Seit der Etablierung eines atomaren Gleichgewichts der Abschreckung ist nicht nur die Schicht der Zivilisation, sondern auch die des Friedens auf unserem Planeten dünn und verletzlich. Putin schafft mit vagen Drohungen bewusst eine Situation des Missverstehens, welche die Unsicherheit maximiert. Es braucht Spielverderber im System, welche die Logik der Eskalation stoppen.
Physik, Mathematik und Logik sind wunderbare Instrumente der Rationalität. Sie schufen auch die Grundlagen des modernen Kriegs: Nuklearwaffen, Computer, Spieltheorie. Alle drei Aspekte finden sich personifiziert in einem der brillantesten Geister des 20. Jahrhunderts, in «Dr. Strangelove» John von Neumann. Er leistete Pionierarbeit in der Nuklearphysik, in den Computerwissenschaften und in der Theorie politischer Konflikte.
Für John von Neumann waren alle Probleme rational lösbar, am besten durch Berechnung. Im «Manhattan Project» in Los Alamos entwarf er zum Beispiel einen ingeniösen Bombenmechanismus zur Spaltung von Plutonium – der Mechanismus sollte dann Nagasaki dem Erdboden gleich machen.
Neumann, ein rabiater Antikommunist, war Verfechter eines «präemptiven» Nuklearschlags gegen die Sowjetunion. 1955 schrieb er in seinem Aufsatz «Verteidigung in einem Atomkrieg»: «Es genügt nicht, zu wissen, dass der Feind nur fünfzig mögliche Tricks hat und man auf sie alle antworten kann. Man muss auch ein System erfinden, das fähig ist, gleichzeitig auf alle zu antworten (…) Die Frage ist nicht, ob die Sowjets losschlagen, sondern wann.» Als einer der Ersten empfahl von Neumann interkontinentale Raketen mit nuklearen Gefechtsköpfen, und er prägte den Begriff der gegenseitigen Abschreckung, später bekannt als «mutual assured destruction». Wie das Akronym MAD andeutet: der blanke Irrsinn.
«Es genügt nicht, zu wissen, dass der Feind nur fünfzig mögliche Tricks hat und man auf sie alle antworten kann. Man muss auch ein System erfinden, das fähig ist, gleichzeitig auf alle zu antworten.»
Von Neumann war keine Kriegsgurgel. Seine Überlegungen stammen nicht aus der militärischen Tradition, sondern der mathematischen, genauer: aus der Spieltheorie. Diese Theorie modelliert Konkurrenz- oder Kooperationsverhalten mathematisch anhand möglicher Strategien, die Spielern zur Verfügung stehen. Wenn ich nicht weiss, was der Gegner plant, liste ich alle seine möglichen Entscheide auf und überlege mir, wie ich mich in jedem einzelnen Fall optimal verhalten würde.
Das kann unter Umständen eine sehr mühsame Aufgabe sein, aber mit leistungsfähigen Rechnern ist sie durchaus lösbar. Eine dieser Lösungen besteht darin, dass die Spieler eine Strategie finden, von der abzuweichen sich keinesfalls lohnt, was auch immer der Gegner tut. Ein solches Gleichgewicht nennt man nach seinem Entdecker – dem «Beautiful Mind» John Nash – Nash-Gleichgewicht.
«Apokalypseblindheit»
Die kalte Logik im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion war geprägt von diesem Gleichgewichtsdenken. Die Strategie beider Supermächte lautete: nukleares Aufrüsten. Keine Partei hat Gründe, davon abzuweichen. Es hat aber auch keine Partei Gründe, loszuschlagen, denn dies würde nur einen fatalen Zweitschlag hervorrufen.
Der Gedanke ist alles andere als behaglich: in einer Welt zu leben, deren friedliche Existenz auf der Möglichkeit ihrer Vernichtung beruht. Und doch erfahren wir gerade jetzt brutal, wie dünn und verletzlich die Schicht des Friedens auf unserem Planeten ist. Nebenbei bemerkt, kopiert Putin mit seinen «schlimmstmöglichen Konsequenzen» nur sattsam bekannte amerikanische Drohrhetorik. Eisenhower bediente sich ihrer im Koreakrieg, Kennedy in der Kubakrise, Nixon im Vietnamkrieg, Bush im Irakkrieg, Trump mit seinem «Feuer und Zorn» über Nordkorea.
Der Gedanke ist alles andere als behaglich, in einer Welt zu leben, deren friedliche Existenz auf der Möglichkeit ihrer Vernichtung beruht.
Einer weitverbreiteten Meinung nach verdanken wir dem nuklearen «Gleichgewicht» das Ausbleiben von globalen Konflikten seit 1945 – was geradezu als «nukleare Revolution» betrachtet wird. Aber die beiden Sicherheitsexperten Keir A. Lieber und Daryl G. Press sehen darin einen «Mythos». Zwar habe es seit 1945 keinen Dritten Weltkrieg gegeben, schreiben sie in ihrem Buch «The Myth of Nuclear Revolution», aber unter dem vermeintlichen Schutzdach der Abschreckung verhielten sich die Nuklearmächte international nach wie vor «pränuklear», sie täten so, als ob wir mit Kernwaffen Apokalypse spielen könnten. Wir sind, so der Philosoph Günter Anders, «apokalypseblind». Ähnlich blind wie im Ersten Weltkrieg der französische General Ferdinand Foch, der sich über das neue Kriegsgerät der Kampfflugzeuge mokierte: «C’est du sport.»
