Es ist ja eigentlich keine Oper im herkömmlichen Sinne. Hector Berlioz (1803-1869) überschrieb das 1846 uraufgeführte Werk als „Légende-dramatique“ und sah es eher als symphonische Szenenfolge an. Im Wesentlichen sich auf Goethes Faust, Teil 1, stützend, entwarf Berlioz als sein eigener Librettist (unter Mitarbeit von Almire Gandonnière) innerhalb der vier Teile aber auch völlig neue Szenerien und Handlungsabläufe.
Das Werk beginnt mit einem überraschenden Bild aus Ungarns Tiefebene, in der sich der gelangweilte und sinnierende Faust ergeht. Diese Szenerie dürfte ihre Entstehung dem Wunsche des Komponisten zu verdanken haben, den damals sehr populären Rakoczi-Marsch einzubauen, ursprünglich ein Klagelied, welches die Unterdrückung der Magyaren durch die Habsburger beweinte. Der sich aus diesem Lied entwickelnde Marsch verdankte den damaligen Höhepunkt seiner Popularität Franz Liszt, der ihn zum Thema seiner 15. Ungarischen Rhapsodie machte. Heute hingegen wird praktisch nur noch die Berlioz’sche Fassung gespielt.
Fausts Höllenfahrt
Man sieht: Schon hier, ganz am Anfange der Oper, Bezüge und Querverweise zu einem unglücklichen und eingeengten Leben, wenn auch nicht unbedingt im Faust’schen Sinne, der sich ursprünglich ja auf höherer, geistiger Ebene bewegte. Doch existentielle Verzweiflung sucht sich rasch ihren Ausweg und schlägt sehr maskulin um in rein körperliche Begierde unter dem Einfluss des Teufels, sprich Mephistos Verführungskünsten. Und darin liegt auch die überraschendste Handlungsänderung gegenüber der Goethe’schen Vorlage. Faust verschreibt in einer Art rasender Kurzschlusshandlung seine Seele erst gegen Ende der gesamten Gretchen-Tragödie an Mephisto, der Gretchen dafür aus dem Gefängnis befreien und vor dem sicheren Tode retten soll.
Danach aber schlägt der Franzose Berlioz, der nie ein Romantiker sein wollte (es aber doch war), brutal realistisch zu und lässt Faust dafür auch prompt zur Hölle fahren. Nur das Ende Gretchens folgt Goethes Fassung: Auf Mephistos höhnisches „Gerichtet“ nach Gretchens Tod folgt vom Himmel inmitten von Sphärenklängen das berühmte „Gerettet!“ Auch bei Berlioz. Natürlich auf Französisch, versteht sich.
Szenische Erweiterungen
Die nicht einfache Aufgabe, diese vier meist nur lose miteinander verbundenen Teile in 20 Szenen zu einem homogenen Ganzen zu verbinden, fiel szenisch in Basel dem Ungarn Arpad Schilling zu, der zum ersten Mal in Basel inszenierte. Und er veränderte, ganz im Berlioz’schen Sinne, die Deutung der Handlung noch einmal um eine weitere Dimension. Der singende Faust ist zwar ein junger Mann (Rolf Romei, der hier bereits erfolgreich den Gounod’schen Faust gegeben hatte); ihm sind aber ein Jüngling und ein alter Mann als stumme Faust-Rollen zur Seite gestellt. Und die singende Marguerite (die vielversprechende französische Mezzosopranistin Solenn’ Lavanant-Linke) kümmert sich vor der Verführungsszene geradezu mütterlich um ein junges Mädchen als stummes Alter ego. So muss sich das leicht verwirrte Publikum innerhalb der sich auch ständig wandelnden Bühne (Marton Agh) dauernd umorientieren, ein Umstand, der allzuviel Aufmerksamkeit von der durchwegs grossartigen Musik abzieht. Und sogar der erratische Block eines triumphierenden Mephistos (der vielbejubelte Belgier Werner van Mechelen) geht ein und auf in immer wieder wechselnde(n) Gruppen von Bürgern, Soldaten oder Teufeln (der wie immer hervorragende Chor des Basler Theaters unter Henrik Polus).
Faszinierend und verstörend
Die musikalische Gesamtleitung in diesem oft zersplitterten, aber faszinierenden Werk (das auch einige bestbekannte Ohrwürmer-Arien beinhaltet!) hat der in Basel schon oft bewährte Niederländer Enrico Delamboye inne.
In den Beifall des Basler Publikums mischten sich auch einige Buhrufe, welche sicherlich vor allem den verstörenden, zum Teil sogar aufrüttelnden Videoeinspielungen von Peter Francsikai galten, der unter anderem zum Rakoczi-Marsch statt eines lächerlichen Soldatenballetts eine Szenencollage aus einem Schlachthaus zeigte. Die zum Teil noch an ihren Haken zuckenden Schweinetorsi als pars pro toto für die ausgelieferte Kreatur, ob Tier, ob Mensch, verstörten das erstarrte Publikum. Doch, um für einmal Shakespeare zu zitieren: „Vom Messer in das Messer ist die Laufbahn“ (Macbeth). Auch bei Berlioz.
Theater Basel. Nächste Aufführungen: 30.Mai, 6., 9., 11., 13., 16. Juni