Im Zeitalter des fortgeschrittenen Selbstbetrugs durch Bilder nimmt man in Kauf, dass die Landschaft, wie sie in den Medien erscheint, gar nicht mehr existiert. Die Erscheinung genügt. Wie aber finden wir den Weg zurück zu dem, was wir meinen, wenn wir "Landschaft" sagen?
Exotische, traumhafte Bilder
Bereits 1987 drückte Hans Weiss in seinem lesenswerten Buch, "Die unteilbare Landschaft", diese Paradoxie durch ein bezeichnendes Missverhältnis aus: „ (..) je exotischer und traumhafter die Bilder sind, desto eher verschmerzen wir den realen Niedergang dessen, was die natürliche Vorlage für das Bild war (..) Ich wundere mich über eine gewisse Lust zur Selbsttäuschung beim Abbilden von Landschaften und über den Umstand, dass wir für die Rettung von Landschaft, die eine ständige Quelle für unsere Träume und Visionen sein könnte, so wenig aufwenden (..) Von der jährlich ausgegebenen Summe von 450 Millionen Franken für Farbfilme und -bilder steht der Landesregierung der Schweiz etwa der dreissigste Teil für den Landschaftsschutz zur Verfügung."
Landschaft als Gerät
„Aisthesis" lautete bei den Griechen der umfassende Begriff für Wahrnehmung, für Achtsamkeit mit allen Sinnen. Heute, in unseren medialisierten, reizüberfluteten Lebensräumen, scheint Wahrnehmung – gerade auch durch die ambulanten Apps und Gadgets - zunehmend in Kauf zu nehmen, „von Sinnen“ zu sein. Einer grassierenden Form der Nicht-Wahrnehmung von Landschaft begegnen wir in jener Fun-, Fitness- und Wellnesswelle, die demonstrativ genug Landschaft in unsere Aktivitäten miteinbezieht.: Landschaft als Gerät der Körperertüchtigung.
Jede neue Saison widerhallt vom letzten Schrei einer noch ausgeflippteren Sportivität, sich „draussen in der Natur“ zu tummeln und zu betätigen. Extremklettern, Alpinmarathon, Paragliding, Rafting, Canyoning, Bungeejumping, Mountain-Biking. Bald wird wohl jede Fluh in den Alpen als Startplatz für Deltasegler oder Hängegleiter benutzt werden, bald werden in jedem Wildbachtobel "Adventurers" in Neopren anstelle verschwundener Arten herumlurchen, bald stürzen sich von jeder Brücke und Staumauer Leute, welche die Adrenalinzufuhr des freien Falls benötigen, um sich ihres eigenen körperlichen Daseins bewusst zu werden - sturzbewusst sozusagen.
Scenic view – Wahrnehmung als Vorwegnahme
Das Tourismusmanagement vieler Ferienorte kümmert sich um die Erhaltung des „Ortsbildes“. Man saniert eine alte Kirche oder eine Säumerraststätte hier, man restauriert eine historische Bauernstube mit Butzenscheiben, Spinnrad und Kachelofen dort. Um diese Denkmäler und Museen herum legt man dann kunstvoll und aufwendig ein Netz von Promenaden, Wanderwegen, Aussichtspunkten, Rast-, Erholungs-, Kinderspiel- und Picknickplätzen an. Mit dem Effekt, dass sich Landschaftsschaulustige zu Stosszeiten an bestimmten Aussichtspunkten drängen wie die Louvrebesucher vor der Mona Lisa.
Man will eigentlich die Landschaft auch nicht sehen, man will sie gesehen haben. Die oft empfundene Sterilität von - gerade auch erhaltenen - Ortsbildern resultiert nicht zuletzt daraus, dass man die Eigenwahrnehmung nicht genügend berücksichtigt oder ernstnimmt. Das panoramatische Sehen, die „scenic view", ist eine Form von verordneter und veranstalteter Landschaftswahrnehmung: eine Vorwegnahme des Sehens („Hier gibt es das-und-das zu sehen"). Gerade diese Vorwegnahme läuft ja darauf hinaus, dass der Umgebung das weggenommen wird, was sie als lebende, physische Landschaft bräuchte: den aktiven Gebrauch unserer eigenen Physis, unserer eigenen Sinne.
Kleine Etymologie von „Raum“ und „Ort“
In diesem Zusammenhang mag vielleicht ein kurzer Blick in die Sprachgeschichte der Wörter „Raum" und „Ort" zu denken geben. „Raum" („rum") bezieht sich in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes auf eine physische Tätigkeit des Menschen, auf das Sich-Einrichten, das Schaffen von Platz für Siedlung, Lager, Wohnstätte. Raum wird „eingeräumt“. Er ist Spielraum der Bewegung, er ist konkret, sinnlich erfahrener Zwischenraum zwischen den Dingen. Also nicht jene abstrakte, unendliche, dreidimensionale Mannigfaltigkeit, als die wir ihn aus Geometrie und Physik kennen.
