische Indien, wie man es sich vorstellte, ein Wechselbad von Gefühlen, Geräuschen und Gerüchen.
Doch als ich Monate darauf dieselben Bilder in Delhi vor Augen bekam, liessen sie mich kalt. Natürlich waren sie immer noch attraktiv – aber eher so, wie ein Werbefoto lustig wirkt. Sie kamen mir inszeniert vor, brillant und artifiziell.
Zufällig stiess ich dieses Frühjahr in der New York Times auf eine Rezension des neuen Buchs von McCurry. Es heisst "India" und ist eine Auswahl seiner Indien-Reportagen zwischen 1978 und 2014. Der Rezensent war der Schriftsteller Teju Cole ("Open City"), den Lesern von Das Magazin auch bekannt als Autor von Fotografien, die er während eines Werkstatt-Aufenthalts in Zürich über die Schweiz geschossen hatte.
Komposition statt Dokumentation
McCurrys Bilder seien immer perfekt komponiert, sagt Cole, sie zeichneten ein „vergangenes Indien, sowie alte Vorstellungen, wie Fotos von Indern aussehen müssen“. Die typischen Gebrauchsgegenstände zum Beispiel sind „Regenschirme, Nähmaschinen, Webstühle; nicht Laptops, kabellose Drucker oder Rolltreppen“.
Doch was ist falsch daran, kulturelle Praktiken zu zeigen, die am Verschwinden sind? Selbst im 21. Jahrhundert, gibt Cole zu, fliegen nicht alle Inder in Flugzeugen oder besuchen Einkaufszentren. Jedes Bild deckt ohnehin nur einen winzigen Aspekt der Realität ab. Eine Fotosequenz wie ein Bildband oder eine Ausstellung, über viele Jahre geschossen und sorgfältig ausgewählt, „verrät eine Weltsicht. Einen Ort nur aus der Perspektive einer immerwährenden Vergangenheit zu betrachten, einem Begriff der Authentizität zu folgen, die die Gegenwart ausblendet, ist nicht nur eine alternative Wahrheit: Es ist ein Fantasieprodukt“.
Es sind Fantasien, die oft wegschmelzen, wenn sie dem harten Sonnenlicht der Realität ausgesetzt werden. Die perfekte Komposition, die McCurrys Bilder haben, bewirken dann „eine Art Ideal-Fotografie, die korrekte Verteilung von Vorder- und Hintergrund, deren genau richtige Beziehung zum Gegenstand im Mittelpunkt des Interesses“. Was dabei ausgelassen wird: „Das Eindringen von Durcheinander entlang der Bildränder“.
Ästhetisierung des Chaos
Diese letzte Bemerkung traf den Nagel auf den Kopf. Allzu oft versuchen Fotografen – im Fall Indiens namentlich ausländische Fotografen – das Durcheinander der Realität in eine Komposition von Raum und Farbe zu zwängen. Der Betrachter soll nicht verstört werden, sondern mit dem Ordnen des Chaos Ruhe, Verstehen und ästhetischen Genuss empfinden.
Das war es wohl gewesen, was mir zwei so unterschiedliche Reaktionen über dieselbe Fotoausstellung beschert hatte. Mit Zürich hatte ich eine vergleichsweise perfekt komponierte Stadt als Referenzpunkt, und McCurrys Bilder bedienten diese Befindlichkeit, indem sie einen exotisch-elegischen Kontrast schufen, und diesen mit einer perfekten Komposition bändigten. In Delhi lag diese ärgerliche Realität vor der Tür, eine Kakophonie von Eindrücken, die sich partout nicht auf einen Nenner bringen liessen. Angesichts dieser schieren Anarchie verblasste die Schönheit von McCurrys Aufnahmen zu Schnappschüssen.
Zugegeben, die schreibende Zunft sündigt in dieser Hinsicht ebenso wie die der Fotografen. Jeder Journalist versucht mit seinem Text 'Sinn zu machen'. Dementsprechend arrangiert er das Chaos in einigermassen logische Abfolgen; er eliminiert dabei ein ganzes Konzert von ‚irrelevanten’ Misstönen, um den Leser bei der Stange zu halten. Aber sind diese ‚Zwischenrufe’ nicht gleichermassen Teil der schrillen Sinfonie namens Indien?
Versuchung zum Nachbessern
Der Fotograf hat es schwerer, denn er verdichtet die Realität auf eine 125stel-Sekunde. Er muss also genau den ‚entscheidenden Augenblick’ festhalten, von dem Cartier-Bresson gesprochen hat. Und wenn er dabei noch den perfekten Rahmen erwischen will, wird die Versuchung übermächtig, das Endprodukt nachzubessern.
Der Zufall will es, dass just zum Zeitpunkt des Erscheinens von McCurrys Buch – und einer Wanderausstellung seiner Bilder – ein italienischer Fotograf ein digital manipuliertes Foto McCurrys entdeckte: Teil einer Strassenlampen-Stange erschien als Schienbein des vorbeispazierenden Passanten. Als er darauf weitere Bilder auf mögliches Photoshopping überprüfte, stiess er auf Bilder, die McCurry im Interesse der Klarheit ihrer Aussage ‚gereinigt’ hatte.
Ein Beispiel: Beim Archivbild eines Rikschafahrers im strömenden Regen wurde für Ausstellung und Buch ein Mitfahrer entfernt, um das Augenmerk auf den Fahrer zu lenken. Und im Hintergrund verschwanden eine Plakatwand sowie ein Gemüsekarren, auch dies vermutlich mit der Absicht, den Betrachter nicht vom zentralen Sujet abzulenken.
Der leere Koffer
McCurry ist nach einer langen Karriere zu einem der berühmtesten Fotografen der Welt aufgerückt, nicht zuletzt dank dem Porträtbild des afghanischen ‚Mädchens mit den grünen Augen’ auf dem Cover des National Geographic Magazine. Die manipulierten Fotos kursierten bald einmal in den Chats und Blogs der Fotografenszene. Während einige Kommentatoren Berufsneid witterten, meldeten sich andere mit weiteren Enthüllungen.
Ein indischer Fotograf etwa setzte ein Bild aus der anderen National Geographic-Reportage über die indischen Eisenbahnen ins Netz. Es zeigt eine Frau mit Kind auf dem Arm, daneben ihr Gepäck-Kuli. Das Foto war gestellt: Die Frau war die Schwester von McCurrys Assistenten, der Koffer auf dem Kopf war leer, der wartende Zug ging nirgendwo hin.
Ich empfand keine Schadenfreude, als ich über diese Enthüllungen las. McCurrys Verhalten macht drastisch deutlich, wie schwierig es ist, einer Realität habhaft zu werden, die widerspenstig ist und sich jeder einfachen Abbildung oder Storyline entzieht. Dann doch lieber die Klischees bedienen, die der Zuschauer und Leser zuhause ohnehin erwartet – ascheverschmierte Sadhus eben, zornige Bollywood-Göttinnen, oder die Yoga-Pose eines mörderischen Politikers.