Fünfzigjährige sehen wie Dreissigjährige aus. Selbst die 17-jährige Princess Elizabeth wird bearbeitet.
In seiner „Kulturgeschichte der Monarchie von 1789 bis 1997“ untersucht der Historiker Alexis Schwarzenbach erstmals gründlich die Frage: Was tut die Monarchie, damit sie beim Volk beliebt ist? Die Verschönerungsaktionen der Majestäten sind eines der Mittel dazu.
Früher, vor der Französischen Revolution, herrschten die Monarchen in absolutistischer Manier. A la Machiavelli jagten sie dem Volk Angst ein und zwangen es zur Unterwürfigkeit. Die absolutistischen Herrscher mussten dem Volk nicht gefallen, sie hatten die Macht.
Doch dann, 1793, wurden Ludwig XVI. und seine Marie Antoinette geköpft – und alles wurde anders. Jetzt begann sich die Idee der „konstitutionellen Monarchie“ zu verbreiten. Einer der geistigen Wegbereiter war der Lausanner Benjamin Constant. Die Saat war gesät.
Nationalisierung der Monarchie
„Konstitutionelle Monarchie“ – das bedeutete: die Krone ist nicht mehr allmächtig, sie jagt keine Angst mehr ein. Sie muss Konzessionen machen. Der Parlamentarismus entstand, Regierungen wurden gebildet, die Pressefreiheit zog ein.
Schwarzenbach spricht von einer im 19. Jahrhundert aufkommenden „Nationalisierung der europäischen Monarchien“. Es gelang der Krone, sich als „eine Institution im Interesse der Nation“ darzustellen.
Untersucht werden in dem Buch vor allem die Fragen: Wie kommuniziert die Monarchie mit dem Volk? Wie sieht die königliche Propaganda aus? Welche emotionale Bindung besteht zwischen Monarchie und Volk? Schwarzenbach informiert über fast alle europäischen Monarchien. Er konzentriert sich aber auf Grossbritannien, Belgien und Italien. In diesen Ländern hat er intensive Forschungen angestellt.
Da die Royals keine wirkliche Macht mehr haben, schlichen und schleichen sie sich in die Herzen des einst verachteten Volkes. Die Majestäten begannen, Werbung in eigener Sache zu betreiben.
Retouchierte Hälse
Früh nutzten die Monarchen die aufkommende Fotografie zur Selbstdarstellung und Eigenwerbung. Porträts mit Widmungen wurden verschenkt. So wird die emotionale Beziehung zwischen Monarchie und Volk vertieft. Napoleon III. war der erste, der auf einer carte-de-visite erschien.
Schwarzenbach ist es gelungen, die Originalabzüge vieler Fotografien der Hof-Fotografen zu sichten. So kann er nachweisen, wie sehr diese Porträts retouchiert und „verschönert“ worden sind. „Oft wurden mehrere Zentimeter von Armen, Hälsen, Busen, Taillen oder Hintern entfernt, sogar dann, wenn das Modell weder alt noch übergewichtig war.“
Viel Publicity, wenig Aufwand
Zur königlichen Propaganda gehört ihr Einsatz für wohltätige Zwecke. Damit werden Gefühle zwischen Volk und Monarchen aufgebaut. Die Ausgaben für Wohltätigkeit stellen in den meisten Monarchien einen wichtigen Posten im königlichen Budget dar. Schwarzenbach zitiert Frank Prochaska: „Keine andere Rolle bot so reiche Erträge an Publicity und Ehrerbietung für so wenig Aufwand.“
Die Royals treffen mit Kranken zusammen. So bekunden sie Anteilnahme. König George V. schenkte einem verstümmelten Kohlenarbeiter ein Paar Prothesen. Man besucht Waisenhäuser, Spitäler und fördert Blindenheime. Prinzessin Diana traf 1987 mit einem Aids-Kranken zusammen.
Die Hoheiten reisten auch. Vor allem nach dem Aufkommen der Eisenbahn fuhren sie in die entlegensten Gebiete des Landes. So nahm und nimmt der König symbolischen Besitz von seinem Reich. Gleichzeitig wertet er die Besuchten auf und gibt ihnen das Gefühl von Stolz. Besonders häufig unterwegs sind die weiblichen Royals.
Beschworen wurden und werden königliche Rituale. An Thronjubiläen, Hochzeiten, Parlamentseröffnungen, Todesfällen zelebriert man vermeintlich uralte Traditionen, die es oft gar nicht gab. Sie sollten Stabilität, Kontinuität und Identität der Nation symbolisieren. Die Biografien der Monarchen mussten oft radikal geschönt werden.
… und so küssen sie sich denn
Früher hatten Königshochzeiten vor allem den Zweck der Machterweiterung. Von Liebe keine Spur.
Dann wurde die „Liebesheirat“ erfunden – ein wunderbares Propaganda-Mittel. Eines der ersten Liebes-Spektakel war 1930 die Heirat des italienischen Kronprinzen Umberto mit der belgischen Prinzessin Marie José. Die Höfe begannen immer mehr, eine Liebesstrategie zu entwickeln. Das brachte ihnen Publizität und Wohlwollen. Und so küssen sie sich denn auf den Balkonen ihrer Schlösser vor 100 Millionen Fernsehzuschauern.
Immer mehr versucht die Monarchie das herauszustreichen, was Schwarzenbach „Devianz“ nennt: dass sich die Royals gegenüber ihren Untertanen „als Menschen mit überdurchschnittlich gutem Charakter“ darstellen: als Philanthropen, als besorgte Beschützer ihrer Untertanen, als Einiger ihres Volkes, als Trostspender.
Katastrophen – ein Geschenk des Himmels
So zynisch es klingt, Katastrophen und Tragödien sind für die Royals seit jeher ein Geschenk des Himmels. Sie verstärken die Gefühlsbande mit dem Volk.
Am 28. Dezember 1908 ereignete sich in Messina das schlimmste europäische Erdbeben der Neuzeit. König Vittorio Emanuele III. und seine Frau Elena waren omnipräsent. Elena, die vorbildliche Landesmutter, pflegte höchstpersönlich einige Verletzte. „Wichtiger als die tatsächlich erfolgte Hilfe“, schreibt Schwarzenbach, „war also die symbolische Anteilnahme der Monarchie am tragischen Schicksal der Nation.“ Während des Ersten Weltkrieges öffnete Belgiens Königin Elisabeth ihre Paläste und verwandelte sie in Lazarette.
Königliche Schicksalsschläge
Auch Schicksalsschläge innerhalb der königlichen Familie erregen die Anteilnahme des Volkes. Der Tod von Princess Diana ist eines der letzten Beispiele. Schwarzenbach zählt auch frühere Ereignisse auf.
Als Österreichs Thronfolger Rudolf 1889 in Mayerling seine 17-jährige Geliebte und dann sich selbst erschoss, löste dies im Volk eine Sympathie-Lawine aus. Im italienischen Monza wurde im Jahr 1900 König Umberto I. von einem Anarchisten getötet. Die Folge war eine riesige Anteilnahme des Volkes.
Astrid, fast eine Heilige
Einer der emotionalsten Schicksalsschläge ereignete sich in der Schweiz. An einem Sommermorgen fuhr ein Packard-Cabriolet den Vierwaldstättersee entlang. Die zwei Insassen waren inkognito unterwegs. Das Auto kam von der Strasse ab, prallte gegen einen Birnbaum: Das Drama war da.
Mit vielen neuen Details erzählt Schwarzenbach die Geschichte der belgischen Königin Astrid, die am 29. August 1935 in Küssnacht am Rigi starb. Die belgische Nation geriet in einen echten Schockzustand. Die (in Schweden geborene) Königin war zum Symbol der Nation geworden. Ihr Mann, König Leopold III., wurde zutiefst betrauert (obwohl er es gewesen war, der seine Frau in den Tod gesteuert hatte).
Schwarzenbach erzählt vom Spenglergesellen, der sah, wie die damals Unbekannte herausgeschleudert wurde. Der Chauffeur (der König) küsste sie und brach zusammen. Schwarzenbach erwähnt den Medizinstudenten, der alles fotografierte und die Bilder für je hundert Franken der Agentur AP verkaufte.
Astrid ist noch heute in Belgien die wohl verehrteste Frau: eine Ikone, eine Heilige fast. Ihr ist es gelungen, eine tief emotionale Beziehung zwischen der Krone und dem Volk aufzubauen. Andere Frauen stehen für das Gegenteil.
Marie Antoinette, Alexandra
Da ist Marie Antoinette. Sie, die Frau des französischen Königs Ludwig XVI., wird während der Französischen Revolution als Sittenmonster präsentiert. Sie sei „verschwenderisch, freizügig, orgiastisch, lesbisch, inzestuös und blutrünstig“. Neun Monate nach ihrem Mann wird auch sie enthauptet. Ihr schlechter Ruf – ob er nun begründet ist oder nicht – trägt wesentlich dazu bei, die absolutistische Monarchie zu verunglimpfen und zu stürzen.