Auch „Ort" wurzelt im Sinnlichen. Das Wort meint ursprünglich „Spitze" (eines Speeres, einer Ahle; „vor Ort": an der vordersten Stelle im Stollen), weist also hin auf etwas Punktuell-Einzigartiges im räumlichen Gefüge (nicht auf einen Punkt im geometrischen Raum!). „Ort“ hat immer die Bedeutung des Hinzeigenden. Er ist da und nicht anderswo. Orte sind wie Personen nicht austauschbar. „Ich bin nicht eine Person, ich bin ein Ort", sagte die Schriftstellerin Alice Rivaz einmal. Umgekehrt haben Orte so etwas wie eine Persönlichkeit, ein Wesen, eine Atmosphäre, einen Zauber („genius loci").
Fehlende Orthaftigkeit
Das Landschaftliche einer Gegend besteht im Grunde darin, dass sie Orte in diesem ursprünglichen Sinn des Wortes aufweist. Wir alle kennen und „haben" irgendwo solche Orte, die uns beweglich halten, indem wir sie verlassen und immer wieder an sie zurückkehren, Orte, die uns nicht selten in „Fleisch und Blut" übergegangen sind, die wir als intimste Teile unserer selbst hegen. Wir alle entwickeln einen (vitalen) Sinn für die Orthaftigkeit unseres eigenen Lebens, für den Geburtsort, den Ort der Kindheit, der Schule, Orte der ersten Liebe, Orte der Träume, der Sehnsucht, der Erinnerung („an dieser Uferstelle, wo jetzt ein Motorboothafen liegt, haben wir als Buben immer Schilfgras geraucht").
Menschsein wurzelt in der Orthaftigkeit, in der „Landschaftlichkeit" des Lebens. Man könnte die Güte eines jeden Lebens geradezu anhand der konkreten Orte qualifizieren, die es triangulieren helfen, die uns etwas bedeuten, uns betreffen, uns angehen. Solche Orte findet man allerdings nicht auf Ortsplänen. Im Gegenteil, nicht selten bringt Planung solche Orte zum Verschwinden, indem sie sie durch disponible, verschieb- und austauschbare Plätze und Zonen ersetzt, mit der Folge, dass sich die Ortsbilder touristischer Zentren immer mehr zu gleichen beginnen. Was von ihrer ehemaligen Identität dann noch übrigbleibt, ist der Ortsname, als Logo für Werbung und Website. Mit den Orten treibt man einer Landschaft die Seele aus.
Unser Körper als nächster Kreis der Umwelt
Wer von uns wünschte sich nicht intakte Landschaften? Wer denkt freilich daran, dass intakte Landschaften nichts anderes sind als Spiegel und Resultat menschlichen Taktes, des elementaren Vermögens, zu berühren und berührt zu werden, seine fünf (oder mehr) Sinne zu gebrauchen? Was nützt es, Tier- und Pflanzenarten zu erhalten, wenn wir kein entsprechendes Sensorium mehr dafür haben? Was nützt es, Ortsbilder zu erhalten, wenn wir den Sinn für unsere eigene Orthaftigkeit verlieren?
Im Mörser der Globalisierung, die bestenfalls noch Wirtschaftsstandorte kennt, wird die Landschaftlichkeit unserer Umgebungen zerrieben, und mit ihr eine ganze Dimension des Humanen, nämlich die einfache, elementare Kenntnis des Nahen, uns Naheliegenden. Dieses Naheliegende erfahren wir immer im Medium unserer Sinne, durch unseren Körper. Er ist der erste und nächste Kreis der Umwelt. Mit der fortschreitenden Verwüstung der Landschaften verwüsten wir auch ihn zusehends. Deshalb beginnt Ökologie, nachhaltige Landschaftspflege, im naturwüchsigen „Zuhause", im Medium des Körpers.
Gehen schafft Schönheit
Regeneration von Landschaft würde somit auch Regeneration (um nicht zu sagen: Wiederentdeckung) eines Sensoriums und einer Sensibilität für die Landschaftlichkeit unserer Umwelt bedeuten. Zum Beispiel dadurch, dass wir vermehrt wieder gehen. Gehen ist die Schule der Sinnlichkeit. Gehen ist eine Form, ja, Kultur der gelassenen Erfahrung, die uns Ortssinn, Sinn für Zwischenräume lehrt. Zwischenraum meint hier alles, was uns in der Regel in der Geschäftigkeit des Alltags verborgen bleibt, was wir „zurücklegen", „auf der Strecke lassen", wenn wir uns mit den heute üblichen Verkehrsmitteln von A nach B bewegen.
