Griechenlands Schulden und die Euro-Krise! Ein Streit über gleich drei EU-Budgets, für 2012, 2013 und den Ausgabenplan 1914 bis 2020! Europaweite Protestaktionen der Gewerkschaften gegen die Sparpolitik! Und alles zugespitzt von auseinanderlaufenden Vorstellungen der Mitgliedsländer über die Zukunft der EU. Soll ein Bundesstaat diese Probleme bewältigen oder ein Staatenbund souveräner Länder, welche ihr ihre Kompetenzen wieder wegnehmen? Der drohende Bankrott eines EU-Lands, die Aussicht, dass die EU mit leeren Kassen dasteht, der Streit ihrer Mitglieder über ihren Sinn und Zweck sowie ein Gewerkschaftsprotest in ganz Europa, diese Kumulation stellt die Brüsseler Gemeinschaft auf eine harte Probe.
Wann?
Eine Zerreissprobe ist es noch nicht, die EU wird die nächsten Wochen überleben. Eine Wirrnis von unberechenbaren Faktoren und Motivationen lässt es aber nicht mehr ausschliessen, dass es sie auf längere Sicht zerreisst. Wie dieses Zerreissen dann aussehen wird ist unmöglich vorauszusehen. Ein Crash ist unwahrscheinlich, wahrscheinlicher wenn schon ein langsames Verkümmern. Vielleicht aber auch eine friedlich vereinbarte Spaltung in eine starke EU jener Länder, für welche diese Krisen nach einem Bundesstaat rufen, und einen Binnenmarkt ohne politischen Ehrgeiz.
Die Griechenland-Tricks
Die 17 Minister der Euro-Zone haben letzten Dienstag Griechenlands Sparbeschlüssen eine gute Note gegeben, aber noch kein grünes Licht für die Überbrückungshilfe, ohne welche das Land Milliardenkredite nicht zurückzahlen kann. Sie waren am Freitag fällig, doch die Finanzminister haben sich auf Dienstag vertagt, und der Athener Minister malt den Bankrott an die Wand, wenn sie seinem Land nicht schnell etwas zustupfen. Weil neue Zuschüsse die Zustimmung von Parlamenten erfordern, droht es noch einige Wochen länger zu gehen. Um vor der Zahlungsunfähigkeit einige Tage mehr herauszuschinden hat sich Griechenland mit einer hybriden Transaktion über seine Geschäftsbanken Geld von seiner Zentralbank ausgeliehen. Das ist den Euro-Ländern verboten, aber die Partner haben schon mehrmals die Augen zugedrückt.
Ihre Tricks um den Griechen zu helfen sind ein finanzpolitischer Eiertanz in einem unbeschreiblichen Dickicht von Fakten, Beschlüssen, Versprechen, Regeln, Einschränkungen, Bedingungen und Verboten, in dem Zentralbanker und Minister agieren wie Hühner in einem Hühnerhof: die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds, die Euro-Finanzminister, die EU-Kommission, die Parlamente der Euro-Länder, im besonderen das griechische, die Abmachungen zwischen Griechenland und seinen Kreditgebern, seine Wirtschaftsstatistiken, die Zweifel an seiner Erholung und der Fähigkeit zur Rückzahlung seiner Schulden, darum eventuell tiefere Zinsen und/oder längere Laufzeiten oder zusätzliche Kredite der dazu fähigen Euro-Länder, ein neuer massiver Schuldenerlass... Die Meute von Beteiligten dürfte sich dennoch zusammenraufen. Ihre seit Monaten spürbare Angst wird sie zu einer provisorischen Lösung führen, die den Bankrott oder Euro-Austritt Griechenlands verhindert – oder hinausschiebt.
Geht das die Reichen nichts an?
