In beiden Ländern fanden ungefälschte Wahlen statt. Nach dem Sturz der Ein-Mann-Regime gewannen sowohl in Tunesien als auch in Ägypten gemässigte islamistische Gruppierungen eine Mehrheit. In Ägypten waren es die Muslimbrüder, in Tunesien die an-Nahda-Partei. "Gemässigt" kann man sie nennen, weil sie erklärten, sie wollten auf ein demokratisches Regime hinwirken und sie seien bereit, mit anderen demokratischen Parteien zusammenzuarbeiten.
Keine Zusammenarbeit zwischen gemässigten Islamisten und Säkularen
Es gibt im Gegensatz dazu in beiden Ländern die "radikalen" Islamisten. Sie erklären offen, ihr Ziel sei nicht eine Demokratie, sondern ein Scharia-Staat. Unter diesen "Radikalen" gibt es noch kleinere Untergruppen, die der Ansicht sind, der Scharia-Staat müsse wenn nötig in einem „Heiligen Krieg“ mit Gewalt erkämpft werden. Man kann sie die "gewaltbereiten radikalen Islamisten" nennen.
In beiden Ländern hat der Versuch, das angestrebte demokratische Regime genauer zu definieren, zu einem bitteren Streit um die Verfassung geführt. Er wurde so bitter, dass er alle Zusammenarbeit zwischen "gemässigten" Islamisten und deren "säkularen" Gegenspielern im Fall von Tunesien behinderte - und im Falle Ägyptens verhinderte.
Der Streit hat in beiden Länder dazu geführt, dass den "gemässigten" Islamisten kein politischer Partner auf der "säkularen" Seite des Spektrums blieb. Die „Gemässigten" sahen sich gezwungen, sich auf die "radikalen" Islamisten zu stützen. Dies wiederum führte in beiden Staaten zu einem Zusammenschluss auf der "säkularen" Seite - zunächst zwischen allen "säkularen" Gruppen von ganz links bis ganz rechts. Immer mehr wurden in diese säkulare Front in beiden Staaten bedeutende Vertreter jener Kreise aufgenommen, die von der Revolution entmachtet wurden.
Provokateure in Tunesien
In Tunesien kam anfänglich eine Regierungskoalition zustande, die den Graben zwischen Islamisten und Säkularisten überbrückte. Gründe dafür waren das Wahlresultat, das den Islamisten von Nahda nur ein relatives, kein absolutes Mehr verschaffte. Zudem wolle der Parteiführer und Hauptideologe von Nahda, al-Ghannouchis, eine echte Demokratie einrichten und eine Diktatur der Mehrheit vermeiden.
Von Beginn an waren in Tunesien die radikalen Islamisten aus dem politischen Prozess ausgeschlossen worden. Sie durften keine legalen Parteien bilden, weil ihre Ziele erklärtermassen undemokratisch waren. Doch es gab sie eben doch, die Radikalen, und es gab auch bedeutende Teile der an-Nahda Anhänger, die mit ihnen sympathisierten.
Die "Radikalen" zusammen mit den "gewaltbereiten Radikalen" agitierten auf den Strassen. Sie fanden Zulauf, unter anderem weil angesichts der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen Nöte die Ungeduld der tunesischen Unterschichten zunahm. Möglicherweise erhielten sie auch Unterstützung durch Provokateure, die Vertreter des gestürzten Regimes anheuerten.
Ihre Agitation, die nun schon zum zweiten Mal den Mord eines Politikers aus den Reihen der Säkularisten verursacht hat, wurde und wird von säkularistischer Seite als "das wahre Gesicht des Islamismus" gesehen. Sie verdächtigen die gemässigten Islamisten, "in Wirklichkeit" nichts anderes zu wollen als das, was ihre "islamische Vorhut" bereits heute vorlebe, nämlich die Durchsetzung des Scharia-Staates mit allen Mitteln und auf Kosten der säkularen Seite. Ihre Regierung, so argwöhnen sie, habe nicht genug getan, um diese Radikalen auszuschalten.
