Die ägyptische Übergangsregierung hat ein Gesetz erlassen, das Demonstrationen "regeln" soll. Es ist so formuliert, dass es der Polizei erlaubt, jederzeit Manifestationen als unzulässig zu erklären. Zuwiderhandlungen können unter schwere Strafen gestellt werden. Einem solchen Gesetz kommt grosse Bedeutung zu. Die riesigen Demonstrationen waren bisher das wichtigste und wirksamste Mittel, mit dem die Ägypter ihre politischen Wünsche äussern und teilweise auch verwirklichen konnten.
Am Anfang zumindest. Denn nach dem Sturz des Mubarak-Regimes wurde es immer schwieriger, die politischen Forderungen der Demonstranten durchzusetzen und ihre Ideale zu verwirklichen. Trotz schwerer Rückschläge: Massendemonstrationen blieben das wichtigste Instrument, mit dem die ägyptische revolutionäre Jugend hoffte, die politische und wirtschaftliche Lage entscheidend verbessern zu können. Den jugendlichen Demonstranten hatten sich – zumindest am Anfang – grosse Teile des ägyptischen Volkes angeschlossen.
Politisches Todesurteil
Das neue Demonstrationsgesetzt bedeutet für die Aktivisten der Revolution ein politisches Todesurteil. Aus diesem Grund sind die Revolutionsgruppen und die Anhänger des „Dritten Weges“ sofort gegen das neue Gesetz aufbegehrt. In diesem „Dritten Weg“ vereinigen sich Personen und Gruppen, die sich sowohl gegen die Herrschaft der Muslimbrüder als auch gegen jene der Armee aussprechen.
Das Gesetz schreibt vor, dass alle Demonstrationen drei Tage zuvor bei der Polizei angemeldet werden müssen. Das Innenministerium kann sie dann verbieten, wenn „Ruhe und Sicherheit“ es verlangen. Das Ministerium kann auch vorschreiben, wo und wann die Demonstrationen stattfinden sollen.
Wer ohne Bewilligung demonstriert, muss mit Gefängnisstrafen bis zu sieben Jahren und mit
Geldbussen bis zu 300‘000 ägyptischen Pfund (ca.35‘000 Franken) rechnen. Für "Aufhetzung" zu illegalen Demonstrationen sind Gefängnisstrafen bis zu 17 Jahren vorgesehen.
Rückkehr zur Mubarak-Praxis
Die Anführer des „Dritten Weges" wehren sich auch dagegen, dass künftig wieder zivile Bürger „aus Sicherheitsgründen“ von Militärgerichten verurteilt werden können. Dies war nach dem Sturz Mubaraks abgeschafft worden. Die neue Verfassung sieht eine Rückkehr zur alten Praxis vor.
Am 26. November hatte die ägyptische Polizei das neue Demonstrationsgesetz zum ersten Mal „erprobt“. Sie gab den Demonstranten zwei Minuten Zeit, um zu verschwinden. Dann ging sie mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Manifestanten vor. 70 Personen wurden festgenommen und verprügelt. Unter den Festgesetzten befanden sich auch 26 Frauen. Sie wurden in Minibusse verladen und auf einer Ausfallstrasse zwischen Kairo und Helwan, ausserhalb der Stadt, abgesetzt. Zuvor sind sie nach eigenen Angaben geschlagen worden.
Die Männer wurden in Gefängnisse geworfen. 24 von ihnen wurden zuerst wegen "Waffentragens" angeklagt. Dies würde harte Strafen bedeuten. Später lautete die Anklage, sie hätten den Verkehr behindert und die Polizei angegriffen. Ihre Verteidiger weigerten sich, beim Prozess anwesend zu sein. Sie verlangen, dass zunächst eine amtliche Stelle die Verletzungen und Verwundungen der Demonstranten registrieren sollten. Laut Ansicht der Verteidigung sind die Festgenommenen gefoltert worden.
Verhaftet und geschlagen
Zwei Tage später erliess ein Gericht Haftbefehlt gegen zwei der bekanntesten Revolutionsaktivisten, Alaa Abdul Fattah und Ahmed Maher, beide Gründer der Bewegung vom 6. April. Sie werden beschuldigt, die Bevölkerung aufgehetzt und Unruhe gestiftet zu haben.
Die beiden Aktivisten erklärten, sie würden sich an diesem Samstag, 30. November, dem zuständigen Richter freiwillig stellen. Dennoch wurde Alaa Abdel Fattah gegen 10 Uhr nachts am Donnerstag in seiner Wohnung verhaftet. Seine Frau berichtete, ihr Mann habe sie geweckt und ihr gesagt, die Polizei sei da. Sofort darauf hätten etwa 20 Mann die Wohnungstüre aufgebrochen. Sie hätten schwere Waffen getragen und einige seien maskiert gewesen.
Maher Abdel Fattah habe sie nach ihrem Verhaftungs- und Durchsuchungsbefehl gefragt. Daraufhin sei er verprügelt worden. Auch sie sei ins Gesicht geschlagen worden. Dann hätten die Polizisten die Mobiltelefone und die Computer konfisziert. Ihr zweijähriger Junge habe während der ganzen Aktion geschlafen. Abdel Fattah sei dann abgeführt worden. Nachbarn hätten gesehen, wie sich ein
Polizist in dem Polizeiwagen auf ihn gesetzt habe. Dies gilt als eine Methode "zur Beruhigung von Verhafteten".
