Die jüngste Geschichte von Gaza ist verworren. Seit 2007, als Hamas de facto die Macht im Gaza-Streifen übernahm und die PLO mit Gewalt ausschaltete, hat es immer wieder Raketenangriffe aus Gaza auf israelisches Territorium gegeben. Sie waren zwar ziemlich unwirksam, weil die Geschosse meistens ins freie Gelände fielen und wenig Schaden anrichteten. Sie bedeuteten aber doch, dass es eine palästinensische Macht gab, die nicht bereit war, Israel als Faktum hinzunehmen. Sie zwangen die Israeli in den betroffenen Gebieten - vor allem in jenen, die nahe an der Grenze des Streifens lagen – immer wieder in Luftschutzkellern Zuflucht zu suchen.
Dauerboykott
Die israelischen Regierungen reagierten darauf permanent durch die Abschnürung Gazas. Diese wurde bisher und seit 2007 so gehandhabt, dass die 1,6 Millionen der dort lebenden Menschen nicht Hungers starben, jedoch arbeitslos und unterstützungsbedürftig wurden.
Dank der Hilfe aus dem arabischen und westlichen Ausland konnten sie sehr knapp überleben. Diese Abschnürungen kamen einer Kollektivstrafe gleich. Möglicherweise sollten sie die Bevölkerung des Gazastreifens, dazu veranlassen, sich gegen die Hamas-Führung zu erheben. Wozu es allerdings bis heute nicht gekommen ist.
Zerstörungsaktionen
Zu dem erstickenden Boykott hinzu kamen periodische militärische Aktionen, die regelmässig zu grossen Zerstörungen in Gaza führten; viele Aktivisten und Zivilisten starben. Gaza hatte mehr zu erleiden als Israel. Die wichtigsten israelischen Militäroffensiven waren: "Hot Winter" von Februar 2008; dann nach einem Waffenstillstand von sechs Monaten: "Cast Lead" beginnend mit Luftangriffen am 27. Dezember 2008 und mit einer Bodenoffensive ab 3. Januar 2009 und endend mit unilateral erklärten Waffenstillständen zuerst Israels vom 18. Januar, dann auch von Seiten von Hamas.
Dies war der blutigste der bisherigen Kriege. Auf palästinensischer Seite starben - je nach Zählung - zwischen 1‘166 bis 1‘417 Menschen. Israel hatte 13 Tote zu beklagen. Die Schäden waren so gross, dass sie bis heute nicht völlig beseitigt sind, obwohl aus dem arabischen und westlichen Ausland 4,5 Milliarden für den Wiederaufbau gespendet worden waren.
Ende Oktober 2012 erfolgte eine weitere Grossoffensive, diesmal nur aus der Luft. 158 Palästinenser starben, davon 102 Zivilisten. Auf israelischer Seite gab es fünf Tote: vier Zivilisten und ein Soldat.
Raketen hie und da
Die gegenwärtig laufende Offensive begann am 8. Juli. Truppen wurden zusammengezogen. Der Streifen wurde und wird mit Kampfflugzeugen und Artillerie angegriffen.
Die Raketen, die Hamas gegen Israel abfeuert, haben diesmal eine grössere Reichweite. Doch sie stossen auch auf effizientere Abwehr durch das israelisch-amerikanische Raketen-Abwehrsystem "Iron Dome", so dass sie bis jetzt ähnlich wirkungslos blieben wie bisher. Neu ist, dass die israelische Armee die Bewohner von Häusern, die sie angreifen will, im Voraus warnt, und zwar mit Flugblättern und Telefonanrufen.
Wenig schlüssige Schuldzuweisungen
Besonders betroffen ist Beit Lahiya, im Norden von Gaza. Den israelischen Warnungen folgten rasch Zerstörungen. Dies hat eine Flüchtlingswelle ausgelöst. Man kann die Warnungen als einen humanen Versuch sehen, Menschenleben zu schonen. Aber auch die zynischere Überlegung, dass auf mittlere Frist Obdachlose eine Gesellschaft mehr belasten als Tote. Am wichtigsten ist vielleicht die psychologische Botschaft, die besagt: "Wir kennen euch alle genau, bis auf die Telefonnummern, und wir bestimmen, was mit euch geschieht.“
Wer hat angefangen? Jede Seite beschuldigt die andere. Und beide Seiten haben Gründe, der andern die Verantwortung zuzuschieben. Ständig gibt es kleinere und grössere Zwischenfälle. Diese sind immer die Folge von vorangegangenen kleineren und grösseren Anschlägen oder Kriegsaktionen. Es lässt sich beliebig darüber streiten, wer zuerst - oder zuallererst – angefangen hat.
