Sigmund Freud schrieb 1915, das tiefste Wesen des Menschen bestehe in «Triebregungen, die elementarer Natur und bei allen Menschen gleichartig» seien. Das war nicht bloss eine Meinung aus der Ecke der Psychoanalyse, sondern das ist das unvermeidliche Ergebnis der Evolution. Die sich allmählich im Gehirn entwickelnde Vernunft kann zwar zu einer vielschichtigen Zivilisation führen. Aber diese ist keine Garantie für Rückfälle in den Dschungel und den Aufstieg machtbesessener Diktatoren. Auch dafür ist der Ukraine-Krieg ein Lehrbeispiel.
Das Zusammenleben in Stammesgesellschaften wird durch Intuition und wenige uralte Traditionen gelenkt. Keine Spur von Selbstbestimmung: Das Kollektiv fordert die totale Unterordnung des Einzelnen, und als Gegenleistung wird jeder mitgetragen. Menschen ausserhalb des Stammes werden als Feinde angesehen, die Vieh stehlen und Weiden besetzen – wenn auch gelegentlich Bräute und Waren getauscht werden oder gegen gemeinsame Feinde vorgegangen wird. Ein Verhalten nicht weit über jenem der evolutionären Vorfahren des Menschen.
Vom Stammesleben zur aufkommenden Vernunft
Die Intuition, die sich im Stammesleben in Jahrtausenden entwickelt hat, ist nicht bloss Geschichte, sondern Gegenwart: Sie lenkt die Menschheit weiterhin – auch in der höchsten Ausbildung von Zivilisation. Denn einmal ist «sich ernähren, Kinder zeugen und diese ernähren» (Goethe) Voraussetzung auch «modernsten» Lebens. Und dann waren die paar Millionen Jahre seit der Abzweigung der Evolution zum Menschen von jener der andern Primaten zu kurz für genetische Veränderungen des Gehirns, sodass sich nur Gehirnvolumen und -leistungsfähigkeit epigenetisch fortentwickelten, nicht aber «elementare Triebregungen».
Die Rolle der Vernunft, die sich im leistungsfähigeren Gehirn allmählich einnistete, lag in der Unterstützung der Intuition, das unmittelbare Überleben zu sichern und die Überlebenstüchtigkeit, die «Fitness», zu fördern – nicht in schöngeistigen Hervorbringungen. Erst wenn das Überleben als einigermassen gesichert erscheint, stellen sich Fragen darüber hinaus. Animismus, Mythen und Religionen wuchsen wohl früh heran, doch erst allmählich begann sich Wissenschaft zu regen als die Befragung der Natur, die man gern verstünde.
Die Fitness erhielt einen grandiosen Schub und es gelang der Menschheit, sich die Erde untertan zu machen (wenn, wie es heute scheint, vielleicht bloss vorläufig). Doch hat diese Fitness einen ebenso grandiosen Preis: Die Vernunft kann sich Bedrohungen ausdenken und entwickelt Furcht. Sie kann sich vorstellen, was sein sollte und nicht ist, und leitet daraus Sorge und Leid ab. Und wenn sie eine Problemlösung ausgedacht hat, fordert deren Verwirklichung Arbeit, Vorleistung, Verzicht – ohne Gewissheit des Erfolgs. Aus dieser Spannung entlassen sei nur, wer nie geboren wurde, berichtete Herodot von den Ansichten der alten Griechen.
Nicht nur steht die Vernunft im Auftrag der Intuition, sondern es stellt sich Glücksempfindung nur ein, wenn die «elementaren Triebregungen» zufriedengestellt sind. Sie können sich in einer vielschichtigen Zivilisation in vielem ausleben, was nicht nach Natur aussieht wie Gedichteschreiben oder Kunstsammeln. Doch dem Drängen seiner innersten Natur kann sich kein Mensch entziehen. Was er aber kann und muss, wenn es zu seinem Glück führen soll, es in gesellschaftsverträgliche Kanäle lenken. Eine Aufgabe, die nie ganz gelingt.
Persönlichkeit und «elementare Natur»
Der freie Wille kann seinen Freiraum nicht erfinden, nur ausschöpfen. Er drängt das Individuum, aus seinen Anlagen, Leistungen, Beziehungen, Überzeugungen die Persönlichkeit zu formen, den grossen unveräusserlichen Besitz. Auch dieses Ansinnen erfordert Vorleistung, Verzicht, Übung in Selbstbeherrschung und was immer. Abkürzungen gibt es keine. Hilfreich ist, wenn Vorbilder den reichen Nutzen vorleben, den ein Verzicht jetzt im späteren Leben bringt.
