Sie campieren in der Strasse, auf Plätzen, im Park und gar auf Friedhöfen. Immer mehr Flüchtlinge erreichen die lombardische Hauptstadt. Die meisten von ihnen wollen nach Norden. Sie biwakieren rund um den Bahnhof in Como, am Strand von Ventimiglia und am Brenner. Doch dort ist Endstation. Die Schweiz, Frankreich und Österreich lassen sie nicht einreisen.
So kehren viele zurück nach Mailand. Hunderte suchen Aufnahme in den offiziellen Zentren. Doch viele bleiben im Freien hängen, wo sie von Hilfsorganisationen und Privaten betreut werden.
Solidarität
Auch in Italien ist da und dort eine Solidaritätswelle entstanden. Bürgerinnen und Bürger bringen den Gestrandeten Lebensmittel und Kleider. Zwei fünfzehnjährige Mädchen kaufen mit ihrem Taschengeld Babynahrung für ein zweijähriges Flüchtlingsmädchen aus Eritrea. Ein pensioniertes Ehepaar räumt ein Zimmer frei für eine sudanesische Flüchtlingsfrau mit ihrem Kind. Ein Priester bringt den Migranten Wolldecken.
Eine alte Frau, die kaum noch gehen kann, schleppt einen riesigen Suppentopf in die Strasse. Ein Manager parkiert sein Auto vor dem Haus und stellt in seiner Garage vier Betten für eine Flüchtlingsfamilie aus dem Sudan auf. Helfer des Roten Kreuzes sind die ganze Nacht unterwegs. Tonnen von Kleidern wurden schon gesammelt. Sogar Leute aus Altersheimen verteilen Esswaren. „Ce la faremo“, sagt ein Rotkreuzhelfer in Anlehnung an Angela Merkels: „Wir schaffen das“.
Auch der Papst demonstriert Solidarität. Am Donnerstag empfing Franziskus im Vatikan eine Gruppe syrischer Flüchtlinge, die mit Hilfe des Vatikans von der griechischen Insel Lesbos nach Rom geflogen worden waren. Doch nur wenige Migranten haben so viel Glück wie diese. Der Papst beschenkte die Kinder mit Spielsachen. Im Gegenzug erhielt Franziskus einige Zeichnungen, die die Kinder für ihn angefertigt hatten.
„Lo facciamo“?
Mailand ist als erstes bemüht, die Flüchtlinge (Migranten, Sans papiers, Illegale) von der Strasse zu holen und in Auffangzentren zu bringen. Priorität haben Frauen und Kinder. Doch in den Empfangszentren ist zu wenig Platz. Allein in der Nacht vom letzten Samstag auf Sonntag suchten 427 Flüchtlinge Zuflucht in einem Mailänder Aufnahmezentrum.
Beppe Sala, der Bürgermeister von Mailand hat nun zusammen mit dem Verteidigungsministerium in Rom entschieden, Kasernen bereitzustellen. Als erstes sollen Flüchtlinge in der Kaserne „Montello“ im Nordwesten Mailands untergebracht werden. Hunderte Asylsuchende sollen dort Platz finden. 300 Feldbetten stehen schon bereit. Die Kaserne, ein riesiger Komplex mit Dutzenden Gebäuden liegt auf einem 71'000 Quadratmeter grossen Gelände und war 1913 für die Kavallerie geöffnet worden. In zwei Monaten soll sie für die Migranten bereitstehen. Das Areal befindet sich nahe dem Corso Sempione, in einer der besseren Gegenden Mailands. Die Ankunft der Asylsuchenden stösst im Quartier nicht nur auf Begeisterung.
Mailand, eine Zeltstadt?
Bei Bedarf sollen auf dem Kasernenareal auch Zelte aufgebaut werden. Schon hagelt es Kritik. Wird jetzt Mailand, die italienische Finanz- und Wirtschaftsmetropole, eine Zeltstadt? fragt die Lega Nord. Die frühere Ministerin und Berlusconi-Frau Mariastella Gelmini lamentiert: „Armes Mailand, reduziert auf ein Flüchtlingscamp.“ Roberto Maroni von der Lega Nord kritisiert, die Regierung Renzi sei mit der Situation überfordert und „orientierungslos“.