In Russland findet es Zarin Alexandra nicht für nötig, eine Beziehung zum Volk aufzubauen. Sie glaubt, die Untertanen lägen ihr ohnehin zu Füssen – eine krasse Fehleinschätzung. Zar und Zarin werden zu Monstern aufgebaut. Alexandra werden Sexorgien mit Rasputin nachgesagt. Vom Volk ist beim Untergang des Zarenreichs keine Unterstützung zu erwarten: negative Devianz.
Wallis Simpson, Liliane Baels
Und da ist Wallis Simpson, die geschiedene Amerikanerin. Auch sie wurde als abartiges Monster mit Sex-Praktiken eines Hongkonger Bordells verunglimpft. Natürlich war sie eine Lesbe, eine Nymphomanin, eine Spionin für die Deutschen und hatte ein Kind mit Mussolinis Schwiegersohn. Allein diese unwahren Gerüchte trugen dazu bei, dass Edward VIII. auf die englische Krone verzichten musste. Das zeigt: Die Royals sind von der Gunst des Volkes abhängig.
Auch in Belgien kostete eine Frau dem König die Krone. König Leopold III. heiratete nach Kriegsende die nette Flämin Liliane Baels. Dass Leopold nach der „göttlichen“ Astrid ein zweites Mal heiratete, verziehen ihm die Belgier nie. Leopold musste auf den Thron verzichten. Er ernannte seinen Sohn Baudouin zum Nachfolger. „Das Bild seiner positiven Devianz brach zusammen.“
Besichtigungsgebühr für das Unfallauto: 30 Rappen
Das Buch schliesst eine Lücke. Denn, so der in Zürich wohnende Schwarzenbach: „Historiker der Moderne haben in der Regel kein grosses Interesse an der Monarchie.“ Wieso soll man sich mit der Erbmonarchie befassen, die „einem knappen Dutzend Familien ein sorgenfreies Leben in Palästen beschert?“
Mit einer riesigen Fleissarbeit sichtete Schwarzenbach hunderte, wahrscheinlich tausende bisher unbekannte Originaldokumente. Sie alle sind am Schluss des Buches säuberlich aufgeführt. Spannend ist der Text auch, weil der Autor nicht von der hohen Warte eines abgebrühten Historikers aus berichtet.
Der Ort am Vierwaldstättersee, wo Astrid starb, wurde schnell zur Wallfahrtsstätte. Die Schweiz vermachte deshalb das winzige Grundstück dem belgischen Staat, der dort ein Kreuz und daneben eine Kapelle baute. Schwarzenbach erzählt dann diese Geschichte:
„Das knapp 400 Quadratmeter grosse Grundstück zwischen Strasse und See gehörte zwei Besitzern. Da derjenige des grösseren Anteils sich weigerte, zum ortsüblichen Preis zu verkaufen, liess der Bundesrat das Land kurzerhand enteignen, um ein ‚unwürdiges Spekulationsgeschäft‘ zu verhindern. Vermutlich sah sich Bern zu diesem drastischen Schritt durch das peinliche Verhalten eines Küssnachter Garagisten veranlasst, bei dem das Autowrack nach dessen Bergung aus dem See eingestellt worden war. Der Unternehmer hatte in den belgischen Medien einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, weil er eine Besichtigungsgebühr (für das Wrack) von 30 Rappen erhoben hatte.“
So anspruchsvoll und teils überraschend Schwarzenbachs Analysen und seine Schlussfolgerungen auch sind – selbst „Gala“- und „Bunte“-Leser werden begeistert sein. Sie finden viele neue Details ihrer verehrten Royals. Und für einmal ist es kein Klatsch: Es sind sauber recherchierte Fakten.
„Königliche Träume“ heisst Schwarzenbachs Buch. Der Titel ist zweideutig. Da träumen die Untertanen von der vermeintlich glitzernden Welt der Monarchen. Vor allem aber träumen die Monarchen, ihre Macht erhalten zu können. Auch wenn sie nichts mehr zu sagen haben.
Alexis Schwarzenbach: Königliche Träume. Eine Kulturgeschichte der Monarchie, 1789 - 1997, Collection Rolf Heyne, München, 2012, ISBN 978-3-89910-459-2