Doch dasselbe Problem hat, nur kurzfristig weniger schwer, die ganze EU. Weil Staaten und Private jahrzehntelang über ihre Verhältnisse gelebt, Staatsausgaben und Budgedefizite haben wuchern lassen, müssen oder müssten auch die reicheren Länder und Privaten den Gürtel enger schnallen, inklusive Deutschland. Doch der europaweite Protest der Gewerkschaften vom Mittwoch zeigt, dass die Leute nur ihre Lohn- und Rentenkürzungen sehen und noch nicht begreifen, dass wir von dieser Schuldenwirtschaft loskommen müssen, wenn alles in ein paar Jahren nicht noch viel schlimmer kommen soll: Ganz Europa im globalen Wettbewerb nicht mehr konkurrenz- und exportfähig und von den Finanzmärkten in die Zange genommen.
Begreiflich, dass sie es nicht begreifen! Bisher haben die reicheren Schichten keinen Wank getan, um ihre Solidarität mit der ganzen Gemeinschaft zu zeigen. Sie müssten ein starkes Signal aussenden. Wenn Staatschef, Ministerpräsident, Minister, Parlamentarier und Politiker ihre Bezüge halbierten, wenn sich die Superreichen massive Steuererhöhungen gefallen liessen oder einen grossen Konjunkturfonds gründeten statt in Tiefsteuerländer zu flüchten, dann würden es die Leute begreifen und mitziehen. Unrealistisch, utopisch, naiv: so werden so radikale Ideen taxiert werden. Aber wenn nicht ein Adrenalinstoss durch die Länder geht, der sie aus dem Tiefschlaf nicht mehr haltbarer Gewohnheiten aus guten Zeiten aufweckt, werden sie mit minimen Änderungen weiterwursteln, bis es noch viel ärger kommt. Politikverdrossenheit und Demokratiekrise machen es noch schlimmer: Die Leute können ihren Frust nicht politisch nach oben melden sondern nur in Demonstrationen, die vermutlich immer gewalttätiger werden. Nur wir Schweizer haben es dank unserer direkten Demokratie besser: in der Abzocker-Initiative können wir unsere Meinung und Stimmung verbindlich ausdrücken.
Eine leere EU-Kasse?
In den EU-Institutionen haben sich die Budget-Diskussionen zwischen den Mitgliedsländern, der EU-Kommission und dem EU-Parlament in Komplikationen verheddert, die kaum noch verständlich zu machen sind. Versuchen wir es trotzdem. Die Mitgliedstaaten auferlegen der EU weit strengere Regeln als sich selber! Die EU darf sich nicht verschulden, darf keine Kredite aufnehmen wie es die Mitgliedstaaten, Regionen und Gemeinden leichtfertig tun. Zudem ist die EU weitgehend von den Zuschüssen ihrer Mitgliedsländer abhängig. Und sowohl ihre Aufgaben wie die dafür nötigen Ausgaben beschliesst nicht irgendein übergeordnetes EU-Organ – ein solches gibt es nicht -, sondern ihre zweiköpfige, der Mehrheitsdemokratie und dem Föderalismus genügende Gesetzgebungs- und Beschlussinstanz: EU-Parlament und der von den EU-Ländern bestückte Ministerrat.müssen über jedes Budget bis zum Kompromiss verhandeln. Wie National- und Ständerat.
Gegen dieses Jahresende schürzen sich nun gleich drei verschiedene Budgets zu einem gewaltigen Knäuel zusammen: Das für 2012, das für 2013 und der langfristige, siebenjährige Budgetrahmen 2014-2020. Es ist höchste Zeit, das Budget 2013 zu verabschieden, sonst hat die EU im Januar kein Geld mehr. Aber das EU-Parlament verweigert die Verhandlung darüber, solange die Mitgliedstaaten einen Zuschuss für das Budget 2012 verweigern. Der muss das Loch von 9 Milliarden € für die Durchführung der EU-Aufgaben stopfen, welche ihr die Mitgliedsländer letztes Jahr übertragen haben. Doch weil sie keine Kredite aufnehmen darf, wird die Brüsseler Kommission, wenn der Ministerrat nicht nachgibt, ein paar dieser Aufgaben schlicht streichen müssen. Zum Beispiel Erasmus, das bekannte Programm des europaweiten Studentenaustauschs, an dem auch die Schweiz teilnimmt.
