Mit einem grossen Sprung in neue Sphären tritt Sidi Larbi Cherkaoui, ein Superstar der internationalen Tanz-Szene, in Genf seinen Posten als Ballett-Chef an.
Männer in Röcken, Frauen in Hosen machen ihre Übungen. Rumpfbeugen, Spagat, Sprünge, Drehungen … alles sieht so locker aus, so leicht und es ist ganz still dabei. Wie von selbst bilden sich zwei Paare aus dem Ensemble, umarmen sich, das «corps de ballet»bewegt sich rhythmisch darum herum, nimmt den Mann in seine Mitte, die Frau steht reglos daneben und beobachtet das Geschehen.
Minimalistische Musik im Hintergrund, rhythmisch, auf wenige Töne reduziert. Hypnotisierend.
Die Szene spielt sich ab in einem Probenraum des Grand Théâtre in Genf. Ein paar Strassen vom Theater entfernt, in einer nüchternen Halle. Die Sonne steht tief um diese Jahreszeit. Die letzten fahlen Sonnenstrahlen des Nachmittags fallen durch die hochliegenden Fenster auf die Tanzenden, die nun lange Schatten auf den Boden werfen und im Gegenlicht fast nur in Umrissen zu sehen sind.
Was hier in den vergangenen Wochen entstand, nennt sich «Ukiyo-e». Das ist japanisch und heisst auf Französisch «Mondes flottands» und auf Deutsch «Schwebende Welten». Es ist eine Tanz-Uraufführung und der Einstieg von Sidi Larbi Cherkaoui als neuer Chef des Genfer Balletts. Ein Star der zeitgenössischen internationalen Tanzszene.
Schwerelos wie Vogelschwärme
Ganz ruhig und fast unscheinbar sitzt Sidi Larbi Cherkaoui am Tisch. Kariertes Holzfällerhemd, Dächlikappe, vor sich einen Computer. «Sehen sie, wie die Bewegungen sich entwickeln», sagt er und zeigt Aufnahmen dieser Choreographie. «Auch Bühnenelemente, wie hier die verschiedenen Treppen, bewegen sich mit den Tänzerinnen und Tänzern». Genau! So machen sie es jetzt auch in der Probe. Gruppenbewegungen die sich formen und auflösen, schwerelos wie Vogelschwärme am Himmel oder Fischschwärme in den Tiefen des Meeres.
Unterbruch. Larbi Charkaoui erklärt zwei Tänzern eine komplizierte Dreh-Schraub-Bewegung. Die Schwerkraft scheint aufgehoben zu sein, nach ein paar Versuchen sieht es so luftig, fast ätherisch aus. «One two three … one two three …» Mit leiser Stimme gibt Cherkaoui den Takt an für die Tänzer, die sich so geschmeidig verdrehen. Ein Cello spielt dazu, der Klang ist dunkel, tief, melancholisch und verloren. Beim Zuschauen und Zuhören hebt man automatisch selbst mit ab in diese «schwebenden Welten», in den Sog des Mysteriösen.
Von fernöstlicher Kultur beeinflusst
Diese Magie war es wohl auch, die Aviel Cahn fasziniert hat, als er Sidi Larbi Cherkaui vor ein paar Jahren in Belgien kennengelernt hat. Cahn war damals Intendant der Oper in Antwerpen. «Cherkaoui ist ein Künstler, der über die Sparten hinweg sehr vielseitig ist», sagt Cahn. «Er ist ein meditierend denkender, politischer Mensch. Und er ist stark von der fernöstlichen Kultur beeinflusst. Das Japanische, Buddhistische schwebt mit. Diesmal ist es schon im Titel ‘Mondes flottands’, aber es ist auch sonst ein Markenzeichen von ihm. Live-Musik ist bei ihm sehr wichtig. Diesmal ist es eine Kombination aus einem Kammermusik-Ensemble und japanischer Musik, die auf der Bühne gespielt wird.»
