Die 39-jährige linke Aktivistin Ilaria Salis wird an einer Kette in den Gerichtssaal in Budapest geführt. Sie trägt Handschellen und Fussfesseln. Seit 13 Monaten wird sie nun gefangen gehalten. Ihr Vergehen: Sie ging in Budapest auf Neonazis los. Jetzt kandidiert sie auf einer grün-linken Liste für die Europawahlen. Bringen diese Wahlen eine Wende in der Affäre?
Der Fall erregt in Italien seit Monaten die Gemüter. Die postfaschistische italienische Regierungschefin Giorgia Meloni tat bisher wenig bis gar nichts, um die Antifaschistin Ilaria freizubekommen. Die Regierungschefin pflegt mit dem autoritär regierenden ungarischen Präsidenten Viktor Orbán eine lange Freundschaft. Sie hätte diese Beziehung nutzen können, um Ilaria Salis freizubekommen. Doch das tat sie bisher nicht.
Klare Worte des Aussenministers
Im Gegensatz zu Meloni kritisiert der italienische Aussenminister Antonio Tajani Ungarn. Tajan gehört nicht zu «Melonis Fratelli d’Italia», sondern ist Mitglied der italienischen Mitte-rechts-Partei «Forza Italia», die zusammen mit der «Lega» von Matteo Salvini und Melonis Fratelli die Koalitionsregierung bildet. «Wir sind in der Europäischen Union und es gibt Bürgerrechte, die respektiert werden müssen», sagte Tajani.
«Dieses Mal scheint es mir, dass Ungarn zu weit gegangen ist. Die Behandlung der Gefangenen auf diese Weise erscheint wirklich unangemessen und stimmt nicht mit unserer Rechtskultur überein.» Tajani zitierte den ungarischen Botschafter in Rom ins Aussenministerium und übergab ihm eine Protestnote.
Auch gemässigte italienische Kreise, die nichts mit der linken «Antifa» zu tun haben wollen, finden das ungarische Vorgehen mehr und mehr als unangemessen und «überrissen». Sie sind empört, dass sich Meloni nicht energischer für Salis einsetzt. Die Bilder, die Salis wie eine Schwerverbrecherin in Ketten im Gerichtssaal zeigen, haben in weiten Kreisen Italiens Entrüstung ausgelöst. Ihr Anwalt erklärt, sie werde «wie ein Hund vorgeführt». Dass sie im Gerichtssaal in die Kamera lächelte, wurde in ungarischen Gerichtskreisen als «Verspottung der Justiz» gewertet.
«Eine Rechtsextreme hätte Meloni längst aus dem Gefängnis geholt», heisst es in Römer Journalistenkreisen. «Aber Ilaria Salis ist eben eine renitente Linke.»
Der 11. Februar
Was war geschehen? Blenden wir fast 80 Jahre zurück. Der Zweite Weltkrieg neigt sich dem Ende zu. Die vorrückende sowjetische Rote Armee kesselt seit Tagen die ungarische Hauptstadt Budapest ein. In der Stadt befinden sich noch etwa 800’000 Einwohnerinnen und Einwohner – und etwa 33’000 deutsche Wehrmachtsangehörige sowie knapp 40’000 ungarische Verbündete.
Am 11. Februar 1945 unternimmt die deutsche Heeresleitung einen Ausbruchsversuch. Fast 10’000 deutsche Soldaten und ungarische Kollaborateure sterben. Kurz darauf wird Budapest von der Roten Armee befreit.
«Tag der Ehre»
Seit 1997 gedenken in Budapest an jedem 11. Februar alte und neue deutsche und ungarische Nazis am «Tag der Ehre» dem misslungenen Ausbruch. Auch im letzten Jahr, 2023, versammelten sich wieder einige Tausend. In Reden wird haarsträubender Geschichtsrevisionismus betrieben und die Gräueltaten der Nazis und Faschisten relativiert.
Am 11. Februar 2023 griff eine Gruppe linker und teils linksextremer «Anfifa»-Mitglieder die feiernden Rechtsextremen an. Dabei wurden nach ungarischen Polizeiangaben neun Menschen verletzt, sechs davon angeblich schwer. Unter den Antifa-Demonstranten befand sich auch die 39-jährige Ilaria Salis, eine Volksschullehrerin aus dem Städtchen Monza bei Mailand. Ihr wird vorgeworfen, zwei oder drei Neonazis angegriffen zu haben. Sie gibt zu, gegen Rechtsextreme demonstriert zu haben, bestreitet jedoch jede Gewaltanwendung.
Seit 13 Monaten sitzt sie nun in Budapest im Gefängnis. Die Haftbedingungen beschreibt Ilaria als unmenschlich. In ihrer Gefängniszelle gebe es Ratten und Bettwanzen. In einem Brief, der von der italienischen Fernsehstation La7 publiziert wurde, schreibt sie: «Ich fand mich ohne Toilettenpapier, Seife und Damenbinden wieder.» Im vergangenen März hätte sie eine Ultraschalluntersuchung vornehmen sollen, da sie einen Knoten in der Brust befürchtete. «Erst Mitte Juni haben sie mich endlich in eine Klinik gebracht, wo ein Ultraschall und eine Mammographie durchgeführt wurden ... Aber ich habe keinen schriftlichen Bericht erhalten. Ein solcher wurde stattdessen dem Gefängnisarzt übergeben, der sich weigert, ihn meinem Anwalt auszuhändigen.» Die Gefängnisbehörden bezeichnen Salis Anschuldigungen als «pure Lügen».
