Es war der Abend des 8.März, einem Sonntag. Shabnam Ramaswamy war zuhause, in ihrem Dorf Katna, etwa 300 Kilometer nördlich von Kolkata. Eine Freundin hatte sie eben am Telefon daran erinnert, dass heute Internationaler Frauentag war, als sich das Gartentor öffnete und eine Bäuerin hereinstürzte, an der Hand ihre achtjährige Tochter. An beiden Beinen lief der Kleinen Blut herunter. Ein Bauer, rief die Mutter Shabnam laut klagend entgegen, hat das Mädchen im Pumphäuschen auf dem Reisfeld sexuell missbraucht.
Shabnam handelte sofort. Sie lud die beiden in ihr Auto und fuhr zum Primary Health Centre nach Kuli. Auf dem Weg hielt sie bei der Polizeiwache. Sie werde am Morgen vorbeikommen und eine Beschwerde gegen den Mann einreichen. Doch als sie am nächsten Tag ihr Haus verliess, hatte sich vor dem Tor eine grössere Menge Dorfbewohner versammelt. Der Gemeindevorsteher forderte sie auf, keine Klage einzureichen. Das Dorf werde den Fall intern regeln.
Resolute Kämpferin
Shabnam wusste, was dies bedeutete. Die Misshandlung würde vertuscht werden, der Mann würde insgeheim eine Abgeltung zahlen. Das Mädchen würde so rasch wie möglich, und möglichst weit weg, unter die Haube gebracht. Shabnam hatte ihre Erfahrungen mit Katna. Ihr Mann war vergiftet worden, als die beiden im Dorf eine Schule errichtetet hatten, gegen den Willen der politischen Drahtzieher. Die Täter waren nie gefasst worden.
Doch sie hatte sich nicht abschrecken lassen, und auch diesmal würde sie es nicht tun. Statt zur Polizeiwache fuhr sie direkt nach Kolkata. Shabnams Ruf als resolute Kämpferin hat sich in den letzten Jahren in ganz Westbengalen verbreitet. Sie hatte daher keine Mühe, gleichentags bei der Ministerin für Frauen und Kinder vorzusprechen. Diese schickte sie zum Polizeichef von Westbengalen, dem sie das Verbrechen schilderte.
Die Frau des Vergewaltigers
Als sie am nächsten Tag ins Dorf zurückkehrte, sah sie sofort, dass ihre Intervention Wirkung gezeigt hatte. Vor dem Dorf waren mehrere Personentransporter der Polizei geparkt. Rund fünfzig Beamte waren aufgeboten worden, um den Täter abzuführen und sicherzustellen, dass ein Dorfmob sie nicht daran hinderte. Die Polizei kann sehr effizient sein, wenn ein Wink von hoch oben kommt.
Am gleichen Abend sass Shabnam, müde von der langen Reise, auf der Veranda ihres Hauses, genau wie zwei Tage zuvor. Und genau wie an jenem Sonntag kam plötzlich eine Dorffrau durchs Gartentor, mit zwei Kindern am Sari-Zipfel. Sie erkannte sie sofort: Es war die Gattin des Vergewaltigers. Auch sie brach sofort in lautes Klagen aus. Was werde nun mit ihr und den Kindern geschehen – ihr Mann im Gefängnis, kein Einkommen, die Ehre verloren. „Didi, – ‚ältere Schwester’ – Du musst Dich für ihn einsetzen, sonst sind wir verloren“.
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Ich hörte diese Geschichte, als ich Shabnam im Oktober in Kolkata traf. Ich war in der Stadt, um Mamoon Akhtar zu treffen. Ich hatte ihn vor einem Jahr in Bombay kennengelernt, bei einem Führungsseminar für NGOs. Ohne eigene Mittel und anfänglich ohne die geringsten Kontakte zu philanthropischen Geldgebern ist es Mamoon gelungen, in 15 Jahren vier Schulen mit rund 2000 Kindern auf die Beine zu stellen.
Ich war von Mamoon beeindruckt gewesen, trotz des Namens seiner Organisation – Samaritan Help Mission -, in dem mir jedes Wort falsch gewählt schien. Die Einfachheit des Namens verbarg aber auch eine einfache und klare Strategie. „Nicht Klagen und Ressentiments motivieren mich. Ich frage, was das Problem ist, und mache den ersten Schritt. Ärger über die Missstände lenkt nur ab. Just do it, ist meine Losung“.
