Der "Morgenröte"-Allianz ist es gelungen, den Flughafen von Tripolis nach über sechswöchigen Kämpfen den Milizen von Zintan zu entreissen. Die "Morgenröte" ist eine Allianz libyscher Milizen, in der islamistische Kämpfer und die Kämpfer der Stadt Misrata die Führung innehaben. Diese Miliz beherrscht die Hauptstadt Tripolis weitgehend, und sie hat nun offenbar auch die Ruinen des umkämpften und weitgehend zerstörten Flughafens unter ihre Kontrolle gebracht. Doch Kämpfe am Rande der Stadt gehen weiter. Gegen die "Morgenröte" (arabisch Fajr, ein im Koran oft verwendeter Begriff) kämpft gegen die "Aktion Würde", die der ehemalige General Khalifa Hafter von Bengasi aus lenkt. Die nun aus dem Flughafengelände vertriebenen Zintan-Milizen gelten als lose Verbündete von General Hafter.
Geisterflugzeuge
"Morgenröte" ist pro-islamistisch, "Aktion Würde" ist nationalistisch ausgerichtet. Schon am 18. August und später noch einmal am 22. und 23. August haben Kampfflugzeuge in die Kämpfe eingegriffen und Kräfte von "Morgenröte" bombardiert. Diese hatten Verluste zu beklagen. Ihre Sprecher erklärten, die Flugzeuge seien aus Ägypten und aus den Vereinigten Arabischen Emiraten gekommen. Hafter sagte, es habe sich um seine Kampfflugzeuge gehandelt. Er besitzt in der Tat solche, weil die noch rudimentäre libysche Luftwaffe sich auf seine Seite geschlagen hat. Doch manche Experten meinen, diese Flugzeuge aus Bengasi seien schwerlich in der Lage, in der entfernten Stadt Tripolis einzugreifen.
Ägypten hat zuerst alle Auskunft über die Herkunft der Flugzeuge verweigert. Später kam ein ausführliches Dementi, Ägypten habe nichts mit dieser Sache zu tun. Auch über eine Herkunft aus Algerien wurde spekuliert. Sowohl Ägypten wie auch die Vereinigten Arabischen Emirate und Algerien stehen den Muslimbrüdern feindlich gegenüber. Diese Staaten könnten deshalb Interesse daran haben, die Muslimbrüder-freundlichen Milizen zu bekämpfen.
Das Parlament von Tobruk weiss nichts
Dass Hafter einst eng mit der CIA zusammenarbeitete, kann als Tatsache gelten. Ob er es noch tut, wissen Aussenstehende nicht. Das libysche Parlament tagt in Tobruk. Die Stadt liegt nahe der ägyptischen Grenze, noch östlicher von Tripolis als Bengasi. Selbst das Parlament erklärte, es wisse nicht, woher die Kampfflugzeuge gekommen seien.
Nun, nach der Einnahme des Flughafens, hat das exilierte Parlament in Tobruk die Kämpfer der "Morgenröte"-Allianz als "Terroristen" verurteilt. Wie weit das Parlament mit Hafter zusammenarbeitet ist ungewiss. Die nun aufgelöste frühere "Provisorische Nationalversammlung", Vorgängerin des jetzigen Parlamentes, die in Tripolis tagte, hatte Hafter als Rebellen und Putschisten bezeichnet. In dieser "Provisorischen Nationalversammlung" hatten islamistische Abgeordnete eine grössere Rolle gespielt und ihr Gewicht dadurch gefestigt, dass sie sich mit pro-islamistischen Milizen verbündeten, die nun zur "Morgenröte"-Allianz gehören.
Nach der Einnahme von Tripolis erklärte ein Sprecher der vorausgehenden parlamentarischen Versammlung, diese Versammlung könnte möglicherweise erneut in Tripolis zusammentreten. Jene von Tobruk sei jedenfalls illegal.
Entsteht ein Gegenparlament in Tripolis?
