Die Tage zwischen den Jahren entziehen sich beharrlich der Eile. Der hektische Geist des Alltags scheint für einen kurzen Moment verbannt, die Last der Hast gebannt. Eine gewisse Stille kehrt ein, in dieser temporeduzierten Zeitspanne, eine Art Ruhe, selbst wenn sie nur vorläufig und vielleicht vordergründig ist. Es ist so etwas wie die Rückkehr in die Kindheit, eine Zeit, in der die Zeit nicht zählte, weil man die Uhr noch nicht lesen konnte.
Die Ambivalenz der Wiederholung ist unsere Gefahr
Weihnachten wiederholt sich Jahr für Jahr. Und wir treten in eine Zeit zwischen den Jahren – eigentlich etwas Wunderbares. In Wiederholungen erfahren wir den Reichtum des Lebens. Das gilt ganz besonders für Kinder. Durchs Wiederholen arbeiten sie sich in Zusammenhänge hinein. Wiederholen und Lernen bedingen sich. Kinder leben ja aus Wiederholungen – wie wir alle. Frühling und Sommer, Herbst und Winter: alle Jahre wieder. Es sind wiederkehrende Rhythmen naturbezogener Prozesse. Genau wie Geburtstage und Festtage: alle Jahre wieder.
Doch die Wiederholung wird nicht selten zum Problem. Wenn schon im warmen Herbst die ersten Christbäume erscheinen und in den Warenhäusern weihnächtliche Gesänge erschallen, wird die Wiederholung vielleicht zur Last oder gar zum Fluch. In dieser Doppeldeutigkeit der Wiederholung, dieser Ambivalenz liegt die Gefahr. Wie aber erleben wir den Reichtum der Wiederholung und entfliehen gleichzeitig ihrer Leere?
Wiederholung gehört zum Leben
Der Beruf der Lehrerin, des Lehrers erfährt die Wiederholung in ganz besonderem Masse. Für gutes Lernen ist sie konstitutiv. Den Zusammenhang von Wiederholen und Erkenntnis, die wirksam werden soll, kennen alle. Doch nicht selten wird das, was wir im pädagogischen Bereich „Wiederholung“ nennen, zum schematisch-platten Takt langweilender Abläufe. Die Wiederholung verkommt zur Strafmassnahme. Wie oft wurde das Wiederholen als rigider Denkzettel missbraucht: „Schreibe zwanzig Mal: Du darfst den Unterricht nicht stören!“
Auch für Lehrpersonen kann die Wiederholung zum Problem werden. Ein erfülltes „Alle Jahre wieder“ wird zum resignativen „Schon wieder!“ Nicht umsonst lässt Max Frisch seinen Anatol Stiller sagen: „Meine Angst: die Wiederholung!“ Stiller flieht darum vor der Wiederholungsangst. Und doch weiss er, dass alles davon abhängt, „ob es gelingt, sein Leben nicht ausserhalb der Wiederholung zu erwarten, sondern die Wiederholung, die ausweglose, aus freiem Willen (trotz Zwang) zu seinem Leben zu machen, indem man anerkennt: Das bin ich!“ [1]
Zyklen und Rhythmen bestimmen unser Leben
Es gibt kein „Ausserhalb der Wiederholung“; der Gedanke an ein Leben jenseits der Wiederholung muss sich als Utopie erweisen. Stiller erkennt das sehr spät. Zyklen und Rhythmen bestimmen unser Leben. Anstrengung und Loslassen, Einatmen und Ausatmen, Arbeitszeit und Ferienzeit, Sommer und Winter. Wiederholungen sind das Grundmuster eines menschlich reichen Lebens. [2]
Nicht jede Wiederkehr muss als Wiederholung des Identischen aufgefasst werden. Das gilt auch für ein Schuljahr. Auftrag und Ablauf bleiben, die Gefässe und Anlässe gleichen sich: Lektionen und Exkursionen, Theater und Konzerte, Skiausflug und Sporttag. Doch die Inhalte variieren und wechseln.
Auf das Altvertraute neue Bilder legen
Darum muss es nicht Monotonie sein, wenn sich jedes Jahr die „ewige Wiederkunft des Gleichen“ einstellt, um es mit Friedrich Nietzsche zu sagen. Die Wiederholung bringt neue Inhalte, legt vielleicht neue Bilder auf das Altvertraute, erklärt es in anderen Worten. Erst wo der Inhalt verschwindet und Schematismen einkehren, regiert die Routine. Hier führt Wiederholung zu Erstarrung und Entleerung.
Wir leben aus Wiederholungen. Das gilt im Besonderen für Schule und Unterricht. Leider sind sie nicht selten als stereotype Repetition in Erinnerung. Doch sinnvoll erfahren, führt zyklisches, spiralförmiges Vertiefen zum fruchtbaren Junktim von Wiederholen und Erkenntnis. Man kann diesen Zusammenhang, mit einem Wortspiel verdeutlicht, nicht genug wieder-holen.
Sinn für Wiederholungen finden
Doch Wiederholen hat heute einen schlechten Ruf. In seinem Buch „Langsame Heimkehr“ lässt Peter Handke den Geologen Sorger sagen: „Hier mein anderes Wort für die Wiederholung: Wiederfindung!“ Valentin Sorger beauftragt sich selbst: „Sinn für Wiederholungen kriegen!“ [3] Die Zeit zwischen den Jahren kennt die Wiederholung. Und sie hat Sinn.
Das Verfahren der Pädagogik sei Abwechslung ohne Zerstreuung, macht Charlotte in Goethes „Wahlverwandtschaften“ deutlich. Mit dieser Formel liesse sich vielleicht der Reichtum der variierenden Wiederholung erklären. Alle Jahre wieder.
[1] Max Frisch (1974), Stiller. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 69.
[2] Gert Otto (1989), „Alle Jahre wieder …“. In: Ursula Baltz-Otto (Hg.), Das Volk will Ochs und Esel. Ein anderes Weihnachtsbuch. München: Chr. Kaiser Verlag, S. 13.
[3] Peter Handke (1979), Langsame Heimkehr: Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.