Die Anzeichen mehren sich, dass auch eine Änderung in der Bevölkerungspolitik eines der Themen am jährlichen Wirtschafts-Powwow des Zentraliomitees der Kommunistischen Partei Chinas sein wird.
Die Ein-Kind-Familienpolitik wurde 1979 zu Beginn des in der Geschichte einmaligen chinesischen Reformprozesses eingeführt. Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping beendete den Klassenkampf und setzte als oberste Priorität das Wachstum der Wirtschaft. Eine fortgesetze Bevölkerungsexplosion, war Deng überzeugt, mache das ökonomische Wachstum zunichte und diene mithin nicht dem Wohlergehen des Volkes.
Papiertiger
Der „Grosse Steuermann“ Mao Dsedong verhöhnte noch die USA als „Papiertiger“, weil er überzeugt war, dass es China bei einem Atomkrieg auf hundert Millionen Menschen mehr oder weniger nicht ankomme. Der Nation sei mit einem möglichst hohen Bevölkerungswachstum am meisten gedient. So wuchs die Bevölkerung von der Gründung des Volkrsrepublik 1949 von 540 Millionen auf über 900 Millionen Menschen zu Beginn der Reform 1979.
Die Ein-Kind-Familienpolitik wurde im Westen immer wieder harsch kritisiert und die Wahlfreiheit der Kinderzahl als Menschenrecht deklariert. Selten wurde von westlichen Medien und Politikern, zumal in den USA, die chinesische Familienplanung differenziert analysiert. Die Ein-Kind-Familienpolitik wurde nämlich über die Jahre immer wieder angepasst. Seit Beginn zum Beispiel wurden den nationalen Minderheiten mehrere Kindes zugestanden. Auch die Bauern durften ein zweites Kind haben, sofern das erste ein Mädchen war. Dies deswegen, weil im ländlichen China ein Knabe so etwas wie die Altersvorsorge für die Eltern ist. Seit Beginn des neuen Jahrhunderts wurden der sinkenden Geburtenraten wegen auch in einigen Städten – darunter prominent Shanghai – zwei Kinder pro Familie zugelassen.
Kein Baby-Boom
Heute sind nur noch rund 35 Prozent der chinesischen Bevölkerung einer strikten Ein-Kind-Politik unterworfen. Jedoch dürfen seit zwei Jahren überall Ehepaare zwei Kinder haben, sofern einer der Ehegatten aus einer Ein-Kind-Familie stammt. Nach repräsentativen Umfragen sind heute rund 80 Prozent der chinesischen Bevölkerung mit der Familienpolitik einverstanden. In den Städten und im reichen Küstengürtel ist die Zustimmung noch grösser. Nur wenige Ehepaare wünschen sich ein zweites Kind.
Nach Angaben der Nationalen Gesundheits- und Familienplanungs-Kommission wären elf Millionen Ehepaare im laufenden Jahr berechtigt, ein zweites Kind zu haben. Doch bis Juni haben sich nur 1,45 Millionen oder 13 Prozent angemeldet. Teure Erziehung, teure Wohnverhältnisse: Das sind die am meisten zitierten Hinderungsgründe. „Der erwartete Baby-Boom ist nicht eingetroffen“, konstatiert Cai Fang, Stellvertretender Direktor der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, „Der Wille, ein zweites Kind zu haben, wird mit der Wirtschaftsentwicklung weiter abnehmen. Je früher wir deshalb eine Zwei-Kind-Familienpolitik fördern, desto schneller werden wir den positiven Effekt sehen“.
Menschenrecht auf Kinderzahl?
Die negativen Seiten der Bevölkerungspolitik wurden und werden in China immer wieder diskutiert und keineswegs, wie westliche Medien oft glauben machen wollen, übergangen oder verdrängt. Zwangsabtreibungen gaben immer wieder viel zu reden. Auch das eklatante Missverhältnis bei Geburt von Knaben zu Mädchen sorgt für lebhafte Diskussionen, kommen doch derzeit auf 118 Männer nur 100 Frauen, während es im internationalen Durchschnitt 104 bis 106 Männer auf 100 Frauen sind. Ob das allerdings der Ein-Kind-Familienpolitik zuzuschreiben ist, bezweifeln chinesische und internationale Experten. Ein ähnliches Missverhältnis nämlich ist im demokratischen und wirtschaftlich hochentwickelten Südkorea genausogut wie im Schwellenland Indien festzustellen. Dort ist das „Menschenrecht auf Kinder“ allerdings – so wohlmeinende, wenn auch etwas naive Menschenrechtsorganisationen – gewährleistet.
Dazu kommen bei der chinesischen Bevölkerungspolitik Schwierigkeiten mit den verwöhnten aber extrem geförderten und geforderten Einzelkindern, Stichwort „kleine Prinzessinen und Prinzen“. Ungerechtigkeit ist ein weiteres Thema, denn wer unerlaubt ein zweites Kind zur Welt bringt, bezahlt nach Einkommen abgestuft hohe Geldbussen, während nicht selten Parteibonzen, Reiche, Schöne und Berühmte sich mehrere Kinder erschleichen. Die ganz Reichen wiederum ziehen einfach ins Ausland, investieren, bekommen einen Pass und können so Familien mit ein, zwei, drei, vielen Kindern in Amerika, Australien oder Europa gründen.