Die Ziele der Hamas
Welches Ziel haben diese Blut- und Zerstörungsaktionen? Hamas will klar machen, dass sich ihre Führung weiterhin im Kriegszustand mit Israel befindet. Sie will ihre Bevölkerung dazu zwingen, bei diesem „Krieg“ mitzumachen, koste es was es wolle.
Am Anfang haben wohl viele Bewohner des Gaza-Streifens den Plänen und Aktionen der Hamas-Führung zugestimmt. Ob sie das heute noch tun, ist eine andere Frage.
Es gibt Anzeichen leiser Kritik am Vorgehen von Hamas, doch laut werden kann sie nicht. Dafür sorgt Hamas durch bewaffnete Schergen.
Die Ziele Israels
Israel erklärt, sein Kriegsziel sei, dem Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen ein Ende zu setzen. Dies wurde bisher immer nur vorübergehend erreicht. Früher oder später wurde der Raketenbeschuss wieder aufgenommen – aus neuem Grund oder neuem Vorwand.
Auslöser jetzigen Gewaltaktionen ist der Mord an drei jugendlichen Israeli und der anschliessenden Gefangennahme von 240 Hamas-Politikern durch Israel. Unter den Festgenommenen befinden sich Parlamentarier aus dem Westjordanland. Israel begründete die Festnahmen damit, Hamas trage die Schuld am Mord an den drei Jugendlichen. Die Behauptung blieb unbewiesen, Hamas stritt jede Verantwortung ab.
Im Hintergrund dieser Massenfestnahmen stand für Israel ohne Zweifel die Absicht, das Versöhnungsabkommen zwischen Hamas und der PLO zu hintertreiben. Dieses hatte zur Bildung einer palästinensischen Übergangsregierung mit der Zustimmung von Hamas und der PLO geführt. Ziel war es, Wahlen für eine vereinigte palästinensische Führung durchzuführen. Dass die israelische Regierung dies nicht dulden werde, hatte sie in aller Deutlichkeit klar gemacht.
Fehlrechnung der Hamas
Warum aber hat Hamas sich entschlossen, erneut Raketen auf Israel abzuschiessen? Vordergründig, als Anlass, gab es die Festnahmen und auch den Rachemord an einem palästinensischen Jugendlichen. Doch Hamas musste wissen, dass jede Wiederaufnahme der Raketenangriffe zu heftigen israelischen Reaktionen führen wird. Darunter hätte nicht nur die Hamas-Führung, sondern die gesamte Bevölkerung des Streifens zu leiden. Warum also erneut Hamas-Raketen auf Israel?
Vielleicht hatte die Hamas-Führung die Illusion, ihre neuen eingeschmuggelten Raketen, die eine längere Reichweite haben, würden in Israel erhebliche Schäden anrichten. Doch wahrscheinlich spielte die politische und finanzielle Notlage der Hamas-Führung die grössere Rolle.
Hamas hat seine wichtigsten Alliierten im arabischen Ausland verloren. Die Organisation, selbst ein Abkömmling der Muslimbrüder, hatte auf Mohammed Mursi gesetzt, als dieser und seine Muslimbrüder in Ägypten an die Macht kamen. Katar, ein Freund der ägyptischen Brüder, war ein wichtiger Geldgeber geworden. Saudi-Arabien anderseits wurde ein Gegner der Muslimbrüder und nun auch der Hamas.
Iran und al-Sissi gegen Hamas
Im syrischen Ringen hatte sich Hamas, nach einigem Zögern für die sunnitischen Gegner des alawitischen Präsidenten Asad entschieden. Folge davon war auch ein Bruch mit Iran. Teheran war zuvor für die Hamas ein wichtiger Geldgeber und Raketen-Lieferant.
