Berichte, wonach IS-Kämpfer in den südlichen Vorstadtquartieren von Damaskus aufgetaucht seien, sind ernst zu nehmen. Doch sie bedeuten nicht, dass «das Kalifat» im Begriff sei, seine Macht bis nach Damaskus hin auszudehnen. Es handelt sich offenbar um Schläferzellen von IS, deren Präsenz in den südlichen Vorstädten der syrischen Hauptstadt seit einigen Monaten bekannt ist. Diese verborgenen Kräfte von IS versuchen periodisch sich auf den Strassen zu zeigen, wohl in der Hoffnung, entweder Popagandagewinne zu machen oder – wenn die Zeit sich als reif erweist – den Durchbruch zu erreichen, der es ihnen erlaubt, Gebiete permanent unter ihre Herrschaft zu bringen.
Waffenstillstände mit der Regierung
Dabei ist die besondere Lage zu berücksichtigen, die in diesen Vorstädten herrscht. Weil die syrische Armee und Polizei nicht flächendeckend in der Fünfmillionenstadt präsent sein kann und weil die Vorstädte oftmals von bewaffneten Gruppen beherrscht werden, die zu den Feinden des Regimes zählen, hat Damaskus eine Taktik der Waffenstillstände entwickelt. Solche werden meist geschlossen nach zähen und erschöpfenden Kämpfen und nach Isolierung, Belagerung und Bombardierung der betroffenen Quartiere und Randsiedlungen. Oft kommen sie unter dem Druck einer Belagerung zustande, die darauf ausgeht, allen Bewohnern dieser Quartiere die Lebensmittel, das Wasser, den Strom abzuschneiden.
Waffenstillstände sind meist an die Bedingungen geknüpft, dass die Rebellenkräfte ihre schweren Waffen abgeben müssen, jedoch die leichten Waffen behalten können und dass die Regierungstruppen nicht in die bisher belagerten Ortschaften oder Quartiere eindringen. In den Waffenstillstands-Gebieten herrschen dann meistens lokale Räte, die eng mit den bewaffneten Gruppen zusammenarbeiten, welche weiterhin die betroffenen Ortschaften oder Vorstadtquartiere kontrollieren. Die Kämpfer, die sich dort aufhalten, können diese Orte nicht verlassen, ohne Gefahr zu laufen, von den Sicherheitsleuten der Regierung gestellt und gefangen genommen zu werden. Derartigen Gefangenen droht ein qualvoller, langsamer Tod in den Regierungsgefängnissen.
Es kommt vor, dass die Waffenstillstände gebrochen werden. Dann kommt es zu neuen Kämpfen, in denen jedoch die Rebellen nicht mehr über die schwereren Waffen verfügen, die sie hatten abgeben müssen. Unter Zivilisten gibt es eine gewisse Osmose zwischen den Waffenstillstands-Quartieren und jenen, die von der Regierung beherrscht werden. Dies schon deshalb, weil die nötigsten Lebensmittel in die Waffenstillstands-Quartiere gebracht werden müssen.
Die Entwicklung in Yarmuk
Yarmuk, das Palästinenserlager, das heute ein Stadtquartier im südlichen Teil von Damaskus geworden ist, war eines der von der Regierung belagerten Rebellenquartiere, weil sich die dortigen Palästinenser in den ersten Jahren des Aufstandes gegen die Regierung und für die Rebellenbewegung entschieden. Da in Yarmuk die UNRWA (die Organisation der Uno für Palästinaflüchtlinge) und andere internationale Körperschaften involviert sind, sowie auch am Rande die PLO, war stets relativ viel über Yarmuk zu erfahren. Es gab über Yarmuk, Berichte und sogar Bildmaterial von Zerstörung und Hunger.
Im vergangenen April versuchten IS-Kämpfer das von der Regierung belagerte und oftmals auch bombardierte Lager unter ihre Gewalt zu bringen. Von seinen einst 220’000 Bewohnern waren die meisten geflohen und nur etwa 18’000 verblieben zusammen mit den bewaffneten Gruppen, welche in diesem Fall palästinensische Kämpfer sind. (Andere ebenfalls bewaffnete Palästinenser stehen auf Seiten der syrischen Regierung).