Wirtschaftliche und finanzielle Lasten
Seit einigen Jahren werden die schnelle Alterung der Gesellschaft sowie der drohende Arbeitskräftemangel immer mehr zum Thema. Die demographischen Eckwerte belegen das. Die Lebenserwartung beträgt heute bei Männern 71,5 Jahre, bei Frauen 75,5 Jahre, während es bei der Gründung der Volksrepublik 1949 noch 36 Jahre waren. Das durchschnittliche Lebensalter beträgt in China mittlerweile 37 Jahre (Schweiz 41, Indien 27). Die Fruchtbarkeitsrate – Kinder pro Frau – hat sich bei 1,5 eingependelt, weit unter den durchschnittlich 2,1 Kindern, die es braucht, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten. In den 1970er Jahren waren es 4,77 Kinder pro Frau, 2011 noch 1,64 .
Mu Guangzong, Professor am Institut für Bevölkerungsforschung an der Pekinger Universität Beida, wurde von der Tageszeitung „Global Times“, einem Ableger des Sprachrohrs der Partei „Renmin Ribao“, mit den Worten zitiert: „Das Land braucht eine moderate Fruchtbarkeitsrate, um ein gesundes und nachhaltiges Wachstum zu garantieren“. Lu Yang, Wissenschafterin an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften meint: „Die niedrige Fruchtbarkeitsrate wird Probleme mit sich bringen wie beispielshalber einen Mangel an Arbeitskräften oder wirtschhaftliche und finanzielle Lasten und Bürden einer alternden Gesellschaft“. Die arbeitsfähige Bevölkerung – 15 bis 59 Jahre alte Männder und Frauen – hat 2011 mit 940 Millionen ihren Höhepunkt erreicht, zählte 2014 noch 930 Millionen und wird in den kommenden 15 Jahren leicht, und danach markanter zurückgehen. Schliesslich nimmt die Zahl der Rentner und Rentnerinnen zu. Im laufenden Jahr waren 15,5 Prozent der Bevölkerung oder rund 215 Millionen älter als 60 Jahre. In zehn Jahren werden 300 Millionen Chinesinnen und Chinesen Pensionisten sein und in der Mitte des Jahrhunderts wird die Zahl 480 Millionen oder 33 Prozent der Bevölkerung betragen.
Zwei-Kindfamilie Ende 2015?
Die neuesten Zahlen über die chinesische Bevölkerungsentwicklung hat Zhang Juwei, Direktor des Instituts für Bevölkerung und Arbeitsökonomie an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften veröffentlicht. Danach wird im Jahre 2025 die chinesische Bevölkerung mit 1,41 Milliarden ihren Höhepunkt erreicht haben und bis zur Jahrhundertmitte auf 1,3 Milliarden sinken. Indien wird dann China längst als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst haben.
All diese Zahlen sind in einem Hintergrundsbericht für das Plenum des Zentralkomitees der Partei enthalten, das im Oktober oder November den neuen, XIII. Fünf-Jahresplan debattieren und verabschieden wird. Nach Lin Bao, Wissenschafter an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, haben die bereits verfügten Erleichterungen der Ein-Kind-Familienpolitik nicht das erhoffte Resultat gebracht. „Deshalb“, fügt Lin hinzu, „glaube ich, dass die Familienplanungspolitik bald total gelockert wird“. Die Zeitung „China Business News“ schreibt unter Berufung auf anonyme Quellen innerhalb der Nationalen Gesundheits- und Familienplanungs-Kommission, dass die Zwei-Kind-Familie bereits „Ende 2015 eingeführt werden könnte, wenn alles gut geht“. Lu Jiehua, Demographie-Professor an der Elite-Universität Beida in Peking, ist etwas vorsichtiger aber dennoch überzeugt, dass die Änderung „möglicherweise im kommenden Jahr oder zu Beginn des XIII. Fünf-Jahresplan in Kraft treten wird“.
„Humanere“ Bevölkerungspolitik
Beida-Professor Ma Guangzong brachte die ganze Bevölkerungs-Problematik Chinas auf den Punkt: „Wenn Eltern ein zweites Kind haben, das sie im Alter unterstützen wird, könnten für das Land viele Risiken eliminiert werden. Und Familien werden weniger leiden, als wenn ihr einziges Kind stirbt“. Damit hat Professor Ma ein Problem angetönt, das immer wieder zu Debatten führt. Im ganzen China gibt es rund 200 Millionen Ein-Kind-Familien, davon hatten zehn Millionen Familien den Tod eines Kindes zu beklagen. Des einzigen Kindes.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, das ohne Ein-Kind-Familie China heute anstatt 1,35 Milliarden Menschen vermutlich 1,7 Milliarden zählen würde mit all den unübersehbaren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen. Dennoch: Die Familienplanungspolitik, heisst es in einem Blog auf der Website der parteioffiziellen Volkszeitung (Renmin Ribao), werde mit der Zwei-Kind-Familie „humaner“.