Der Bundesrat befasst sich gegenwärtig mit der sogenannten Halbierungsinitiative, die der SRG die Mittel drastisch kürzen will. Ein starkes, unabhängiges öffentlich-rechtliches Radio und Fernsehen ist für die Schweiz jedoch wichtig.
Es ist ein Dokumentarfilm, der nicht nur die Betroffenen aufwühlt, sondern weite Teile der Öffentlichkeit. Und der Konsequenzen hat. Im September strahlt das Schweizer Fernsehen eine Recherche von Eveline Falk aus, die sich mit den Zuständen an einer evangelikalen Schule in Kaltbrunn (SG) befasst, mit welcher der Ex-Chocolatier Jürg Läderach eng verbunden ist. Dort sind, wie man seit einem Bericht im Jahr zuvor weiss, Schüler in den Neunzigern und frühen Nullerjahren systematisch misshandelt und vermutlich auch missbraucht worden. Was man nicht weiss – vielmehr: Was man nicht sehen will – , das sind die Spätfolgen dieser Züchtigungen, von denen nun im Dokumentarfilm einige Betroffene berichten. Obschon von Läderach mit Strafanzeigen bedroht, lassen sie sich nicht einschüchtern. In der Folge stellt die St. Galler Regierung eine Anlaufstelle zur Verfügung, bei der sich ehemalige Schülerinnen und Schüler melden können. Zudem wird überprüft, ob die Aufsicht über Privatschulen verschärft werden muss. Offen bleibt, ob der behördliche Umgang mit den seit 1999 grassierenden Vorwürfen gegen die Schule vertieft untersucht werden muss.
Hier geht es allerdings nicht um den in Kaltbrunn zutage tretenden Missbrauch im Namen eines äusserst menschenfeindlichen Christentums. Hier geht es um die Rechercheleistung. Über zwei Jahre spürt Eveline Falk dem Thema nach, sie findet Betroffene, die auch bereit sind zu reden, und lässt sich auch durch die ins Feld geschickten Anwälte nicht ins Bockshorn jagen. Unwillkürlich fragt man sich: Hätte ein privates Medienunternehmen sich einen derartigen Aufwand für eine einzige Sendung leisten wollen?
Fairness, Ausgewogenheit, Sachgerechtigkeit
Für unser Land, für unsere Gesellschaft sind solche Leistungen wichtig. Der Zufall will es, dass wenige Tage vor der Ausstrahlung der SRF-Dokumentation die Thurgauer Regierung einen Bericht veröffentlicht hat, in dem es um die Zustände an der Klinik Littenheid geht. Dort hat ein Oberarzt als Traumatherapeut seinen Patientinnen und Patienten systematisch eingeredet, es gebe eine verborgene Parallelwelt mit angeblichem rituellem Missbrauch. Ans Licht gebracht hat diese den äusserst verletzlichen Menschen manipulativ suggerierten Verschwörungserzählungen Ende 2021 ein SRF-Dokumentarfilm. Deren Ausmass «macht uns tief betroffen», erklärt die Klinik, nachdem der Bericht des Kantons veröffentlicht worden ist.
Was diese Beispiele zeigen, denen sich leicht weitere aus anderen Landesteilen beifügen lassen, ist zweierlei: Wer guten, mutigen Journalismus will, muss ihn sich auch etwas kosten lassen. Und: Obschon natürlich private Medienunternehmen mit ihren Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern einen wichtigen Part spielen, tut die Schweiz tut gut daran, sein öffentlich-rechtliches Radio und Fernsehen so auszustatten, dass es diesen wichtigen Aufgaben auch nachkommen kann. Was es für ein Land bedeutet, wenn neben privaten Medienunternehmen keine potenten öffentlich-rechtlichen Anbieter existieren, das zeigen sehr deutlich die USA. Dort verbreitet jeder Sender, was er will, und kümmert sich nicht gross um Gebote wie Fairness, Ausgewogenheit oder Sachgerechtigkeit.
Zu links? Oder doch eher: zu harmlos?
Man wird solche Verhältnisse im Auge behalten müssen, wenn es um die Initiative mit dem eingängigen Titel «200 Franken sind genug» massgeblich aus den Reihen der SVP geht, die im August eingereicht worden ist. Diese «Halbierungsinitiative» will die jährliche, von fast allen zu zahlende Gebühr von 335 Franken auf 200 Franken reduzieren, weil, wie die Initianten erklären, die Qualität der von der SRG in allen Landesteilen ausgestrahlten Programme «oft zu wünschen übrig lässt». Die Tätigkeiten der SRG sollen sich «auf den Kernauftrag der Grundversorgung beschränken», wobei «den sprachlichen Minderheiten weiterhin gleichwertige Programme wie jene des deutschsprachigen Radios und Fernsehens SRF» geboten werden sollen.
Allerdings ist 2018 eine Initiative zur völligen Abschaffung der Radio- und Fernsehgebühren mit wuchtigen 71,6 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt worden. Die SRG verfügt also durchaus über ein erhebliches Vertrauenskapital. Mindestens in der Bevölkerung, wenn auch nicht unter bürgerlichen Politikern, denen ihre Journalisten oft zu links sind. Das mag zwar im stillen Kämmerlein so sein, indes: Man merkt es nicht. Eher im Gegenteil: Die SRG-Journalisten treten freundlich, konziliant, manchmal auch ein wenig zahnlos auf. Da würde keiner oder keine frei heraus sagen: «Das glaube ich Ihnen nicht.» Da würde niemand so konfrontativ, aber ergiebig auftreten wie der leider aus dem öffentlich-rechtlichen Programm gekippte Roger Schawinski.
Braucht es den Sport? Oder die Unterhaltung?
Das heisst: Man muss dem Schweizer Radio und Fernsehen nicht die angeblich rote (oder vielleicht auch grüne) Farbe ankreiden, sondern eher eine gewisse Blässe konstatieren. Wobei man ihre Programme auch nicht nach dem Muster der Politiker aufs Politische reduzieren darf. Auch die Wirtschaft, auch die Kultur, auch die Lebensrealitäten unterschiedlicher Landesgegenden, Schichten oder Generationen bedürfen immer wieder der Spiegelung. Wer wir als Gesellschaft sind, das erkennen wir nur, wenn wir es auch sehen. Einmal abgesehen davon, dass wir auch dringend wissen müssen, was in der Welt geschieht, und das ist gerade ziemlich viel.
So umfasst der von der Initiative so plakativ wie unbestimmt ins Feld geführte «Grundauftrag» der SRG durchaus mit Grund das Ganze dieses zwar kleinen, aber enorm vielfältigen Landes. Nicht einmal Sport, Prominenz und Unterhaltung können da leichten Herzens ausgeklammert werden. Auch sie lassen Facetten einer Gegenwart aufscheinen, in der vielen die Orientierung mehr und mehr schwerfällt. Auch sie vermitteln, was neben Sicherheit und wirtschaftlicher Prosperität auch wichtig ist: Identität.
Wenn der Bundesrat also diskutiert, wie er mit der «Halbierungsinitiative» umgehen will, und ob – oder wie weit – er der SRG einen Sparkurs aufzwingen will, dann muss er sich der Konsequenzen sehr bewusst sein.