Nun scheint die Firnisfrage durch: Hat das Individuum die Kraft zum Verzicht? Widersteht es Versuchungen wie Jesus in der Wüste? Wann greift es zur Notlüge, wie Brecht Galileo Galilei unterstellte («und sie dreht sich doch»)? Ist es höflich aus Furcht oder Respekt? Kurzum: Ein wie dünner Firnis ist seine Persönlichkeit über seiner «elementaren Natur»?
Triebregungen und Kompromissfähigkeit
Für Kollektive von Menschen ist die Frage noch um Grössenordnungen verwickelter. «Die Menschheit macht nur, was sie muss», meinte Friedrich Dürrenmatt. Also globaler Dschungel, wie gegenwärtig manifest in Kriegen vom Jemen bis zur Ukraine – und wir schauen lieber nicht auch noch hundert Jahre zurück.
Warum erwarten wir unter Völkern Besseres als Dschungel? Wegen der täglichen Erfahrung, dass der freie Wille vor allem die Flexibilität bietet, sich mit andern Menschen abzusprechen, die eigenen «Triebregungen» zurückzustellen und sich Kompromissen zu unterziehen. Das können selbst die höchst entwickelten Tiere nicht – dort wird im Kampf entschieden.
Zivilisation ist alle Organisation über der Stammesgesellschaft, und deren triviales, wenn auch erst durch Thomas Hobbes klar ausgesprochenes Ziel ist die Verminderung des Kampfes aller gegen alle durch Absprache. Diese wird in der Verfassung des Rechtsstaates festgeschrieben und die Mitsprache der Bürger in der Demokratie. Absprache setzt Zuhören, Kompromiss und Durchhalten in Treu und Glauben voraus, also Charaktereigenschaften, die zur Erfüllung eines individuellen Lebens und ebenso für Frieden in der Völkergemeinschaft unerlässlich sind.
Wie sich Diktatoren etablieren
Doch die herrlichste Ordnung kann kippen, wenn sich ein Häuptling zum Diktator überhebt. Wie nur kommt einer in unserer halbwegs aufgeklärten Gegenwart dazu – er braucht ja die Gesellschaft hinter sich? Erst einmal muss er deren reales Unbehagen wie Armut oder Ungerechtigkeit oder Hass erkennen und ansprechen. Dann muss er einen Sündenbock auftreiben, der am Ungemach hauptsächlich schuld ist, ein paar Kunststücke wie die Annexion der Krim aufführen, allen tatsächlichen und vermeintlichen Widerspruch eliminieren, ein hehres Vaterlandsziel beschwören – und los geht’s. Einerlei, ob der Feind eine Klasse sei, eine Ethnie, eine Religion, eine Lebensweise oder eben das Nachbarvolk. Die Anatomie der Diktatur ist stets gleich, und Beispiele gibt es zu unserem Überdruss im Überfluss.
Die Fehlentwicklung entspringt jedoch nicht nur der Pathologie des Diktators. Er kann sogar demütig seine Rolle als Staatschef antreten, wird jedoch bald von Schmeichlern eingeseift und hält sich für unfehlbar, beginnt Widerspruch als inkompetent abzutun und ist zuletzt nur noch von Leuten umgeben, die ihn in jedem Wahn noch anfeuern. Überdies kann er bei geeignetem Charisma Mehrheiten der Bevölkerung zu Begeisterungstürmen hinreissen.
Ob der Mensch gut oder böse sei, ist falsch gefragt. Das menschliche Gemüt kann im Aufwachsen schief gewickelt werden. Putin hat – und mit ihm die Mehrheit der Russen – Jahrhunderte währende autoritäre Verhältnisse verinnerlicht. Angestachelt durch den Bedeutungsverlust Russlands nach dem Kollaps der Sowjetunion will nun das verletzte Gemüt militärisch verlorene Weltmacht zurückerobern – während China die nachhaltigere Route gewählt hat: Wohlstand aufzubauen, aus dem sich Weltmacht ergeben wird.
