Warum die aktuellen Proteste im Iran sich von den anderen in der Vergangenheit unterscheiden und warum die Demonstrantinnen und Demonstranten «Frau, Leben, Freiheit» rufen – eine Erklärung von Fahimeh Farsaie.
«Frau, Leben, Freiheit». Mit diesem Slogan demonstrieren Menschen im Iran seit mehr als zwei Wochen: mutig, entschlossen und wütend. Frauen stehen dabei in der ersten Reihe. Der Auslöser der blutigen Proteste ist der Mord an der 22-jährigen Mahsa (Jina) Amini. Sie soll gegen ein Gesetz, das Irans Präsident Ebrahim Raissi kurz zuvor verschärft hatte, verstossen haben. Raissi hatte kürzlich ein neues Dekret unterzeichnet, das die Kleidung von Frauen im öffentlichen Raum noch stärker reglementiert. Mit diesem Gesetz hat der Präsident die Sittenpolizei zur Gewalt ermutigt; sie soll mit harter Hand gegen die Frauen vorgehen.
Performative Protestaktionen
Bereits seit der iranischen Revolution von 1979 ist es für Frauen im Iran Pflicht, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen. Schon damals gingen Frauen gegen das Verschleierungsgesetz auf die Strasse. Der erfolglose Protest und die fehlende öffentliche Unterstützung zwangen sie schliesslich, sich dieser Vorschrift zu unterwerfen, deren Aufsicht später einer Institution namens «Gashte Ershad» anvertraut wurde. Seitdem kämpfen die Iranerinnen gegen das Gesetz, in dem sie besonders in Grossstädten ihr Kopftuch auf legere Weise tragen.
Seit Juli dieses Jahres hatten Aktivistinnen immer wieder gegen die Verschleierungspflicht demonstriert. So hatte der «Tag des Hijab und der Keuschheit» am 12. Juli landesweit Proteste ausgelöst. Schon zuvor war eine neue Frauenbewegung entstanden, die sich «Töchter der Revolutionsstraße» nannte. Das waren junge Frauen, die ihre Kopftücher an Ästen aufhingen, protestierend auf Stromkästen stiegen und dort solange stehen blieben, bis die Polizei sie festnahm. Für diese performativen Protestaktionen sind mittlerweile Haftstrafen zwischen zwei und zehn Jahren vorgesehen.
40-jähriger Kampf
Frauenproteste beschränken sich aber nicht auf geschlechtsspezifische Bereiche. In allen Protestbewegungen der vergangenen 40 Jahre im Iran haben Frauen eine entscheidende Rolle gespielt: sowohl während der Grünen Bewegung als auch während der Proteste gegen steigende Benzinpreise im November 2019, die brutal niedergeschlagen wurden. Denn der Gottesstaat hat immer noch Macht und Waffen, zudem viele Anhänger sowie eine skrupellose Polizei. Gleichzeitig wächst allerdings die Zahl der Zornigen und Andersdenkenden, weil die Wirtschaft auf Talfahrt ist, die Löhne sinken und die Preise steigen. Die Mullahs haben dem Volk nur Terror und Gewalt anzubieten.
Der Tod Mahsa Aminis ist das jüngste und eklatanteste Beispiel dafür, dass sich die Geschichte der Islamischen Republik in ein Davor und ein Danach teilt. Die Proteste unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von den Ereignissen der vergangenen Jahre. Vor allem, weil der Auslöser diesmal der Mord an einer Kurdin, einer Frau und einer Säkularen ist. Darin manifestiert sich die Überschneidung von Patriarchat und Geschlechterdiskriminierung, ethnischer Diskriminierung und religiöser Tyrannei. Deshalb rufen die Demonstrantinnen und Demonstranten: «Frau, Leben, Freiheit».
Kollektives Bewusstsein
Die Präsenz von Frauen zeigt sich aber nicht nur in den Parolen, sondern auch in der Führung der Proteste und in der Gesamtgesellschaft. Denn Frauen machen nicht nur mehr als die Hälfte der iranischen Gesellschaft aus, sie sind, statistisch gesehen, auch die grösste unterdrückte Gruppe. Als Hauptopfer der antifeministischen und diskriminierenden Ideologie des Systems nehmen sie heute eine Vermittlerrolle für die Forderungen verschiedener Gruppen ein, von Jugendlichen und Studentinnen und Studenten über niedergehaltene ethnische Gruppen, Arbeiter und Lehrerinnen und Lehrer bis zu anderen Gruppierungen, die geprägt von einem kollektiven Bewusstsein auf die Strasse gingen. Auch die Tatsache, dass Frauen in anderen sozialen Bewegungen massiv präsent waren, kann sie zum Bindeglied dieser verschiedenen Bewegungen machen. Mit der Feminisierung von Slogans und Forderungen bei den Demonstrationen wird die weibliche Rolle zunehmend einflussreicher.
Feministischer Effekt
Dies hat ebenfalls grosse Auswirkung auf die Präsenz von Männern bei Protesten. Während wir in der Vergangenheit beispielsweise mit der Gleichgültigkeit der Männer gegenüber den Forderungen der Frauen konfrontiert waren, sehen wir heute, dass sie sich Frauen anschliessen und das Ende der Demütigung des anderen Geschlechts verlangen. Zum ersten Mal werden wir Zeugen der Bildung einer landesweiten Bewegung, bei der nicht populistische Parolen hegemonialer und religiöser Männlichkeit (wie «Ya Hossein, Mir Hossein» und «Allah Akbar») reproduziert werden, sondern eben «Frau, Leben, Freiheit».
Solidarität
Auch in diesem Aufstand hat die Idee der Solidarität als gemeinsamer Wert die Sonderinteressen verschiedener Bewegungen überwunden und ist zum Motiv sozialer Proteste geworden. Das heisst, so wie in den USA – unter völlig anderen Bedingungen als im Iran – die Ermordung von George Floyd zu einer universellen antirassistischen Bewegung führte, die nicht auf Schwarze beschränkt war, führt im Iran der Mord an Mahsa Amini zu einer universellen Solidarität, die sich hoffentlich weiter ausbreiten wird: Women’s lives matter.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal