Ein Schwerpuktthema des Jubläumsfestivals war selbstreferentiell. Es befasste sich nicht nur mit seiner eigenen Geschichte, sondern darüber hinausgehend auf vielfältige Weise mit Kunst im öffentlichen Raum. Die Bandbreite reichte etwa vom Theater Dürrenmatts über die Welt H.R. Gigers bis zu den Aktionen der ukrainischen Aktivistinnen von Feme.
Was ist „Kunst“?
„Das Wort Kunst,“ heisst es heute in der Wikipedia, „bezeichnet im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist (Heilkunst, Kunst der freien Rede). Im engeren Sinne werden damit Ergebnisse gezielter menschlicher Tätigkeit benannt, die nicht eindeutig durch Funktionen festgelegt sind. Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses.“
Ohne Kunst könne er die Realität nicht aushalten, äusserte seinerzeit Dürrenmatt, mittlerweile hoffen viele, dass aus der labyrinthischen Situation, in welche sich die Welt verfahren hat, die „Kunst“ herausführen könne. Tatsächlich wird dort auch inhaltlich immer wieder an Alternativen gearbeitet – zur jeweiligen Herrschaft der unbezogenen Verfügungsmacht, zum waffengewaltigen Streben nach Geld, Status, Ruhm.
Sie enthält oft schon in der Art ihrer Entstehung einen Gegenentwurf zum Bestehenden. Sie stellt Fragen, erprobt Neues, regt an. Insofern bereichern künstlerische Aktivitäten das gesellschaftliche Leben nachhaltig.
Die vier Dokumentarfilme im Wettbewerb
Im Licht der Frage nach der Beziehung zwischen der Welt der Kunst und der Welt, in welcher diese Kunst sich befindet, ergänzen sich die vier Dokumentarfilme, die für den Wettbewerb um den „Prix Soleure“ nominiert worden sind, zu einem eigenartig leuchtenden Spektrum.
Thomas Hirschhorn – Gramsci Monument
Im Sommer 2013 hat der Installationskünstler Thomas Hirschhorn in der Bronx, dem ärmsten und fast ausschliesslich von Farbigen bewohnten New Yorker Stadtteil, ein prestigeträchtiges Projekt realisiert. Zu Ehren des italienischen Philosophen Antonio Gramsci (1891–1937), einem Begründer der kommunistischen Partei Italiens, liess er in einem kleinen Park einen Bretterbau errichten und nach Ablauf der Ausstellungszeit auch wieder abreissen. Sein „Monument“ bot Raum für eine Bibliothek und eine Ausstellung, es wurden Kurse, Vorträge und Stadtteilfeste dort organisiert.
Angelo Lüdin hat indessen nicht Hirschhorns vollendetes Denkmal, sondern dessen Aufbau begleitet und damit die Kluft dokumentiert, die zwischen dem menschenfreundlich auftretenden Anspruch des Künstlers und der Realität seiner Rezeption durch die Menschen in der Bronx immer wieder aufbricht.
Hirschhorn arbeitet hart auf der Baustelle, gibt genau durch, wie er es haben will, zieht sich aber, wo kritische Töne zu hören sind, rasch auf die Position des Künstlers, des einsamen Genies und parthenogenetischen, alleinerzeugenden Vaters seiner Installation zurück, den infrage zu stellen ein Sakrileg darstellt. Die Filmcrew wird angeraunzt, und die Fragen und Einwände der Menschen aus der Nachbarschaft scheinen ihn weniger zu kümmern.
Eine Szene zeigt das besonders deutlich: Hirschhorn will für sein Werk vorwiegend Materialien verwenden, die am Ort des Entstehensbillig verfügbar sind: etwa Holzpaletten und sehr viel braunes Klebeband. Letzteres ist es denn auch, was die Arbeiter, die auftragsgeäss alle Polstermöbel braun umkleben, veranlasst, über das Wesen von Thomas Hirschhorns Kunst zu sinnieren: dieses Material, sagen sie, werde sehr heiss werden im Sommer, und es werde schwitzen, wer darauf sitze. 500 Rollen Klebeband, mindestens – warum nur? „Because it is his art“, „his vision“ – und sein Markenzeichen: Na ja, er wolle es so, also bekomme er es so.