Ohne Einordnungsbereitschaft keine Demokratie
Einschränkungen des Bürgers in der Demokratie, Vorschriften von Grenzabstand bis Lärmemission kommen ihm zugute, wenn sich alle daran halten. Seine Verzichte sind klein im Verhältnis zum Nutzen, am augenfälligsten bei den Verkehrsregeln. Im zweiten Weltkrieg wurde die Schweiz halbwegs zur Diktatur mit Kartoffelanbau um jede Villa herum, endlosem Militärdienst, Rationierungen und dem Verbot, Brot frisch zu verkaufen. Doch wurden die Verzichte akzeptiert, weil deren existenzieller Zweck augenfällig war.
In Friedenszeiten hingegen begehren viele Menschen routinemässig auf, allein wenn Regeln verschärft werden – wie wurde nicht bei der Einführung des «Gurtenobligatoriums» im Auto über Freiheitsentzug gejammert oder jüngst bei Corona-Massnahmen. Der Eindruck entstand, der Selbstwert vieler bestehe nur noch darin, sich vom Bundesrat nichts vorschreiben zu lassen. Gleichempfindende finden über Internet-Plattformen leicht zusammen und bilden unversöhnliche Blöcke. Parteien können nicht mehr in Diskurse treten, wenn sich bei ihren Mitgliedern Verschwörungstheorien mit der Dringlichkeit von Überlebensreflexen eingraviert haben.
Wenn Demokratie-Beschädigung rund um den Globus beklagt wird, schimmert stets die Grundannahme durch, Demokratie sei naturgegeben. Sie werde zwar gegenwärtig von diesen oder jenen Schiefgewickelten unterlaufen, aber umgehend auferstehen, wenn diese verschwunden seien. Nur sind die meisten davon demokratisch abgestützt, und es liegt eine grundlegendere Bedrohung vor: der Verlust von Einordnungsbereitschaft und Bürgertugenden. Der Überbau «Demokratie» erweist sich im Westen als fragiler als gedacht und in Entwicklungsländern meist als Farce.
Kants Diktum zur Religion
Solang Glaubensbekenntnisse als absolute Wahrheiten gepredigt werden, können Religionen nichts zu Toleranz und damit Frieden in der Welt beitragen. Sie müssten sie als eine Untermenge von Religiosität verstehen und sich zum Diktum Kants bekennen: «Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben.» Lauteren Herzens riet der Dalai Lama, jeder soll den Glauben wählen, der zu ihm passt. Wo hingegen beansprucht wird, die einzig gültige Art von Abendmahl zu zelebrieren, dort hat sich eigentliche Religiosität verabschiedet.
Nicht Jesus hat zuerst «liebe deinen Nächsten wie dich selbst» gepredigt, sondern Moses (3. Mose 18,19). Allerdings mit radikalem Unterschied: Moses meinte seinen Stamm – Jesus die Menschheit. Und doch vergingen nach ihm keine 400 Jahre, so überwucherte Stammesmentalität die christliche Kirche. Was ist denn unwiderlegbar gültig? Dass jeder Mensch ein Zweck in sich ist, woraus sich von Menschenrechten bis zur Emanzipation der Frau alles Wesentliche ableiten lässt – mithin das meiste, was Jesus gesagt hat.
«The hill we climb»
Eine robuste Zivilisation entsteht nicht durch politische Genieschwünge, sondern durch Aufklärung und Förderung der Vernunft. Mit der Mündigkeit des Bürgers muss beginnen, was leuchten soll in jedem Land. Mündigkeit aber stellt sich nur bei Selbst- und Mitbestimmung ein. Mitbestimmung fördert Verantwortungsbereitschaft – Gehorsam fördert Diktatur. Tugend und Zivilcourage erkennen und blockieren Diktatur in ihren Anfängen. Glaubensbekenntnisse, die sich nicht als Untermengen von Religiosität verstehen, fördern Intoleranz und diese Kriegsbereitschaft. Der Selbstwert von Nationalisten gründet in der Vergangenheit – jener selbstbestimmter Menschen in der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Würde bloss herbeigeredeter Selbstwert durch selbstbestimmte Leistung kuriert, könnte ein Silicon Valley auch im Balkan oder im Iran zu liegen kommen.
Ja, Zivilisation ist noch ein dünner Firnis. Im Sinn von Amanda Gormans «The hill we climb» zu Joe Bidens Inauguration ist noch ein Berg zu erklimmen – ausgehend von einer Zivilisation, «that isn’t broken, but simply unfinished».