Tutorials
In Tikiapara, einem Industriearbeiterviertel in Hooghly, der Zwillingsstadt von Kolkata, ist das Problem der miserable Zustand der staatlichen Schulen. Bis zu 60 Prozent der Kinder schaffen es nicht einmal zur fünften Klasse. Mamoon war ebenfalls ein Drop-out gewesen, zuerst ein erzwungener, dann ein freiwilliger. Er konnte die Gebühren für Schulmaterialien nicht mehr bezahlen und musste zuhause bleiben. Doch innerhalb eines Jahres sass er wieder in seiner Klasse. Er hatte sich das Geld mit Nachhilfeunterricht zusammengespart.
Zwei Jahre später gab er sich selber den Laufpass. Er sah, dass er in einer Schule, in der die Lehrer regelmässig fehlten, wenig lernte. Und er erkannte: Je schlechter die Schule, desto nötiger der Nachhilfeunterricht. In einem baufälligen Haus neben seiner alten Schule – der Rebecca Belilious Municipal School – begann er mit Tutorials, und hatte bald so viele Schüler, dass er sie gleich klassenweise unterrichtete.
Drei-Schichten-Betrieb in der Schule
Es fehlten nur noch Lehrer und Schulzimmer. Sein Vater vermachte ihm ein winziges Grundstück von sechzig Quadratmetern. Dort entstand die erste Samaritan Mission School, im Drei-Schichten-Betrieb. Jedes Jahr kam eine Klasse hinzu. Heute sind es, in vier Gebäuden, bereits zwölf Klassen mit eintausend Schülern, die meisten sind Mädchen.
Für unseren Besuch hatte uns Mamoon in seine alte Schule, die Rebecca Belilious geladen, so genannt nach der Frau eines jüdischen Händlers aus dem 19. Jahrhundert, der sie gegründet hatte. Die Schule hatte immer mehr Schüler verloren, bis es am Ende nur noch 53 waren – plus 27 Lehrer, zumindest auf der Lohnliste. Sie glich mehr und mehr dem Schulgelände, das während Jahrzehnten der Vernachlässigung zu einem Abfallhalde verkommen war, mit einem dreckigen Tümpel, der als öffentliche Toilette diente.
Statt Chaos Sauberkeit
Vor einem Jahr entschloss sich die Stadt, die Schule Mamoons Samaritan Mission zu überlassen. Die kommunistische Lehrergewerkschaft willigte ein, unter der Bedingung, dass die Saläre der Lehrer weiterhin bezahlt würden.
Wir erwarteten nichts Gutes, denn es hatte mehrere Tage geregnet, und die Strassen von Tikiapara versanken im Chaos von wassergefüllten Schlaglöchern und dem Verkehr, der sich darum herumquälte. Doch statt vor einer schwimmenden Abfallhalde standen wir plötzlich vor Grünflächen, einem sauber ummauerten kleinen See, und dahinter einem Fussballplatz mit ... Astroturf.
Das alte Schulgebäude befand sich im Umbau, denn hatte sich die Schülerzahl von 53 wieder auf 650 erhöht. In einer Remise fand ein Schneiderinnen-Kurs für junge verheiratete Frauen des Quartiers statt, daneben Vocational Trainings für Hautpflege und Haareschneiden.
„No hard feelings?“
In der Bauruine neben der Schule, wo er vor dreissig Jahren mit Erstklässlern Rechnen gepaukt hatte, befinden sich heute – zwei Bankfilialen, in Form von zwei identischen Tischen mit PC und Finger-Lesegerät. Nur die Aufschriften auf den Plastikbannern an der feuchtschwarzen Wand lauten verschieden, Union Bank of India auf dem einen, State Bank of India auf dem andern. Ein paar junge Mädchen – jede SHM-Schülerin hat ein Konto - standen davor und identifizierten sich mit per elektronischem Daumenabdruck. Dann zahlten sie die hundert Rupien monatliche Schulgebühr ein.
Auf dem Weg zum Ausgang des Schulgebäudes kamen wir an einem Raum vorbei, in dem ein halbes Dutzend Männer sassen und schwatzten. Mamoon sah unseren fragenden Blick und lächelte. Dies seien die staatlichen Lehrer. Sie kämen jeden Tag vorbei, um sich im Präsenzregister einzutragen. Mamoon hatte ihnen den Aufenthaltsraum gegeben, damit sie nicht ständig den Blicken der Schüler ausgesetzt waren. Und er lässt ihnen regelmässig Tee auftragen. „No hard feelings?“, fragte ich ihn. „Warum denn? Sie sind zu bedauern – sie bringen es nicht fertig, über ihren Schatten springen“