Ist eine Verfassung noch möglich?
Nach der zweiten Bluttat in Tunis, dem Mord an dem Linkspolitiker Brahimi, ist es zum Bruch in der Verfassungsversammlung gekommen. Sechs politische Gruppierungen der säkularistischen Seite beschlossen, ihre Vertreter zur Suspendierung ihrer Mitwirkung in der Versammlung zu bewegen. Sie traten nicht zurück, sondern suspendierten ihre Mitarbeit, weil sie im Fall eines Rücktritts ersetzt worden wären. Die säkularistische Linke und Rechte fordern die Auflösung der gewählten Verfassungsversammlung, die auch als provisorisches Parlament dient, mit der Begründung, sie sei nur für ein Jahr gewählt und habe in dieser Frist keine Verfassung zu formulieren vermocht.
Der Versammlung ist es tatsächlich nicht gelungen, einen Verfassungsvorschlag auszuarbeiten, der eine Zwei-Drittel-Mehrheit erreichen könnte. Die Regierung ist der Meinung, der Verfassungsvorschlag stehe kurz vor seiner Vollendung, es gehe darum, ihn zu Ende zu bringen und ihn dem Volk vorzulegen. Sie steht nun vor der Wahl, ihren Vorschlag, ähnlich wie dies in Ägypten geschah, durchzudrücken, oder dem Verlangen ihrer Gegner nachzugeben, die Verfassungsversammung aufzulösen und sie noch einmal neu wählen zu lassen. Das zweite natürlich mit dem Zeitverlust der dadurch entstehen würde und mit der zunehmenden Ungeduld der Bevölkerung, die sich dann gegen die nach diesen Neuwahlen regierende Formation auswirken würde.
Keine Vertrauensgrundlage
In Tunesien und in Ägypten weigerte sich die säkulare Seite den regierenden "gemässigten" Islamisten genügend Vertrauen zu schenken, um mit ihnen soweit zusammenzuarbeiten, dass der Übergang zur Demokratie fortgeführt werden konnte. Sie forderten einen Neubeginn.
Im Falle Ägyptens war diese Entwicklung kompliziert. Vor allem deshalb, weil die Armee als dritte Partei in dem politischen Spiel mitwirkte, zeitweise offen zeitweise hinter den Kulissen. Sie hat zuerst mit den gemässigten Islamisten zusammengearbeitet, um ihre eigenen Privilegien sicherzustellen. Dann hat sie sich auf die Seite der "Säkularisten" geschlagen und ihren bisherigen Partner abgesetzt, "mit den Tanks" aber zum Jubel einer gewaltigen Masse von "Säkularisten" und Unzufriedenen.
Schon zwei Jahre vor diesem Coup hatte die Armee bewirkt, dass das gewählte ägyptische Parlament aufgelöst wurde, indem sie mit dem Verfassungsgericht zusammenspielte. Sie hat dadurch die Position der "gemässigten" Islamisten geschwächt, damals wohl mit dem Ziel, ihre eigenen Privilegien abzusichern.
Andere Wege
Es gab und gibt natürlich auch personelle und organisatorische Unterschiede: die Muslimbrüder haben eine eigene Vergangenheit und Psychologie, die sich von jener der Nahda unterscheidet, und die leitende Persönlichkeit in Tunesien, al-Ghannouchi, versuchte Nahda auf einen anderen Weg zu lenken als auf jenen der Muslimbrüder. Ghannouchi übernahm nicht persönlich die Regierungsverantwortung, die Bruderschaft tat dies jedoch mit Mursi, trotz gegenteiliger Versprechen, allzu taktlos und ausschliesslich.
Es gibt Anzeichen dafür, dass sie durch den Druck der dritten Partei, der Armee, die vor ihnen anderthalb Jahre lang die Macht offen ausübte, dazu verführt oder veranlasst wurde.