Massenproteste und Aufrufe zu "Tagen des Zornes" gab es nach Tunesien in Algerien, Ägypten, Jemen, Jordanien, Sudan, Bahrain, Kuwait, dem Irak, Oman, Marokko, Libyen. Auch in Saudi Arabien, in den Emiraten und in Syrien sahen sich die Regime veranlasst, Massnahmen zu ergreifen, um Massenprotesten zuvorzukommen. Ganz unberührt von der Protestwelle scheinen nur Qatar und Mauretanien geblieben zu sein.
Zwei Anfangserfolge
Nur in Tunesien und in Ägypten haben die Demonstranten bisher ihr Ziel erreicht: dort sind die Machthaber zurückgetreten, und in beiden Ländern begann daraufhin der zweite Akt der Revolution, bei dem es darum geht, wie das neue Regime nach dem Sturz des bisherigen langfristigen Machthabers aussehen wird. Erhofft sind echte Demokratien, und Schritte auf sie zu wurden in beiden Ländern unter dem Druck der mobilisierten und nun siegesbewussten Massen zurückgelegt.
In Tunesien, das Vorläufer blieb, erzwangen die hartnäckigen Demonstranten nach den Sturz Ben Alis den Rücktritt Ghannouchis, des Ministerpräsidenten aus dem bisherigen Regime, und seine Ersetzung durch einen Politiker aus der Zeit Bourguibas , Kaid as-Sebsi. Dieser schritt zur Abschaffung der Zensur und zur Auflösung der gefürchteten Geheimpolzei. Wahlen werden vorbereitet.
In Ägypten, wo die Armee die Macht für eine Übergangsperiode übernahm, führte der fortgesetzte Druck der Volksproteste auch zur Ernennung einer neuen Regierung unter einem Ministerpräsidenten, der Sprechern der Volksbewegung genehm ist, jedoch bisher nicht zur Abschaffung der "militärischen" Sicherheitsorganisation und des Ausnahmezustandes, der dieser militärischen Organisation ein sehr direktes Eingreiffen in alle zivilen Belange ermöglicht.
Präsidiales oder parlamentarisches Regime?
Den militärischen provisorischen Machthabern scheint eine rasche Präsidentenwahl vorzuschweben - zweifellos weil sie hoffen in einem künftigen Präsidenten, vielmehr als bei einem Parlament, den Gesprächspartner zu finden, der ihnen ihre bisherigen Privilegien und Machtpositionen bestätigt, bevor noch ein voll parlamentarisches Regime entsteht. Parlamentswahlen setzten die Bildung von Parteien voraus, die mit ihren Programmen und Führungspersonen einen gewissen Bekanntheitsgrad bei der Bevölkerung zu erlangen hätten, bevor diese zwischen ihnen sinnvoll zu wählen vermag. Dies würde wohl mindestens eine Jahresperiode voraussetzen.
Demokratisierung mit der Armee oder gegen sie?
Die ägyptische Übergangsperiode unterscheidet sich von der tunesischen dadurch, dass in Tunesien das Heer klar auf die Seite des Volksaufstandes getreten ist und seine Ziele weiter zu stützen scheint, während in Kairo die Armee die Macht übernahm mit dem Versprechen die Demokratisierung zu überwachen und durchzuführen. Wobei offen blieb, was genau die Generäle, alle alte Vertraute Mubaraks, unter Demokratie verstehen. Nominell hatte ja auch unter Mubarak eine "Demokratie" bestanden.
Die Volksbewegung verhandelt mit den Generälen und sucht ihre Ziele Schritt für Schritt durchzusetzen. Sie ist dabei darauf angewiesen, immer wieder bedeutende Massen von protestbereiten Ägyptern mobilisieren zu können, um die Generäle dazu zu bewegen, effektive Schritte auf eine wirkliche Demokratie hin zu unternehmen, sogar wenn dies mittelfristig darauf hinausläuft, die politische Position der Armeeführung in Ägypten herabzustufen.
Drei unvollendete Revolutionen
In drei arabischen Staaten befindet sich die arabische Revolution in einer heissen Phase: Libyen, Jemen und Bahrain. In allen dreien hat sie ihr eigentliches Ziel bisher nicht erreicht: die Machthaber sind noch an der Macht - allerdings herrscht in Libyen Ghaddafi nur noch über Teile des Landes. Was die Protestbewegungen angeht, so haben sie sich in Libyen aus einem friedlichen Protest, wie er ursprünglich beabsichtigt war, zu einem bewaffneten Aufstand entwickelt. In Jemen besteht die Gefahr, dass auch dort der friedliche Protest in einen bewaffneten Kampf umschlägt.