Als dann Mursi stürzte, wurde al-Sissi zum Feind der Hamas. Er hasst die Brüder, und er glaubt, die Terroristen im Sinai, die Ägypten zu schaffen machen, würden von Hamas dirigiert und bewaffnet. Unter al-Sissi zerstörte die ägyptische Armee die vielen Hunderte von Tunnels, durch welche zuvor Brennstoff, Zement, Verbrauchsgüter und wohl auch Waffen nach Gaza geschickt wurden. Al-Sissi beendete damit die Tunnel-Ökonomie. Auf ihr beruhte das, was von der Wirtschaft des Streifens noch übrig blieb. Tunnel-Zölle hatten die Hamas direkt finanziert.
Verzweiflungsaktionen?
Durch den kumulierten Effekt dieser Entwicklungen war die Hamas-Führung in eine finanzielle Notlage und in politische Isolation geraten. Ihre angestrebte Vereinigung mit der PLO war ohne Zweifel auf diese Notlage zurückzuführen. Wäre sie durchgeführt worden, hätte dies leicht zu einem Ende von Hamas oder zumindest zu einem Ende der bisherigen politischen Linie von Hamas geführt. Wahlen unter den Palästinensern wären schwerlich zugunsten der bisherigen Politik von Hamas verlaufen. Zu viele Palästinenser haben erfahren, dass diese Politik sie nur ins Elend führen kann.
So kann man sich vorstellen, dass die gegenwärtige Führung sich sagte: "Unsere Aussichten sind schlecht. Wir müssen mit unserem politischen Ende rechnen. Aber wir haben noch all die Raketen (nach israelischen Schätzungen sollen es 10‘000 sein), die wir mit grosser Mühe und bedeutendem Aufwand ins Land gebracht haben. Lassen wir die einmal los! Vielleicht werden sie einen Stimmungsumschwung unter den Bewohnern des Gaza-Streifens herbeiführen, oder auch unter den Arabern in den umliegenden Ländern, so dass sie sich uns erneut zuwenden. Jedenfalls haben wir nichts zu verlieren."
Die Morde an den drei jungen Israeli haben einmal mehr zu erhöhten Spannungen geführt. Gleichzeitig versucht Israel, eine Wiedervereinigung der Palästinenser zu verhindern. Die Hamas-Führung nahm all dies zum Anlass oder Vorwand, einmal mehr ihre Raketen einzusetzen.
Auswirkungen auf die kommenden Jahre
Die gegenwärtig laufenden Grossbombardierungen und die vielleicht noch bevorstehende Landinvasion der Israeli werden kaum dazu führen, dass Hamas vom Erdboden verschwindet. Jedenfalls werden sie nicht erreichen, dass Gaza mit seinen 1,6 Millionen sich in nichts auflöst. Der Bevölkerungszuwachs in Gaza liegt bei über 2 Prozent jährlich, also mehr als 32‘000 Menschen im Jahr. Israelische Militärs sprechen manchmal zynisch vom "Rasenmähen", wenn sie wieder eine neue Grossaktion gegen Gaza starten. Der Rasen wächst dennoch weiter, und die Aktionen der Menschenmäher schaden dem Prestige Israels. Besonders deshalb, weil diese Aktivitäten heute in Bildern sichtbar gemacht werden können.
Möglich jedoch ist, dass die israelischen Bombardierungen dazu führen, dass die Wiedervereinigungsversuche der Palästinenser scheitern. Doch auch das Gegenteil ist denkbar, dass sie zu deren Beschleunigung führen. Ob es dann eine Wiedervereinigung sein wird, innerhalb derer Hamas oder Fatah den Ton angeben, bleibt derzeit offen. Viel wird dabei von der Reaktion Israels auf eine solche Wiedervereinigung abhängen.
Auf alle Fälle jedoch ist wahrscheinlich, dass das Blutvergiessen, das überwiegend auf das Konto Israels geht - die Zahlen sprechen sehr deutlich -, die Spannungen weiter erhöht und den Hass vertieft. Die Chancen auf einen Frieden, so klein sie bereits sind, werden noch kleiner. Wollte man einem Frieden eine Chance geben, müsste man dafür sorgen, dass diese Spannungen abnehmen, statt sie immer aufs Neue anzuheizen.