Ob solche Vorhaben sich verwirklichen lassen, bleibt abzuwarten. Viele der pro-islamistischen früheren Abgeordneten dürften sich dazu hergeben. Unter ihnen gibt es eine Mehrzahl, die nicht in das neue Parlament wiedergewählt wurde. Dabei sind auch solche, die zwar in die neue Versammlung wiedergewählt wurden, sich aber weigerten nach Tobruk zu fliegen, um Einsitz im neuen Parlament zu nehmen.
Falls sich genügend frühere Parlamentsabgeordnete bereitfinden sollten, ein Konkurrenzparlament in Tripolis zu konstituieren (Konkurrenz zum Parlament in Tobruk), dann rückt die Spaltung Libyens in greifbare Nähe. Dann gibt es nicht nur zwei einander bekriegende Milizallianzen, sondern auch zwei politische Zentren. Das eine Zentrum stünde in Tripolitanien unter pro-islamistischer Fahne, das zweite in der Cyerenaika würde von nationalistischen Kräften dominiert. Wo der dritte Landesteil, der Fezzan, stünde, bliebe abzuwarten.
Beide Fronten in beiden Landesteilen
In Tripolitanien würde es wohl auch weiterhin Gegner der pro-islamistischen Allianz geben, namentlich die Miliz von Zintan und möglicherweise weitere Berbermilizen. Die Zintanis haben zwar den Flughafen von Tripolis verloren. Doch das bedeutet noch nicht, dass sie verschwunden sind. Offenbar kämpfen sie weiterhin am Rande von Tripolis. Sie beherrschen auch ihre eigene Stadt Zintan, die westlich der Hauptstadt liegt.
Umgekehrt befinden sich in Bengasi und in der cyrenaikischen Stadt al-Baida kampfeswillige islamistische Milizen, die den Nationalisten Hafters bisher erfolgreich die Stirne boten. Ihre kräftige Präsenz in Bengasi ist der Grund, weshalb das Parlament im fernen Winkel von Tobruk tagen muss.
Wem gehören die Geldreserven?
Wenn es künftig zwei libysche Parlamente und zwei Regierungen geben sollte, werden sich diese auch darum streiten, wem die libyschen Staatsgelder gehören und wer über die im Ausland lagernden Reserven aus der Ghadhafi-Zeit verfügen darf.
Die Spaltung Libyens geht nicht in allen Fällen auf ideologische Beweggründe zurück. Ob sich eine Miliz der einen oder der anderen "Allianz" anschliesst, hängt von vielen Faktoren ab. Der ideologische ist bloss einer davon. Fragen der Opportunität können mitwirken; etwa ob die eine oder die andere Front besser bewaffnet ist, besser finanziert und daher eher verspricht, länger zu bestehen und vielleicht am Ende zu siegen. Eine Rolle spielen auch gute oder schlechte Beziehungen zu einer bereits in eine der Fronten einbezogenen Miliz. Wichtig sind auch persönliche Beziehungen zwischen den Anführern; politische Ziele, deren Verwirklichung durch die eine oder die andere Front als wahrscheinlicher eingestuft werden usw.
Die Dynamik der Frontenbildung
Dennoch ist deutlich, dass sich schrittweise zwei Fronten bilden, die unter den Vorzeichen Islamismus oder Nationalismus stehen. Die zahlreichen kleinen Milizen müssen sich künftig der einen oder andern Front anschliessen, sonst schwinden ihre Überlebenschancen. Der Verband, den man wählt, bestimmt dann auch die Ziele, für die man kämpft und die Ideologie, der man Folge leistet.
Das Parlament und die aus ihm hervorgehende Regierung von Tobruk haben bereits Stellung bezogen. Sie stehen nicht mehr zwischen den Fronten, sondern deutlich auf einer von ihnen, jener der Nationalisten. Gerade der Umstand, dass das Parlament von Tobruk so deutlich Farbe bekennt, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gegenparlament in Tripolis konstituiert werden könnte. Denn die Pro-Islamisten, die Tobruk als "Terroristen" verurteilen, werden der Ansicht sein, „Tobruk“ vertrete sie nicht.