Brinkmanship
Nun operiert spieltheoretische Rationalität im luftleeren Raum einer Modellsituation. Und das Modell ist bekanntlich nicht die Wirklichkeit. Man kann sogar zeigen, dass bestimmte spieltheoretische Überlegungen schon im Modell nicht zwingend die beste Lösung liefern, sondern uns in Dilemmata verstricken. Wenn zum Beispiel zwei Spieler eine theoretisch rationale Strategie wählen, kann sie dennoch in eine schlechtere Endsituation für beide führen. Vor allem in kriegsanfälligen Situationen.
Hier spricht man von «Brinkmanship», dem Spiel am Rand des Abgrunds, der Eskalation. Genau dies tut jetzt der Zündler im Kreml. Er droht – spieltheoretisch durchaus korrekt – nicht mit einem sicher zu erwartenden Nukleareinsatz. Er wirft dem Westen einfach den nuklearen Köder hin: Beiss doch mal drauf!
Der Zündler im Kreml droht nicht direkt. Er wirft – spieltheoretisch durchaus korrekt – dem Westen einen nuklearen Köder hin.
Zum Glück beisst der Westen nicht an. Im Kern bedeutet Brinkmanship, dass man absichtlich ein Risiko herbeiführt, das der Gegner nicht erträgt. Und hier spielen nicht nur Waffen, sondern immer auch Worte eine gewichtige Rolle. Das Infame am Einsatz der Worte ist, dass man nicht erkennen kann, ob sie eine Absicht anzeigen oder vortäuschen – ob man also glaubwürdig droht.
Die Ungewissheit ist in einer solchen Situation der entscheidende Faktor. Sie zielt gerade darauf ab, eine Atmosphäre des Missverstehens zu schaffen, des möglichen unglücklichen Moments, in dem der Gegner unbedacht handelt. Die Drohung eines sicheren Krieges mag nicht glaubwürdig erscheinen, die Wahrscheinlichkeit jedoch durchaus. Selbstverständlich haben die Mathematiker auch für solche Situationen ihre Kalküle ausklamüsert. Aber Wahrscheinlichkeit ist ambivalent. Sie ist sowohl die Mutter rationaler Strategie wie der irrationalen Angstmache.
Der Shit-happens-Faktor
Hinzu kommt heute eine weitere Dimension. Nicht nur menschliche Unbedachtheit spielt vermehrt eine Rolle. Als besonders beunruhigend, gerade im Kontext globaler Vernetztheit und der Automatisierung vieler Transaktionen, erweist sich der «Shit-happens-Faktor»: der Zufall, die Möglichkeit eines unvorhergesehenen Fehlers im System.
Man fragt sich unweigerlich, weshalb wir in der ganzen nuklear überfrachteten Weltlage bisher von einem Atomkrieg verschont geblieben sind. Seit der Kubakrise waren wir bereits ein paar Male erschreckend nahe dran.
Man fragt sich, weshalb wir in der nuklear überfrachteten Weltlage bisher von einem Atomkrieg verschont geblieben sind.
Zum Beispiel 1983. Stanislaw Petrow, Satellitenüberwacher im sowjetischen Nachrichtendienst, empfing 1983 über das Frühwarnsystem die Nachricht, dass sich amerikanische Interkontinentalraketen näherten. Er stufte dies zum Glück als «Käfer» im System ein, als Fehlalarm des neuen Computers, und er konnte dadurch seine kämpferischer eingestellten Vorgesetzten beruhigen. Die Beziehung zwischen den USA und der Sowjetunion war damals auf einen Punkt eingefroren, der eine solche Aktion als erwartbar erscheinen liess. Der Alarm hätte also zu keinem falscheren Zeitpunkt kommen können.
Definitiv kalt läuft es einem über den Rücken, wenn man an die berüchtigte «Tote Hand» denkt, ein russisches Führungssystem für Nuklearwaffen. Im Fall, dass ein Erstschlag die Entscheidungsträger eines Landes eliminierte, würde das Waffensystem automatisch den Zweitschlag ausführen. Die apokalyptische Maschine («doomsday machine») soll im nuklearen Arsenal immer noch auf Pikett sein.
Mehr «Irrationalität»
Der Psychologe Steven Pinker weist in seinem jüngsten Buch «Mehr Rationalität» darauf hin, dass vordergründig irrationales Verhalten oft eine spieltheoretische Rationalität verbirgt. Aber umgekehrt gilt: Die Spiellogik kann mörderisch sein – selbstmörderisch. Und dann bedeutet «mehr Rationalität» den Bruch der Spielregeln: Der Mensch handelt «irrational», sprich: nicht spiellogisch, sondern mit intuitiver Besonnenheit.
Angesichts von Hasardspielern à la Putin und seinen Mitkläffern sind dringend Spielverderber gefragt.
Der russische U-Boot-Offizier Wassili Archipow war ein solcher Regelbrecher. Er verweigerte in einer kritischen Phase der Kubakrise das Abschiessen eines nuklear bestückten Torpedos auf amerikanische Zerstörer. Und er verhinderte dadurch nach Ansicht vieler Historiker einen nuklearen Holocaust. Ob das stimmt, sei dahingestellt, jedenfalls sind jetzt angesichts von Hasardspielern à la Putin und seinen Mitkläffern Spielverderber gefragt wie Petrow und Archipow. Möglichst viele.