Dr. Marc Fehlmann kam 2012 als Direktor ans Winterthurer Museum Oskar Reinhart, das gerade mit einem Gönnerbeitrag vor dem Bankrott hatte gerettet werden müssen. Fehlmann steigerte die Besucherzahlen mit attraktiven Ausstellungen, so etwa zu Anton Graff (2013) und Max Liebermann (2014) sowie mit «Oranje!», der Golden-Age-Kollektion der heimatlos gewordenen Winterthurer Sammlung Briner (2014/15) um das Vierfache, und verlängerte die Lebensdauer der Stiftung Oskar Reinhart durch markante Mehreinnahmen. Mit der vielbeachteten jetzigen Ausstellung von Meisterwerken der Sammlung Christoph Blocher steuert das Museum Oskar Reinhart auf einen Allzeit-Besucherrekord zu.
Journal21.ch: Marc Fehlmann, Sie verlassen zum Jahresende den Posten des Direktors des Museums Oskar Reinhart in Winterthur und werden Sammlungsdirektor des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Vor Ihrem Abgang haben Sie mit «Hodler, Anker, Giacometti – Meisterwerke der Sammlung Christoph Blocher» Ihr Haus nochmals mit einem Feuerwerk in Erinnerung gerufen. Sind Kunstmuseen heutzutage auf Schlagzeilen und Fernsehberichte angewiesen?
Marc Fehlmann: Museen sind allgemein auf mediale Aufmerksamkeit angewiesen, um Einnahmen zu generieren, mit denen sie ihren Betrieb und ihren kulturpolitischen Auftrag «Sammeln – Bewahren – Vermitteln» erfüllen können. Es gibt natürlich auch Museen, die so gut dotiert sind, dass es nicht darauf ankommt, ob sie zehntausend Besucher mehr oder weniger im Jahr anlocken. Aber im Museum Oskar Reinhart, dem ältesten Sammlermuseum der Schweiz, sind solche Einnahmen entscheidend, weil bisher die öffentliche Hand nicht entsprechend der internationalen Bedeutung der Sammlung Betriebsmittel zur Verfügung gestellt hat. Nächstes Jahr sieht das aber dank des entschlossenen Handelns von Stadtpräsident Michael Künzle und seiner Kulturverantwortlichen, Frau Dr. Nicole Kurmann, besser aus.
Wären Sie vielleicht in Winterthur geblieben, wenn Sie rechtzeitig erfahren hätten, dass die Stadt sich bewegt?
Diese Frage hat sich für mich nicht gestellt. Die Angebote aus Deutschland kamen, als ich absehen konnte, dass ich meinen Auftrag, die Stiftung Oskar Reinhart und ihr Museum in sichere Gewässer zu steuern, erfüllt habe. Berlin bot einfach das beste Umfeld und für mich die interessanteste Aufgabe.
Die Schweiz zählt gegen zweihundert Kunstmuseen, davon ein halbes Dutzend grosse internationale Player, vielleicht zwei oder drei Dutzend mittelgrosse Top-Museen wie das Ihre und das grosse Feld der kleineren Häuser. Sind es nicht einfach zu viele für das kleine Land? – Was wird und was sollte nach Ihrer Meinung geschehen?
Natürlich haben wir zu viele Museen und auch zu viele Kunstmuseen in der Schweiz. Unsere Gesellschaft erstickt geradezu in der Musealisierung von allem und jedem – besonders von banalem Zeug. Deshalb bin ich froh, wenn grosse Sammler sich entscheiden, ihre Schätze wieder in den Markt zurückzuführen und sich nicht mit einem eigenen Museum ein Denkmal setzen wollen. Dieser Museumsgründungswahn basiert auf dem Irrglauben, man könne mit dem Bau eines eigenen Museums Unsterblichkeit erlangen, so wie die Menschen bis vor zweihundert Jahren glaubten, sie könnten sich mit der Errichtung einer Grabkapelle ihr Seelenheil erkaufen.
Aber um auf den zweiten Teil Ihrer Frage zurückzukommen: Der Markt wird immer härter. Die grossen Museen werden immer grösser werden, und die im Mittelfeld werden nicht mithalten können, wenn sie nicht genügend alimentiert sind. Deshalb diese neue Tendenz zu Zusammenschlüssen wie in Winterthur.
Die Schliessung des Museums Briner und Kern und dessen Überführung ins Museum Oskar Reinhart war wirtschaftlich richtig und macht inhaltlich Sinn. Der Zusammenschluss des Zentrums Paul Klee mit dem Kunstmuseum Bern ist hingegen schwieriger, wurde aber schon vor vierzehn Jahren vom damaligen Direktor, Toni Stooss, vorausgesagt.
Sind also Fusionen der Ausweg für unsere Museen?
In gewissen Fällen sicher – und trotzdem wird am Ende die öffentliche Hand für die privaten Museen aufkommen müssen. Die für ihren wirtschaftlichen Erfolg viel gelobte Fondation Beyeler in Riehen zum Beispiel erhält bereits seit Jahren Subventionen von fast drei Millionen Franken von der Gemeinde Riehen und den Kantonen Basel-Stadt und Baselland.