Zunächst wusste man nicht, wohin der Aktivist transportiert worden war. Doch seine Anwälte fanden zwei Stunden später heraus, dass er in der Kaserne der Zentralen Sicherheitskräfte festgehalten wird. Diese liegt an der Wüstenstrasse zwischen Kairo und Alexandria.
15-jährige „Terroristin“
Zur gleichen Zeit wurden 21 junge Frauen zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Sie hatten vor einem Monat in Alexandria frühmorgens für die Sache der Muslimbrüder demonstriert. Sie nannten sich die „Sieben-Uhr-morgens-Bewegung“. Sieben von ihnen sind unter 18 Jahre alt. Sie sollen ihre Strafe in einem Jugendgefängnis absitzen. Von einer 15-Jährigen sagten ihre Eltern, sie habe gar nicht demonstriert, sondern sei auf dem Schulweg gewesen. In ihrem Fall lautete die Anklage auf Zugehörigkeit zu einer
Terroristenbande, Störung des Verkehrs, Sabotage und Gewaltanwendung.
Gleichzeitig wurden sieben Verantwortliche der Muslimbruderschaft zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie die Mädchen zu den Demonstrationen aufgehetzt hätten.
Weiter wurde die Anklage von 17 Geistlichen bekannt, die beschuldigt wurden, in ihren Moscheen und Predigten Unruhe gegen Polizei und Armee geschürt zu haben.
"Juristische Methoden"
Die Anhänger des "Dritten Weges" sind überzeugt, dass Ägypten jetzt mit „juristischen Methoden“ in die Zeit des Mubarak-Regimes zurückgeführt werden soll. Der provisorische Staatschef Ägyptens ist Adly Mansour, der frühere Vorsitzende des Obersten Verfassungsgerichtes, das mehrmals bitter mit dem abgesetzten Präsidenten zusammengestossen war.
Die neue Entwicklung in Richtung Mubarak-Staat hat dazu geführt, dass zehn der 50 Mitglieder des Verfassungsrates den Rat verliessen. Dieser Rat soll die neue Verfassung ausarbeiten, über die im Dezember eine Volksabstimmung stattfinden soll.
Die zehn Ratsmitglieder, die zurücktraten, kehrten jedoch in den Rat zurück, nachdem der Ministerpräsident ihnen versprochen hatte, das neue Versammlungsgesetz würde einer Revision unterzogen.
Uneinige Regierung
Ob dies wirklich geschieht, ist unklar. Ein Regierungssprecher erklärte gegenüber dem Fernsehen, der Regierung sei das neue Gesetz wichtig und sie wolle daran festhalten.
Doch offenbar ist man sich innerhalb der Regierung uneins über das neue Demonstrationsgesetz. Der Widerstand komme, wie verlautet, vor allem von Vizepräsident Ziad Bahaa ed-Din, der auch als Planungsminister und Minister für Internationale Zusammenarbeit dient. Er gehört zur
Sozialdemokratischen Partei Ägyptens, war Mitglied des aufgelösten Parlamentes von 2012. Er gehört zu den Politikern, die in die Übergangsregierung aufgenommen wurden, um ihr eine volksfreundliche Fassade zu verschaffen. Al-Baradei, der im August zurücktrat, gehörte in die gleiche Kategorie.
Samthandschuh über der eisernen Faust
Von der Verfassung heisst es, sie sei beinahe fertig ausgearbeitet. Doch offenbar findet ein Ringen um die Präambel statt. Da geht es um die Frage, ob die Scharia als Bestandteil des Staates in dieser Präambel erwähnt werden soll. Einige der 50 Mitglieder der Verfassungskommission haben erklärt, es sei beschlossen, dass Ägypten als ein "ziviler" Staat definiert werde, ohne den Begriff Scharia zu
verwenden. Dagegen leistet jedoch die salafistische "Nour"-Partei Widerstand. Sie ist mit einem einzigen Mitglied im 50-köpfigen Rat vertreten. "Nour" war die einzige islamistische Partei, die der Absetzung Mursis zugestimmt hatte. Auch sie dient den Militärs dazu, die eiserne Faust des Regimes mit einem Samthandschuh zu überziehen.
Keine Abstriche in Sicht
Andere umstrittene Teile des neuen Verfassungsprojektes betreffen die Vormachtstellung und die Privilegien des Militärs. Die neue Verfassung kommt der Armee offenbar noch weiter entgegen, als es die nun annullierte, von Mursi vorgesehene Verfassung tat. Vor allem geht es darum, wie weit Militärgerichte Zivilpersonen den Prozess machen können.
Es ist eher unwahrscheinlich, dass bei dieser empfindlichen Frage noch in letzter Stunde Abstriche zuungunsten der Armee gemacht werden. Noch unwahrscheinlicher ist, dass das neue Demonstrationsgesetz noch ernsthaft revidiert wird.