Ihre Kontakte mit der Aussenwelt, auch mit ihren Eltern, wurden eingeschränkt. Vorgeworfen werden ihr «heimtückische Gewalttaten» gegen Rechtsextreme. Bei einer Verurteilung drohen ihr elf Jahre Haft.
Meloni tut sich schwer
Während Aussenminister Tajani Stellung bezieht, tut Ministerpräsidentin Meloni das, was sie in brenzligen Situation immer tut: Sie schweigt oder windet sich. Für sie ist die Angelegenheit heikel: Einerseits weiss sie, dass der Unmut in der Bevölkerung über ihre zurückhaltende Haltung in der «Causa Ilaria» wächst. Anderseits will sie ihre post- oder neofaschistischen Wählerinnen und Wähler nicht verprellen. Sie weiss auch, dass viele in ihrer Bewegung die linke Antifa hassen.
Auch der rechtspopulistische und rassistische Lega-Chef Matteo Salvini hat Salis schon seit längerem den Kampf angesagt. Sie habe zu einer Gruppe gehört, die 2017 einen Lega-Pavillon in Monza beschädigt habe. Ein Gericht sprach Salis allerdings von diesem Vorwurf frei. Noch ist nicht klar, was am 11. Februar 2023 in Budapest genau geschah. Hat Salis die Rechtsextremen nur angerempelt, wie sie sagt, oder hat sie Gewalt angewendet, was sie verneint. Sicher ist nur: Die Angegriffenen haben keine Anzeige gegen Salis eingereicht.
«Gegen die Europäische Menschenrechtskonvention»
Meloni passt diese Geschichte gar nicht, denn in anderthalb Monaten, am 7. Juni, finden auch in Italien Europawahlen statt. Melonis Partei fürchtet, dass ihr die Salis-Affäre zumindest einige Stimmen kosten wird. Meloni brachte die Angelegenheit dann aber doch bei einem Treffen mit dem ungarischen Präsidenten zur Sprache. Orban sagte, er werde sich dafür einsetzen, dass Salis eine «faire Behandlung» erfährt. Das sei das Einzige, was er tun könne. In Ungarn sei die Justiz von der Exekutive unabhängig.
Eugenio Losco, einer der Anwälte Salis, erklärte gegenüber der italienischen Nachrichtenagentur Ansa, er erwäge, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen. Ungarn verstosse gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Diese schütze Personen vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung.
Ilarias Vater, Roberto Salis, fürchtet sich vor Anschlägen auf seine Tochter. Auf dem Telegram-Kanal erklärten Rechtsextreme, sie wünschten sich, dass Ilaria «im Rollstuhl endet». In einem Graffito auf einer Mauer sieht man Ilaria am Galgen hängen.
Kandidatur für die Europawahlen
Die Europawahlen könnten nun eine Wende in der Affäre bringen. Der sozialdemokratische «Partito Democratico» hat Salis einen Listenplatz angeboten. Denn, so die Überlegung, wenn sie ins Europäische Parlament gewählt würde, würde sie Immunität geniessen und müsste freigelassen werden.
Doch Ilaria Salis lehnte das Angebot ab. Die Sozialdemokraten empfindet sie als «verwässert», «zu wenig links» und «zu verbürgerlicht». Dies, obwohl Elly Schlein, die neue Chefin der Sozialdemokraten, die Partei klar nach links gerückt hat – allerdings bisher mit überschaubarem Erfolg.
Unklare Chancen
Sofort meldete sich eine andere Partei: Die kleine linke «Alleanza Verdi e Sinistra» AVS (Grün-linke-Allianz), machte ihr ein Angebot – und Salis akzeptierte. Die AVS-Allianz, ein Zusammenschluss der italienischen Grünen und der italienischen Sozialisten, gibt es erst seit knapp zwei Jahren. Die Partei war im Hinblick auf die letzten Parlamentswahlen gegründet worden. Ideologisch steht die Mini-Gruppierung klar links von den Sozialdemokraten, kann aber keineswegs als «linksextrem» bezeichnet werden. Sie definiert sich als klar «pro-europäisch» und legt grossen Wert auf Umweltthemen. Laut letzten Meinungsumfragen kommt sie auf einen Wähleranteil von gut 4,5 Prozent – Tendenz steigend. In der grossen Parlamentskammer verfügt sie über 11 von 400 Sitzen, im Senat über 4 von 200.
Mit der Kandidatur von Ilaria Salis hofft nun die Allianz, ein Zugpferd gefunden zu haben und einen Sprung nach vorn zu machen. Ob Salis Chancen hat, auch gewählt zu werden – darüber gehen die Meinungen auseinander.
Meloni meldet sich doch noch
Ebenso unsicher ist, ob sie nach einer Wahl freigelassen würde. Ungarn könnte nämlich das Europaparlament bitten, ihre Immunität aufzuheben. Einen solchen Schritt hat das Europäische Parlament schon mehrmals getan. Zum Beispiel hob es die Immunität des Katalanen Carles Puigdemont auf, der nach der illegalen Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens nach Belgien geflohen war. Anwälte in Rom und Budapest sind jedoch der Ansicht, dass im Falle Ilaria Salis eine Aufhebung einer eventuellen Immunität «eher unwahrscheinlich» wäre. Fest steht: Würde sie freigelassen, würde sie am Prozess gegen sie in Ungarn teilnehmen – aber ohne Handschellen und Fussfesseln.
Inzwischen hat sich Regierungschefin Meloni doch noch zu Wort gemeldet, mit einem spröden Satz: «Eine Politisierung der Sache trägt nicht zu einer Lösung bei.»