Die IS-Kämpfer waren von Hajar al-Aswad, einem benachbarten Stadtviertel, nach Yarmuk eingedrungen. Sie sollen vorübergehend fast 90 Prozent des Lagers beherrscht haben, wurden jedoch von zwei palästinensischen Kampfgruppen zurückgedrängt und sollen zur Zeit nur noch einen Teil des einstigen Lagers, das heute aus zerschossenen Ruinen besteht, beherrschen. Die den Rebellen nahestehenden Quellen sagen, dies sei nur noch ein kleiner Teil des «Lagers». Die Sprecher von IS behaupten: der grössere Teil.
Hajar al-Aswad hat seit einem Jahr einen Waffenstillstand mit der Regierung. Yarmuk gilt nach der UNRWA seit dem vergangenen Juli als «nicht mehr von der Regierung belagert».
Ein neuer Versuch in Qadam
Die jüngsten Auftritte von IS wurden Ende August aus dem ebenfalls südlichen Stadtteil Qadam gemeldet. Qadam war bisher ruhig, ebenfalls unter einem Waffenstillstand mit der Regierung. Auch dort behaupten die IS nahestehenden Quellen, «das Kalifat» habe fast den ganzen Stadtteil eingenommen, der ungefähr sechs Kilometer vom Zentrum von Damaskus entfernt liegt. Doch die den Rebellen zuneigenden Quellen sagen, die IS-Leute seien auf Widerstand gestossen und aus den grössten Teilen von Qadam vertrieben worden. Sie beherrschten nur noch «zwei Strassen». Widerstand gegen sie leisteten zwei der syrischen Rebellengruppen, Dschaisch ul-Islam und Dschund ul-Islam, sowie zwei weitere kleinere Gruppierungen.
Ein Offizier der syrischen Armee erklärte anonym der Agentur AFP: «Wir sind froh, dass die Rebellen gegeneinander kämpfen. Doch falls sie versuchen sollten, auf das Gebiet überzugreifen, das von der Armee abgesichert wird, werden wir uns energisch zur Wehr setzen.»
Offenbar besitzt IS Schläferzellen in Hajar al-Aswad, die dort im Schutze des Waffenstillstands eingerichtet wurden. IS-Kämpfer und -Sympathisanten versuchen periodisch umliegende Quartiere abzutasten, um entweder einen blossen Propagandaerfolg zu erreichen, oder aber, wenn dies möglich wird, sich als die beherrschende Macht einzurichten.
IS kann nicht mehr überraschen
Doch es ist heute für IS nicht mehr so leicht wie es in den Jahren 2012 und 2013 war, sich ein Machtmonopol zu erschleichen. Damals, als IS sich in Raqqa festsetzte, indem es die Kollegen und Rivalen vertrieb, die gemeinsam mit IS-Kräften Raqqa erobert hatten, waren die von IS angewandten Methoden neu und unbekannt. Heute kennen die Rivalen und Kollegen «des Kalifates» sein Vorgehen und lassen sich nicht mehr überrumpeln. Alle wissen, «das Kalifat» geht auf Alleinherrschaft aus. Wo immer es versucht, sich einzupflanzen, zögert es nicht, bisherige Verbündete und Helfer aus dem Wege zu räumen, wenn nötig durch Meuchelmorde an den Führungspersonen. Die anderen Gruppen des Aufstands gegen Asad setzen sich deshalb zur Wehr gegen erste Schritte von IS, sobald solche erkennbar werden.
IS zieht offenbar seine Kämpfer wieder zurück in die Schläferzellen, wenn deutlich wird, dass das angestrebte Machtmonopol – noch – nicht erreicht werden kann. Da die Rebellen ja auch im Kampf gegen Damaskus stehen und von der Regierung belagert und bombardiert werden, solange kein Waffenstillstand besteht, kann IS stets damit rechnen, dass seine Rivalen und Gegner allmählich im Kampf mit Damaskus geschwächt werden, während IS seine Kämpfer, versteckt in den Schläferzellen, unversehrt für den nächsten Versuch, ein Machtmonopol zu erschleichen, bereit hält.