Heisst das im Umkehrschluss, dass Sie davor abraten, Klein- und Sammlermuseen wie etwa die Villa Flora in Winterthur, erhalten zu wollen?
Die Flora ist eine schöne Idee, wenn man die Finanzen dazu hat. Margaret und Werner Abegg haben zum Beispiel in Riggisberg eine wunderbare Stiftung errichtet, die weltweit eine der wichtigsten Sammlungen ihrer Art beherbergt – und finanziell noch immer unabhängig ist. Dort sind eben genügend Eigenmittel vorhanden, um einen rundum befriedigenden Museumsbetrieb zu sichern.
Die Villa Flora zeigt eine exquisite Sammlung in einer zauberhaften privaten Ambiance. Ist das etwa keine erhaltenswerte Einrichtung?
Exquisit ist die Sammlung nicht mehr, da muss man ehrlich sein. Zuviel ist durch Erbgänge und Verkäufe verloren. Hinzu kommen mehrfache Herausforderungen. Da ist einmal der Publikumsgeschmack: Die dort gezeigten Bilder der Sammlung Hahnloser stammen von Künstlern, die von der Generation meiner Grosseltern und Eltern hoch geschätzt wurden. Doch abgesehen von Hodler und Van Gogh verlieren sie in der aktuellen Gesellschaft immer mehr an Präsenz, auch wenn der Kunstmarkt bei gewissen Namen verrückt spielt. Cézanne ist zum Beispiel intellektuell zu anspruchsvoll, um wie Van Gogh über Generationen ein Gassenhauer zu bleiben. Das ist vielleicht vergleichbar mit Tschaikowski und Debussy. Tschaikowski wäre der musikalische Van Gogh, aber wie häufig wird schon Claude Debussy gespielt?
Man muss sehen, dass sogar im Römerholz, wo Reinharts Sammlung – im Gegensatz zur Sammlung Hahnloser – intakt erhalten ist und wo man Bilder von Weltrang in viel grösserem Umfang als in der Flora sehen kann, die Besucherzahlen rückläufig sind. Dazu kommen die immer grösser werdenden Betriebskosten, die primär von der öffentlichen Hand getragen werden müssten. Das sind denkbar schlechte Voraussetzungen für das Projekt, die Villa Flora weiterzuführen.
Aber das Winterthurer Museumskonzept hält doch an der Flora fest?
Das stimmt. Und es steht auch darin, dass die Flora nur realisiert wird, wenn genügend Betriebsmittel vorhanden sind ohne dass Abstriche beim Kunstmuseum Winterthur oder beim Museum Oskar Reinhart gemacht werden müssen.
Sie würden also eine Lösung ohne Flora vorziehen?
Sehen Sie, ich bin 2012 vom damaligen Stadtpräsidenten Ernst Wohlwend ans Museum Oskar Reinhart geholt worden als expliziter Befürworter von sinnvollen Zusammenlegungen und Reduktionen der Museumsbetriebe in dieser Stadt. Ich habe die Schliessung des Museums Briner und Kern aus pragmatischen Gründen unterstützt, weil ich überzeugt bin, dass in finanzschwachen Zeiten die Bündelung von Kräften eine gute Sache sein kann und dass mit dem Umzug der Stiftung Jakob Briner ins Museum Oskar Reinhart beide Institutionen gewinnen. Das Zusammenlegen von Sammlungen bringt nicht nur Synergien, sondern auch Chancen für neue, bereichernde Auseinandersetzungen mit dem Vorhandenen, die sonst nicht möglich sind. Einzelkämpfertum ist eher etwas für Hochkonjunkturen.
Richten wir nun den Blick über Winterthur hinaus. Alle Museen stehen einer stark veränderten Umwelt gegenüber. Die zunehmend realisierte Utopie der Informationsgesellschaft besteht ja unter anderem in der Instant-Verfügbarkeit von Daten – auch jener der Abbildungen von Kunstwerken. In Museen geht nur, wer die unvergleichliche Aura von Originalen kennengelernt hat; das sind grossenteils Menschen über fünfzig. Stirbt den Kunstmuseen das Publikum weg?
Nein, es wachsen ja neue Über-50er nach, und die gehen auch ins Museum, aber sie erwarten andere Dienstleistungen als ihre Eltern und Grosseltern. Vielleicht suchen sie mehr Infotainment und Lifestyle als jene, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden.
Wenn Sie etwa in Amsterdam ins Rijksmuseum oder in London in die Tate oder ins Victoria & Albert Museum gehen, dann hat es da immer haufenweise junge Leute unter dreissig, weil diese Museen einen aktuellen Bezug zwischen ihren historischen Sammlungen und der Gegenwart herstellen. Im V&A zeigt und erklärt man in der Japan-Abteilung nicht nur kostbares Kunsthandwerk aus weit entfernten Zeiten, sondern auch einen Walkman von Sony. Unsere Museumsleute müssen sich vielleicht mehr für ihr Publikum interessieren als bloss für ihr wissenschaftliches und gesellschaftliches Renommee.
Was läuft diesbezüglich in der Schweizer Museumslandschaft?
