In «Der heutige Tag» publiziert Helga Schubert einen anrührenden Bericht über das Leben mit ihrem schwerkranken Mann. Das Buch ist eine grosse Liebeserklärung – an ihn, vor allem aber an das Leben.
Lange hat auf ihrem Schreibtisch eine Postkarte gestanden mit einem afrikanischen Sprichwort: «Wende dein Gesicht der Sonne zu, so fallen die Schatten hinter dich.» Genau das tut Helga Schubert jeden Tag, wenn es dunkel wird. Sie schaltet die Lampe ein und versinkt im Glück des Schreibens – neben sich das auf höchste Empfindlichkeit gestellte Babyphon, das sie mit ihrem Mann im Zimmer nebenan verbindet. Sie hört ihn atmen und hofft inständig, dass ihn seine Träume ruhig schlafen lassen. Und währenddessen arbeitet sie an jenem «Stundenbuch der Liebe», das jetzt unter dem Titel «Der heutige Tag» erschienen ist und das einen grossen Lebenstrost birgt.
«Eine kurze Schule in Achtsamkeit»
«Einen Tag lang hier zu sitzen bei diesem alten Paar, das ist wie eine kurze Schule in Achtsamkeit, Lebensfreundlichkeit, Besinnung auf das Gute im Leben, um das Schlechte und Schwere zu überleben.» So hat Volker Weidermann im «Spiegel» vor zwei Jahren einen Besuch bei Helga Schubert und ihrem Mann Johannes Helm in Mecklenburg-Vorpommern resümiert. Ja, auch das Schlechte und Schwere ihres Lebens findet in Helga Schuberts «Stundenbuch» Platz.
1940 in Berlin geboren, hat sie davon schon in frühen Jahren viel mitbekommen: den Tod des Vaters 1941 im Krieg, das Zusammenleben mit ihrer innerlich verhärteten Mutter, später dann die Nachstellungen der DDR-Staatssicherheit, die sie als «feindlich-negativ» taxiert und überwacht. «Keinen Tag könnte ich hier leben», sagt die österreichische Lyrikerin Friedrike Mayröcker, als sie sie in Ostberlin besucht. «Ich auch nicht», antwortet Helga Schubert.
Aber sie bleibt. Es ist der Mann, der sie hält und der nicht weggehen will. Sie ist 24, er 37, als sie ein erstes, sehr langes Gespräch führen. Beide sind sie ein erstes Mal verheiratet und haben Kinder, er betreut ihre Diplomarbeit in Psychologie, «ganz sachlich». Dann, an einem Kongress in Dresden, fordert er sie zum Tanz auf. «Wir hatten noch nie zusammen getanzt. Er war nicht hochmütig, nicht ironisch, nicht verstellt, ganz selbstverständlich.» Viele Stunden gehen sie der Elbe entlang, erzählen sich ihr Leben, «und wir wussten, dass es ernst mit uns wird».
«Das ist doch kein Leben mehr»
Ernst ist es geblieben. Bis heute. «Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant», sagt er, den Helga Schubert im Buch «Derden» nennt, als sie am Morgen an sein Pflegebett tritt. «Zwei alte Liebesleute» begegnen sich ein erstes Mal. Sie leert den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühlt, ob die Windel nass ist. Sie rollt den Rollstuhl heran, hilft ihm hinein, schiebt ihn zum Frühstückstisch.
«An Ihrer Stelle würde ich Ihrem Mann einfach ein paar Tropfen Morphium mehr geben», hat ein Arzt ihr vor Jahren geraten, «das ist doch kein Leben mehr für ihn.» Doch Derden sitzt noch immer gern in der Sonne, hört den Vögeln zu, kommentiert das Leben, hat Humor. Und manchmal malt er sogar noch, was er nach seiner Karriere als Psychologieprofessor zum Beruf gemacht hat. Während seine Frau, neben ihrer Arbeit als klinische Psychologin, schon Geschichten schreibt. Für die Schublade, bis sie 1975 von der Lyrikerin Sarah Kirsch entdeckt wird.
1980 wird sie ein erstes Mal nach Klagenfurt eingeladen zum Ingeborg-Bachmann-Preis, aber die DDR verbietet es ihr. 2020 bekommt sie den Preis endlich, für «Vom Aufstehen», einem Text über das Leben und Sterben ihrer Mutter und ihre Beziehung zu ihr. «In ihren weisen Erzählungen begegnet uns jemand, der überlebt hat, der vielleicht die Frage beantworten kann, wie ein Leben gelingt», begründete die Jury ihren Entscheid.
«Schöne Weihnachten» am 18. Februar
Wie ein Leben gelingt: Das ist auch Thema von «Der heutige Tag», sie umkreist es in locker gefügten Erinnerungen, Geschichten, Gedanken, Phantasien. Helga Schubert verklärt nichts an ihrem Alltag mit einem schwerbehinderten Mann, dessen geistige Kräfte langsam schwinden, und der manchmal schon seine eigene Frau nicht mehr erkennt. Sie beschreibt, wie er sie immer wieder nachts weckt, wie erschöpft sie oft ist, wie einsam sie sich zuweilen fühlt bei aller Hilfe, die sie bekommt, und wie abgeschnitten sie ist auf dem flachen Land.
Aber sie lernt. Es ist der 18. Februar, Derden sagt: «Schöne Weihnachten», und fragt, wann die Kinder kommen. Eine Pastorin, mit der sie telefoniert, rät ihr: «Dann feiern Sie doch Weihnachten.» Und sagt: «Das ist die Heilige Zone, in die er Sie einlädt.» Jene Zone in Todesnähe, die Menschen hellsichtig werden lasse. Man dürfe deren Vertrauen nicht enttäuschen. So nimmt Helga Schubert hin, was ihn bedrückt, und rät ihm, mit den Sängern zu verhandeln, als er Stimmen hört.
Man sieht die eigene Zukunft
Auch ihre und seine Kinder sieht sie mit anderen Augen, begreift, dass sie keine allzu hohen Erwartungen haben darf. Dass es da auch eine Schamgrenze gibt. Und dass es da vielleicht um eine «Angst ganz innen» geht: «Wenn der Vater Dinge sieht, die man selbst nicht sieht, oder Stimmen hört, die man selbst nicht wahrnimmt, wenn er einen verwechselt oder nicht erkennt, dass sieht man ja die eigene mögliche Zukunft.»
Diese Zukunft: Das ist das Alter, das ist Krankheit, Zerfall, Tod. Plötzlich wird Helga Schubert klar, dass sie auch jetzt als alte Frau noch richtige Lebensaufgaben zu lösen hat. «Es geht nämlich um das Loslassen, das Annehmen, es geht um das Friedenschliessen, das Einverstandensein, um das nicht dauernd den andern, sich und das Leben Ändernwollen.»
Helga Schubert: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe, dtv, München 2023, 265 Seiten