Verhandlungen in Bahrain
In Bahrain wird verhandelt, nachdem das Königshaus seine Schergen und Sicherheitskräfte nach deren ersten blutigen Übergriffen gegen die friedlich Protestierenden zurückgepfiffen hat. Doch die Standpunkte der Verhandlungspartner liegen so weit auseinander, dass ein Kompromiss zwischen ihnen schwer denkbar ist. Die Protestbewegung fordert, dass der König nur noch herrsche und nicht mehr regiere, Das Regieren, so fordern sie, soll er einer gewählten Regierung überlassen, die von einem Parlament beaufsichtigt wird.
In Bahrain wie in allen Golfdynastien (einschliesslich Saudiarabiens) regiert nicht nur der Herrscher "sein" Land, sondern seine ganze Familie hilft mit beim Regieren. Enge Verwandte amtieren als Ministerpräsidenten und als Minister und besetzen alle weiteren wirklich entscheidenden Positionen in der Regierung. Gäbe der Herrscher den Begehren der Protestbewegungen nach, würde er zwar sein Amt als König behalten, wenngleich mit reduzierter Macht, doch seine sämtlichen Verwandten, die heute gemeinsam die Machtpositionen in der Regierung besetzen, würden völlig leer ausgehen.
Vom Protest zum Aufstand
Dies ist wohl das Haupthindernis für eine Erfüllung der Begehren der politischen Opposition. Nicht nur der Herrscher sondern seine Familie müssten ihr nachgeben. Der Ministerpräsident Bahrains, ein Onkel des Herrscher, übt sein Amt seit 40 Jahren aus. Die Protestbewegung fordert ausdrücklich seinen sofortigen Rücktritt.
In Bahrain protestiert die Volksbewegung. Vorläufig schiesst sie nicht, und sie ist wohl auch nicht in der Lage, den Protest in einen bewaffneten Aufstand zu verwandeln. Das gleiche ist auch in Jemen der Fall, doch nur bedingt. Ein grosser Teil der Jemeniten, vielleicht 400 000 Stammesleute, sind bewaffnet und gewöhnt ihre Waffen zu gebrauchen. Die Gegendemonstranten, die gegen die weitgehend von Studenten getragene, ihrer Absicht nach friedliche, Protestbewegung auftreten und für den Staatschef und Machthaber Ali Saleh Abdullah werben, machen zunehmend von Schlag- und Schusswaffen gegen die Gegner des Staatschefs gebrauch.
Der ohnehin schon schwache Staat und seine Armee sind dadurch weiter geschwächt, dass sie gegen Aufstandsbewegungen im Norden und im Süden des Landes zu kämpfen haben und auch noch Sicherheit vor den Ablegern von al-Qaeda schaffen sollen, die sich in den Wüstenzonen eingenistet haben. Präsident Ali Saleh Abdullah hat grosse Konzessionen versprochen, zuerst räumte er ein, dass er nach 2013 nicht mehr für ein neues Präsidialmandat kandidieren wolle und auch sein Sohn nicht; jüngst versprach er eine Umbildung des gegenwärtigen politischen Systems in Sinne einer parlamentarischen Republik statt wie gegenwärtig einer präsidialen.
Doch die zäh protestierenden, immernoch wachsenden, Massen in Jemen fordern seinen sofortigen Rücktritt, und es sieht nicht so aus, als ob sie sich mit weniger zufrieden geben wollten. Weil die Repression immer härter wird, besteht die Gefahr, dass die Dinge ähnlich verlaufen könnten wie in Libyen, nämlich dass die Protestbewegung sich zu einem bewaffneten Aufstand entwickelte. In Jemen würden dies wohl mehrere gleichzeitige Aufstände werden, die unterschiedliche Ziele verfolgten, und sie könnten leicht den Zusammenbruch des jemenitischen Staatswesens überhaupt mit sich bringen.
Vom Protest zur Rebellion in Libyen
In Libyen ist die Umwandlung der Protestbewegung in einen Volksaufstand unter dem Druck der Ereignisse vor sich gegangen. Die Proteste wurden zu Beginn so brutal unterdrückt, dass sie nicht aufhörten sondern anwuchsen und auch Teile der libyschen Armee und Sicherheitskräfte, besonders in der Cyrenaika, auf die Seite der Bevölkerung zogen. Da gleichzeitig Ghadhafi nicht gewillt war, zurückzutreten, sondern vielmehr vorgab, das Volk verehre ihn immer noch, nur einige vom Ausland Verführte, hätten sich gegen ihn aufgelehnt, und da er begann, seine Söldner und Sondertruppen gegen die Bevölkerung einzusetzen, suchte diese sich zu bewaffnen und fand Waffen in den von den Truppen verlassenen Zeughäusern der Armee.