Maroni fordert, die Regierung Renzi müsse den Notstand dekretieren. Doch die Regierung verzichte auf Notmassnahmen, weil das ein Eingeständnis ihrer Unfähigkeit wäre. In der Regierung herrsche die „totale Konfusion“, sagt Maroni.
Renzi, „ein Dummkopf“
Matteo Salvini, der unzimperliche Lega-Chef, der immer wieder mit klar rassistischen Bemerkungen auffällt, geht noch weiter. Er nennt Renzi und seinen Innenminister Angelino Alfano „Dummköpfe, die jede Gemeinde verpflichten wollen, Illegale aufzunehmen“. Roberto Calderoli, Vizepräsident des Senats, ein Lega-Mann und ebenfalls bekannt für rassistische Sprüche, sagt, Renzi und Alfano seien „überzeugt, dass ganz Afrika nach Italien transferiert werden kann.“ Die Lega hat nur ein Konzept: Illegale müssten ausgeschafft werden.
Es sind jetzt vor allem Eritreer, Somalier, Afghanen, Sudanesen, Nigerianer, Ghanesen und Ivorianer, die nach Italien kommen.
Nicht nur Mailand rüstet sich
In Bresso bei Mailand leben bereits Hunderte Sans papiers in einer kleinen Zeltstadt. Auch rund um die Kaserne Mancini sind Militärzelte aufgebaut. Sollte die Flüchtlingsinvasion andauern, könnte auch das Gelände der Weltausstellung in Mailand für Migranten bereitgestellt werden. Dies wird im Moment noch ausgeschlossen und wäre dann die letzte Lösung.
Doch nicht nur Mailand rüstet sich: Im ganzen Land werden Turnhallen bereitgestellt. Auch die Kasernen von Gasparro bei Messina auf Sizilien und Montichiari bei Brescia sollen für die Sans papiers geöffnet werden – ebenso jene in Civittavecchia nördlich von Rom, Udine und Castello d’Annone bei Asti.
Gerechtere Verteilung
Offiziell werden in Italien zurzeit knapp 150'000 Migranten beherbergt. Letztes Jahr waren es noch 104'000 und im Vorjahr (2014) 66'000. Nicht eingerechnet sind jene, die sich nicht oder noch nicht registrieren liessen. Das sind Tausende. Allein die Lombardei mit Mailand betreut fast 20'000 Flüchtlinge, das entspricht 13 Prozent aller in Italien registrierten Migranten. Keine italienische Region hat so viele Flüchtlinge aufgenommen. An zweiter Stelle folgt Sizilien. Auf der Insel werden zehn Prozent aller registrierten Flüchtling betreut, also 14'000. Fast keine Flüchtlinge aufgenommen haben die Regionen Abruzzen, Molise, Umbrien, Basilicata (mit je 2 %), Bozen und Trento (mit je 1 Prozent) und das Aostatal mit 0,2 %. Mailands Bürgermeister verlangt eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge auf das ganze Land.
Ziel wäre es, dass auf tausend Einwohner drei Immigranten aufgenommen werden. Italien hat 60 Millionen Einwohner, das wären 180'000 Flüchtlinge. Doch wenn der Trend anhält, werden es bald mehr sein. Der Bürgermeister von Prato bei Florenz spricht schon von 25 Flüchtlingen pro 1'000 Einwohnern.
Stabiler Flüchtlingsstrom
Die Zahl der Boatpeople ist in diesem Jahr mehr oder weniger stabil geblieben. Bis zum 9. August sind 100'328 Menschen übers Mittelmeer nach Italien gekommen. In der gleichen Periode des Vorjahres waren es 0,52 Prozent weniger.
Allein in der Nacht auf Mittwoch sind von der italienischen Küstenwache wieder 550 Flüchtlinge gerettet worden. Sie befanden sich auf drei kleinen Schiffen und vier Gummibooten nördlich von Libyen.
Zu Fuss nach Gondo
Fast alle Flüchtlinge wollen nur eins: Über die Schweiz und Österreich nach Deutschland, nach Frankreich, nach Grossbritannien oder in die nordischen Staaten.
Im Walliser Grenzort Gondo hinter dem Simplon-Pass hat die Schweizer Grenzwache jetzt nach italienischen Angaben elf Eritreer und Guineer festgenommen. Sie kamen zu Fuss entlang des Deveria-Flusses und wollten illegal über die Schweizer Grenze. Die Grenzwache übergab die Festgenommenen der Polizei in Domodossola.