Der Markt wird dafür sorgen, dass auch die letzten Schweizer Kunstmuseen, die wenig auf Vermittlung bauen, ihre elitäre Haltung aufgeben. Wenn nicht, verlieren sie ihr Publikum. Man muss heute Ereignisse und einmalige Erlebniswelten schaffen. Es reicht nicht mehr, einfach einen guten Picasso an die Wand zu hängen.
Müssen Kunstmuseen sich heute als kulturelle Erlebnisparks inszenieren? Oder müssen sie mit dem materiellen Wert ihrer Exponate Eindruck schinden?
So würde ich das nicht sagen. Es macht sich aber bemerkbar, dass viele auf die abenteuerlichen Preisrekorde von Kunstauktionen fixiert sind. Dadurch ist heute der materielle Wert von Kunst längst nicht mehr so stark mit ihrer kulturellen Bedeutung verknüpft wie vielleicht noch vor fünfzig Jahren. Aber Kunst wird trotzdem und gerade in den Museen immer auch als kollektive Errungenschaft wahrgenommen.
Wer erinnert sich denn noch an die unternehmerischen Leistungen, mit denen Henry Clay Frick und James Simon ihren gigantischen Reichtum erwirtschaftet haben? Der eine konnte sich drei Vermeers, der andere die Ausgrabung der Nofretete finanzieren. Die beiden Herren sind vergessen. Was aber nach Generationen noch immer bewundert wird, ist und bleibt das originale Kunstwerk.
Aber dessen Bewunderer bewegen sich in einer Nischenkultur, oder etwa nicht?
In der Schweiz mehr als in Deutschland, England, Frankreich und Italien. In jenen Ländern hat die Politik ein anderes Verhältnis zum eigenen kulturellen Erbe geschaffen, als wir es kennen. Deshalb haben Sie Recht, wenn sie sich vergegenwärtigen, wer sich in unserer Gesellschaft wirklich für bildende Kunst interessiert: Es ist ein kleines Segment der Bevölkerung; gemessen am Mitgliederbestand des Kunstvereins Winterthur wären es weniger als drei Prozent der Bewohner dieser Stadt.
Wie wirkt sich denn der Kunstmarkt auf die Museen aus? Und wie wirken diese allenfalls auf den Markt zurück? Nützt es den Museen, wenn sie Bilder von sehr hohem Marktwert besitzen – oder ist es vielleicht eher eine Last?
In unserer kapitalistischen Gesellschaft hat der Kunstmarkt mehr und mehr die Rolle des Qualitätsmassstabs eingenommen. Er hat ja die Illusion kreiert, man könne mit Kunst phantastische Renditen erzielen, die höher ausfallen als bei jeder anderen Investitionsmöglichkeit. Besonders die Gegenwartskunst ist viel zu sehr auf den Markt fokussiert.
Es ist klar, dass in diesem Umfeld das Museum als «Schatzhaus und Tempel» dem Kunstwerk und seinem Schöpfer «höhere» Weihen verleiht und wertsteigernd wirkt. Ein Künstler profitiert, wenn er in einem renommierten Haus ausgestellt wird.
Umgekehrt können sich auch Museen dieser Marktlogik nicht entziehen. Sogar die Direktoren im Louvre haben gemeint, sie müssten Werke von Gerhard Richter zeigen, um aktuell zu bleiben. Dabei wäre es die spannendere Aufgabe, historische Kunst aktuell zu halten, als sie durch Gegenwartskunst zu ersetzen.
Das unter der Menge seiner Kunstschätze ächzende Italien könnte ein Vorläufer sein für ein Gemeinwesen wie die Stadt Winterthur. Wird man auch hier wie an manchen Orten Italiens unter Druck geraten, Kunstwerke aus öffentlichem Besitz zu verkaufen, um den Aufwand für Museen zu finanzieren?
Ich weiss jetzt nicht, welchen Verkauf Sie meinen. In Italien hat man unter Berlusconi einfach damit begonnen, Monumente einer verstärkten Kommerzialisierung auszusetzen. Die McDonalds-Filiale im Forum von Pompeji ist ein Beispiel dafür. Aber soweit wird es in Winterthur nicht kommen. Man wird sich vermutlich lieber mit weniger zufrieden geben.
Staatliche Ausgaben für Kultur werden gern mit positiven wirtschaftlichen Effekten der Institutionen und Anlässe des Kulturbetriebs begründet: Attraktivitätssteigerung einer Wohnregion für gute Steuerzahler, Ankurbelung des Tourismus etc. Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Gründe, in Kunstmuseen zu investieren?
Der Hauptgrund für Investitionen in Kunstmuseen sollte noch immer sein, dass Kunst eine Kommunikationsform ist, die Menschen verbindet, geographische, zeitliche und gesellschaftliche Grenzen überbrückt und die Möglichkeit bietet, eine bessere, friedlichere und umweltfreundlichere Gesellschaft zu erfinden. Kunst kann Menschen bewegen und sie durch ihre neuen Ideen und Denkformen weiterbringen. Deshalb braucht es Orte, an denen Kunst gezeigt wird.
Die Fragen stellte Urs Meier. Foto: Noe Flum