Die ganze Cyrenaika und Teile von Tripolitanien fielen zu Beginn in die Hände der Volksbewegung. Doch Ghadhafi hielt sich mit schwer bewaffneten Einheiten seiner Armee in Tripolis und begann diese einschliesslich Tanks und Kriegsflugzeuge gegen die nun bewaffnete Volksbewegung einzusetzen. Er stoppte den Vorstoss der Bewaffneten aus der Cyrenaika in der Syrte, als diese versuchten von der Cyrenaika nach Tripolitanien vorzudringen und eine Verbindung zwischen den ihr zuneigenden Städten und Ortschaften in beiden Landesteilen zu schaffen.
Dann gingen die Soldaten Ghadhafis gegen die Raffineriestadt Zawyia, westlich von Tripolis vor und bombardierten zugleich den Erdölladehafen von Ras Lanuf. Die zweite Stadt Tripolitaniens, Misrata, östlich der Hauptstadt, die ebenfalls von der Aufstandsbewegung gehalten wurde, erlebte Kämpfe in ihren Aussenquartieren und droht ein weiteres Ziel der Gegenoffensive Ghadhafis zu werden.
Die Gefahr eines Bürgerkrieges zwischen der Volksbewegung mit einigen der zu ihr übergelaufenen Armeeinheiten in der Cyrenaika und der Streitkräfte Ghaddafis in Tripolitanien wie auch in grossen Teilen der Wüstenprovinz Fezzan, zeichnet sich bedrohlich ab. Ja man muss sagen, der Bürgerkrieg hat schon begonnen. Ein derartiger Krieg mit all seinen Leiden und Zerstörungen war von keiner Seite beabsichtigt. Doch wurde er unvermeidlich in dem Augenblick in dem Ghadhafi sich nicht bereit zeigte, dem Willen der weit überwiegenden Teile der libyschen Bevölkerung zu weichen, sondern beschloss, ihre Bewegung mit allen Mitteln niederzuschlagen.
Die entscheidende Rolle der Streitkräfte
Die libysche Armee trug zu dieser verhängnisvollen Entwicklung bei, indem sie sich spaltete zwischen Ghadhafi-treuen und zur Volksbewegung haltenden Einheiten. Die Spitze der ägyptischen Streitkräfte war sich der Gefahr einer Spaltung der Armee zwischen dem Lager des Volkes und dem des Machthabers bewusst, und sie opferte schliesslich den Machthaber, Mubarak, um diese Gefahr zu bannen. Doch im Gegensatz zu Ägypten besass die libysche Armee nie eine Führung, die für die gesamte Armee verantwortlich gewesen wäre. Sie bestand nur aus diversen mehr oder weniger privilegierten Einheiten, welche oft von Güstlingen, Vertrauten oder Söhnen Ghadhafis kommandiert wurden und die der Machthaber gegeneinander ausspielte, um der Gefahr eines Militärputsches, auszuweichen, wie er ihn selbst 1969 durchgeführt hatte.
Hilfe für die Volksbewegung in Libyen?
Wie sich der libysche Bürgerkieg entwicklen wird, ist noch ganz ungewiss. Man kann schon heute vermuten, dass die Nato-Staaten und die amerikanischen Streitkräfte nicht so entscheidend in ihn eingreifen werden, dass er rasch erstickt werden kann. Wenn andere Staaten der französischen Anerkennung der Regierungsjunta von Benghazi folgen und wenn sie dann dieser Junta energische Unterstützung zukommen lassen, besteht vielleicht eine Chance, dass der Bürgerkrieg durch einen Sieg der Kräfte der Cyrenaika beendet werden kann. Doch ein solches Eingreifen wird nicht ein sofortiges Ende bedeuten, sondern bestenfalls Monate brauchen, um sich als wirksam zu erweisen.
Der libysche Bürgerkrieg wirft einen dunklen Schatten auf die Zukunft der ganzen arabischen Revolution. Er zeigt, dass die gewaltlosen Massenproteste ausarten können in einen Bürgerkrieg - besonders leicht in den Staaten, deren Armee keine eigenständige Führung und damit auch keine politische Leitung besitzt, die im Notfall dem Machthaber klar machen kann, er müsse weichen, um eine Spaltung der Streitkräfte und mit ihr einen Bürgerkrieg zu vermeiden.