Wer mit Kindern spazieren geht, weiss, was Zwischenraum bedeutet - die Erfahrung nämlich, nicht vorwärtszukommen. Was uns Erwachsenen im Weg liegt, ziehen Kinder meist gerade als Weg vor. Weil Kinder, diese sinnlichen Wesen par excellence, in ihrer elementaren Neugier am Kleinsten und Unscheinbarsten hängenbleiben. Weil sie sich die Freiheit für den Zwischenraum herausnehmen, für die Topografie der Ritzen, Spalten, Nischen, Verstecke, Falten und Runzeln der Erde. Kinder sind in dieser Hinsicht die besten Lehrer. Sie leben im Lokalen. Sie definieren es. Ihre Welt ist erfüllt von Zwischenraum, jenem Lebenselement, das wir Erwachsenen mit unseren flurbereinigten Köpfen fortwährend versiegeln, zuschütten, begradigen, applanieren, ausräumen. Wie sagte der Basler Kunsttheoretiker und „Promenadologe“ Lucius Burckhardt: Gehen schafft Schönheit.
Sinnlichkeit als zivilisatorische Aufgabe
Jemand hat Technologie einmal als Trick charakterisiert, die Dinge so zu arrangieren, dass wir sie nicht mehr zu erleben und zu erfahren brauchen. Gerade diese Entwicklung scheint unseren Landschaften und Umwelten bevorzustehen. Wir sehen uns deshalb vor eine grundsätzliche Option gestellt: Was für eine Natur, was für eine Umwelt wollen wir eigentlich? In dieser Frage sind die letzten Worte noch längst nicht gesprochen. Mitentscheidend für ein ausgewogeneres Verhältnis zur Natur dürfte die Auffassung menschlicher Sinnlichkeit als zivilisatorischer Aufgabe sein.
Die ermutigenden Anzeichen mehren sich, dass Naturwissenschafter, Anthropologen, Mediziner, Philosophen, Raumplaner, Architekten, Künstler, Pädagogen sich in einem impliziten „aisthetischen" Projekt engagieren, unser "Sinnenbewusstsein" wiederzuerwecken. Ein solches Projekt sollte auf keinen Fall als anti-technologischer Reflex oder als simples Programm zur Abnabelung von den neuen Medien interpretiert werden. In Augenhöhe mit dem technologischen Fortschritt hält es uns vielmehr an zur Rückbesinnung auf die Regenerationsmöglichkeiten der Landschaft „von innen“ her.
Landschaftserfahrung „bei Sinnen“
Es geht also letztlich nicht nur um den Schutz von Auen, Fluren, Wäldern, Tälern, Mooren, von Augenfalter, Wiedehopf, Geburtshelferkröte oder Neunauge; noch bloss darum, verdolte Bachläufe wieder auszugraben oder Seeufer öffentlich zugänglich zu machen. Wo wir Landschaft geschützt haben, steht ihre Rettung meist erst noch bevor.
Um im Bild zu bleiben: Sofern uns an einem „erweiterten“ Umweltbewusstsein gelegen ist, müssen wir nicht nur verdolte Bäche ausgraben, sondern mit ihnen zugleich ein „verdoltes“ Potenzial in unseren Körpern. Wenn mit Namen wie jenem Peter Zumthors eine „Architektur der Sinnlichkeit“ international gefeiert wird, dann möchte man doch schüchtern daran erinnern, dass Sinnlichkeit kein Baustil ist, sondern das elementare Verhältnis des Menschen zu seinen Umwelten.
Retten bedeutet Befreien
Anders gesagt, wir lernen Berge, Fels und Wasser nicht erst dann neu sehen, wenn wir in die Thermen von Vals pilgern und uns auf den Schwitzstein setzen, wir können das „neue“ Sehen überall einüben, an einem „Ort", der uns am nächsten liegt: am eigenen Leib. Retten bedeutet Befreien, aus objektiven Notlagen, aber auch aus subjektiven Fesseln. Und was uns heute vor allem fesselt, ist eine chronische Lebensbetäubung, die sich als hochentwickelte Lebensform lobpreist.
Retten wir so den Wiedehopf? Ich weiss es nicht. Mein Argument für den Landschaftsschutz, für den Naturschutz generell, ist - wie gesagt - ein indirektes: Was wir „Natur" nennen, ist immer ein Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Natur erhalten heisst also ein bestimmtes Verhältnis zu ihr erhalten, und das heisst in unserem Fall: eine Kultur der Wahrnehmung, welche Fingerspitzengefühl, Takt, esprit de finesse still einbaut in den Umgang mit Sachen, Pflanzen, Tieren, Menschen - also eine rettende, d.h. uns befreiende Erfahrung, die buchstäblich bei Sinnen ist.