Die Böhms – Architektur einer Familie
Eine ganz andere Farbe im Spektrum der Wettbewerbsfilme zeigt Maurizius Staerkle-Drux’ Dokumentation über die Kölner Architektenfamilie Böhm. Hier haben alle mit Architektur zu tun, sogar der Gärtner. Der 1920 geborene Gottfried Böhm erhielt 1986 als bisher einziger deutscher Architekt den Pritzker-Architektur-Preis, drei Söhne sind ebenfalls namhafte Architekten geworden. Der Film aber kreist um Elisabeth Böhm, beinah die eigentliche Hauptperson des Films. Sie sei auch der Grund gewesen, kommentierte Staerkle-Drux anlässlich seiner Weltpremière in Leipzig, weshalb er diesen Film habe drehen wollen. Elisabeth (geb. Haggenmüller) war selbst eine sehr begabte Architektin. Sie hat jedoch keine eigenen Bauten realisiert, sondern sich der Sorge für die Söhne gewidmet und dem Mann mit Beratung und Kritik geholfen.
Elisabeth Böhm war zum Zeitpunkt des Drehs bereits eine in sich versunkene, kaum mehr erreichbare alte Frau, deren leisen Anspruch auf mehr professionelle Anerkennung und auf Selbstbestimmung kaum noch zu hören war, eine strukturgebende zentrale Figur im imposanten Familien-Gebäude der Böhms. Aber während der Gatte sie etwas herablassend und gegen ihren Einspruch als „Mammele“ anredet, geben die Söhne zu Protokoll, dass sie architektonisch wichtiger, interessanter und anregender für die gewesen sei als der Vater. Sie ist 2012 während der Dreharbeiten gestorben.
Spartiates
„Spartiates“ – merkwürdigerweise die einzige Westschweizer Arbeit im diesjährigen Wettbewerb, begleitet den jungen Kampfkünstler Yann Sorel, der in der Banlieue im Norden von Marseille einen Club für „Mixed-Martial-Arts“ (MMA) gegründet hat. Yann unterrichtet Kinder und Erwachsene in seinem Sport. Er führt autoritär und äussert sich seinen Schützlingen gegenüber keineswegs pädagogisch-korrekt, er ist sogar sehr autoritär, aber er wird verstanden und geschätzt. Er hofft, seinen SchülerInnnen einen lebbaren Umgang mit den eigenen Kräften zu vermitteln und damit die Möglichkeit, sich produktiv in ihre Gemeinschaft einzubringen. Das expliziten Ziel, im Kampf zu gewinnen ist dabei dem Bemühen untergeordnet, sich selber und andere achten und respektieren zu lernen.
Pepe Mujica – Lessons From the Flowerbed
Heidi Specognas Film über José Alberto Mujica Cordano, genannt El Pepe, handelt von Staatskunst.
El Pepe, der 2010 Präsident von Uruguay wurde, und seine Frau, die Senatorin, haben einst als Blumenzüchter ihre Sträusse auf dem Markt verkauft. In den 1970er Jahren gehörten sie denTupamaros an, weswegen Pepe 14 Jahre lang im Gefängnis gesessen hat. Seine Frau Lucía Topolansky Saavedra war ebenfalls bei den Tupamaros, dort haben sie sich kennengelernt. Sie war seinerzeit an einer Aktion zu seiner Befreiung aus dem Gefängnis beteiligt – der Film erzählt davon mit Archivmaterial. Das Präsidentenpaar wohnt nach wie vor in seiner alten Gärtnerei, zusammen mit seinem dreibeinigen alten Hund, treibt weiterhin keinerlei Aufwand und fährt im Privatleben einen alten VW-Käfer.