Damals in Belgien wollte Aviel Cahn Larbi Cherkaoui davon überzeugen, eine Oper zu inszenieren. «Das hat aber aus dem einen oder anderen Grund damals nicht geklappt, auch weil er zu dieser Zeit mehr an Brüssel gebunden war, wo er vor allem im Theater «La Monnaie» als Choreograph tätig war. Wir sind dann später wieder in Kontakt gekommen als es darum ging, eine neue Direktion für das Ballett in Flandern zu bekommen. Larbi sagte zu, das Ballett wurde mit der Oper Antwerpen fusioniert und unsere Zusammenarbeit hat in diesen Jahren interessante Früchte getragen.
Und Cherkaoui hat angefangen Opern zu Inszenieren. Eine davon war ‘Satyagraha’ mit der Musik von Philip Glass. Eine Produktion, die später auch in Basel gezeigt wurde. Oder ‘Pelléas et Mélisande’, was er in Antwerpen mit der Performance-Künstlerin Marina Abramovic gemacht hat. Während der Corona-Zeit haben wir das auch in Genf gezeigt. Leider ohne Publikum, nur gestreamt …»
Verschiedene Elemente aus diversen Kulturen
Obwohl er sich immer gern als Flame bezeichnet, hat Sidi Larbi Cherkaoui – wie sein Name vermuten lässt – einen multikulturelleren Hintergrund. Als Sohn eines Marokkaners und einer Flämin wurde er in Antwerpen geboren. Tanzfilme und insbesondere auch Michael Jackson faszinierten ihn. Das wollte er auch machen! Dies, obwohl die Eltern nicht gerade begeistert waren vom Berufswunsch des Sohnes, den sie als brotlos ansahen.
Doch Larbi Cherkaoui setzte sich durch, lernte klassisches Ballett, Flamenco, Hip-Hop und Breakdance. «Das unterscheidet ihn auch von anderen Choreographen, dass er verschiedene Elemente aus diversen Kulturen zusammenführt, also von Hip-Hop bis zu rituellen Tänzen aus dem fernen Osten», sagt Aviel Cahn. «Ich glaube auch, dass Metaphysisch-Esoterisches bei ihm mitspielt, was auch ein breiteres Publikum anspricht. Es ist nicht so verkopft, wie manches deutsche Tanztheater.»
Und nun ist Sidi Larbi Cherkaoui Tanz-Chef am Grand Théâtre in Genf. So wie Aviel Cahn den Opern-Betrieb in Genf aufgefrischt hat, wird es beim Tanz weitergehen. Vor allem soll das Ballett in Genf auch präsenter werden. «In den letzten Jahren war es mehr auf Tournee als auf der Bühne des Grand Théâtre», sagt Aviel Cahn. «Wir haben Projekte in Zusammenarbeit mit der Usine, das ist ein alternatives Kulturzentrum, ähnlich wie die Rote Fabrik in Zürich, ebenso mit dem Musée d’Art et d’Histoire und es ist eine Zusammenarbeit mit der Off-Szene angedacht.»
«Schwanensee» & Co kann man da wohl ganz vergessen in Genf? «Das ist tatsächlich nicht mehr so auf meinem Plan», sagt Aviel Cahn. «Aber mit 22 Tänzern und Tänzerinnen muss man auch keinen ‘Schwanensee’ machen wollen. Dafür haben wir einfach nicht die passende Compagnie. Wir hatten aber im letzten Jahr mit ‘Nussknacker’ und ‘Tristan und Isolde’ zwei klassische Erzähltanzabende, die gut gelaufen sind. Aber sie waren so ziemlich das Gegenteil von dem, was Cherkaoui jetzt machen wird. Gerade auch in der Zusammenarbeit mit dem Schweizer Künstler Ugo Rondinone im Frühling. Jetzt sind wir sehr gespannt auf den Neuanfang.»
Grand Théâtre Genève, «Mondes flottands»
www.gtg.ch