Mehr oder weniger Geld für die EU?
Und dann der Streit um das Budget 2013 und den Siebenjahresrahmen: Die EU-Kommission und die traditionell EU-freundlichen Parlamentarier verlangen mit guten Gründen Erhöhungen, für 2013 um fast 7%. Verständlich, dass die Mitgliedstaaten bocken, das ist ihren Völkern, die sparen müssen, unmöglich klarzumachen. Aber sie sind gespalten: den „Nettoempfängern“ – jene, deren Einnahmen aus EU-Programmen höher sind als ihre Beiträge ans Budget, die Schulden- und die meisten Oststaaten – sind höhere EU-Ausgaben noch so recht. Von den „Nettozahlern“ wären die Deutschen für geringe Erhöhungen noch zu haben, Englands Premier Cameron ist jedoch vehement dagegen und verlangt drastische Kürzungen bis 2020, natürlich auch weil er die EU überhaupt schwächen will. Wie sich die EU-Kommission, die EU-Parlamentarier, die 17 Euro-, die 27 EU-Finanzminister und die nächste Woche zur Debatte über den Siebenjahresrahmen zusammengerufenen Regierungschefs aus diesem Knäuel herauswinden ist schleierhaft.
Die EU weiss nicht mehr was sie will
Solche Quengeleien gab es auch früher oft, aber diesmal sind über ihnen plötzlich die seit einiger Zeit schwelenden Grunddifferenzen über Sinn und Zweck der EU überhaupt aufgebrochen. Die EU weiss nicht mehr was sie will. Ihre Methode, sich nur in begrenzten Schritten ohne verbindliches Endziel weiterzuentwickeln, hat die europäische Integration seit 1952 zu spektakuären Erfolgen geführt, vom kleinen Markt für Kohle und Stahl zum Binnenmarkt und von 6 auf 27 Mitgliedstaaten. Aber nach sechzig Jahren scheint dieser Methode die Luft auszugehen. Von der Krise bedrängt können die EU-Länder der bisher peinlich vermiedenen Frage, ob sie sie stärken oder schwächen sollen, nicht mehr ausweichen. Die Differenzen sind enorm.
Grossbritannien glaubt nur an die Nationalstaaten, zwar hat es seine Vorbehalte lange Zeit dem Vorteil des Mitbestimmens in Europa hintangestellt, doch jetzt will eine grosse Anti-Stimmung die EU auf einen Binnenmarkt ohne politische Ambitionen reduzieren und eventuell sogar aus ihr austreten. Eurokrisen-Experten fordern eine Finanzregierung mit Aufsicht über die nationalen Budgets. Weiter blickende Kommentatoren meinen, auf dem Finanzsektor allein könne eine EU-Regierung nicht funktionieren, Sachzusammenhang und Demokratie forderten eine Regierung für alle relevanten Politiken, zum Beispiel auch Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Da ist der „Bundesstaat EU“ nicht mehr weit. Die Aussenminister von elf grossen und kleinen EU-Ländern, die „Westerwelle-Gruppe“, haben sich vor einigen Wochen zu kräftigen Schritten in dieser Richtung bekannt.
Ja, wird sich die EU spalten?
Wenn so grundsätzliche Divergenzen aktuelle Budgetfragen infizieren, wird die EU nur noch zu minimen, improvisierten und windschiefen Lösungen fähig sein. So wird sie nicht mehr lange weitermachen können. Sie wird ihr Endziel präzisieren müssen: Politischer Bundesstaat oder wirtschaftlicher Staatenbund? Dann weiss jeder Mitgliedstaat, wohin ihn seine Mitgliedschaft letztlich führen wird, und dann muss er sich entscheiden. Wahrscheinlich wird sich die EU in Mitgliedstaaten spalten müssen, die das wollen, und die anderen.