El Pepe gilt als der bescheidenste Präsident der Welt, von seinem Präsidentensalär gibt er 90 Prozent ab zugunsten von Armen und von kleinen Unternehmern. Ohne jede Koketterie nimmt er eine dienende Haltung ein gegenüber dem Land, der Erde, dem Volk, den für die Kinder verantwortlichen, oftmals von den Männern sitzengelassenen Frauen.
Die Realität sei vielfältiger, grösser als noch so komplexe Ideen, und körperliche Arbeit könne helfen, intellektuelle Phantasmen zu korrigieren – „die Hände helfen denken“, sagt er – „sie denken selber“. Pepe arbeitet weiterhin auf seinem Land, es bleibe ihm aber leider nicht mehr viel Zeit dafür. Die First Lady und Senatorin versteht sich als die Kohleschauflerin im Zug seiner Regierung, ohne dass da irgendeine Unterordnung auszumachen wäre.
Angela Merkel allerdings, der Pepe von seinem kleinen Auto erzählt,, scheint damit nicht viel anfangen zu können, etwas befremdet und leicht herablassend verabschiedet sie sich von ihrem Staatsgast.
„Lessons from the flowerbed“ ist ein sehr schöner Beitrag des Festivals zum Thema Gesamtkunstwerk – im Portrait El Pepes erscheinen Staats- und Lebenskunst auf ebenso seltene wie exemplarische Weise verbunden.
Genderfragen
In einem Frühstücksgespräch am Mittwoch wurde die Dokumentarfilmregisseurin Sabine Gisiger („Friedrich Dürrenmatt im Labyrinth“ und „Yaloms’s Cure“) gefragt, wie sie es sich erkläre, dass im Kino mehr Männer- als Frauenfilme gezeigt, diese aber besser besucht würden als die anderen? Sie antwortete fragend: Frauen seien vielleicht empathischer? – und die Männer vielleicht narzisstischer, mehr darauf bedacht, dass sie gross herauskommen? Sie wisse es nicht, fügte sie an. Sie selbst, die am liebsten in und mit ihrer gut eingespielten Gruppe arbeitet, mit Freunden und Freundinnen, freut sich, wenn die Leute, die ihre Filme sehen, etwas für sich daraus nehmen können.
An demselben Vormittag fand ein Podium – das meistbesuchte Podium im Rahmen dieser Filmtage – zur „Gender-Frage“ statt: „Zahlen und Fakten aus der Schweizer Filmförderung.“ Es ist neu, dass solche Daten systematisch erhoben werden. Wie nicht anders zu erwarten, belegen sie eine massive Benachteiligung von Frauen. Schockierend ist auch, dass offenbar manche Qualitäten, die traditionell als „weiblich“ gelten – etwa Bescheidenheit oder Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Rücksicht auf die Schwachen – den Frauen in ihrer Bemühung, als Filmerinnen leben und arbeiten zu können, immer wieder zum Nachteil gereichen. Es wird ihnen also abgefordert, sich mit scharfer Zunge – „schlag fertig“ für die sprachlose Natur einzusetzen, für die ihrer Sprache noch nicht mächtigen Kinder (in-fantes) und sie sollten schwer zugängliche psychische Bereiche zügig vermitteln können. Sie sollten mit Waffen, die eher für Egozentriker entworfen wurden, friedlich für ein gedeihliches Zusammenleben kämpfen.
Da wird viel verlangt von Frauen und Männern beiderlei Geschlechts, die paradoxerweise im ihnen wie allen aufgezwungenen falschen Leben unentwegt ein wenig wahres Leben suchen. Da mag der Blick auf mancherlei Künste wohl helfen, auf die schönen und praktischen, samt Staats- Blumen-, Koch- und KampfKunst, die FilmKunst nicht zu vergessen.