Noch vor einem halben Jahr hat Ihr Korrespondent voller Überzeugung geschrieben, dass sowohl bei den Wahlen in den USA als auch bei den „Wahlen“ in China glasklar ist, wer gewinnt. Im Falle von Amerika hat er sich buchstäblich „trumpiert“. Bei den anstehenden chinesischen „Wahlen“ ist die Sachlage zwar klar, dennoch aber kompliziert. Denn das Wahlprozedere sowohl in Hongkong als auch in Peking ist keinesfalls damit abgetan, indem man Wahlen in Anführungszeichen setzt. Auch ein autoritärer Staat wie die Volksrepublik China kann schon lange nicht mehr – mindestens seit Reformbeginn vor bald vierzig Jahren – ohne einen Grundkonsens mit dem Volk regiert werden. Im besten Fall heisst das zwar nicht Regieren durch und mit, sondern für das Volk.
Von oben nach unten
Chinesinnen und Chinesen haben ausser auf Dorfebene keinen direkten Einfluss auf das politische Geschehen. Die allmächtige Kommunistische Partei diktiert von oben nach unten. Die rund dreitausend Abgeordneten des derzeit in Peking tagenden Nationalen Volkskongresses (Parlament) zum Beispiel sind ebenso wie das Zentralkomitee, d. h. die Delegierten des im Herbst stattfindenden viel wichtigeren Parteitages, fein säuberlich zunächst von oben nach unten und danach, wenn Personalien und Inhalte geregelt, vom Kreis über die Präfektur bis zur Provinz von unten nach oben bestimmt und ausgewählt.
„Ein Land, zwei Systeme“
In der chinesischen Sonderverwaltungs-Zone Hongkong wiederum gelten wieder andere Regeln. Seit der „Rückkehr zum Mutterland“ vor zwanzig Jahren gilt dort das vom grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping erdachte Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“. Die ehemalige britische Kronkolonie darf fünfzig Jahre, also bis 2047, ihr von den Briten ererbtes System beibehalten. Das betrifft Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit genauso wie eine unabhängige Justiz. Seit 1997 hat das trotz steigendem Druck aus der Hauptstadt Peking recht gut funktioniert.
Basic Law
An der Demokratie freilich scheiden sich in Hongkong die Geister. Die Kronkolonie war nie, das heisst gut 150 Jahre lang, eine Demokratie. Der Gouverneur wurde stets ohne irgendwelche Mitsprache der Lokalen von London eingesetzt, auch der 28. und letzte Gouverneur Chris Patten. Er trat sein Amt 1992 an und wollte noch ganz schnell demokratische Verhältnisse einführen. Das misslang, denn nichts dergleichen wurde in den 1980er-Jahren zwischen Deng Xiaoping und Margareth Thatcher ausgehandelt. Patten wurde von der chinesischen Propaganda wüst als „Hure des Westens“ beschimpft. Im Grundgesetz, dem Basic Law, wurden dann mittelfristig allgemeine Wahlen für den Chefposten der Sonderverwaltungs-Zone vorgegeben. Unter chinesischer Kontrolle, versteht sich. Ein aus Berufsleuten, Tycoons, Bauern, politischen Parteien und Regionen zusammengesetztes Wahlkomitee von 1‘200 Mitgliedern wählt aus der von Peking abgesegneten Liste zwei bis drei Kandidaten und Kandidatinnen aus.
Maximalforderungen
Obwohl eine allgemeine Volkswahl für 2017 vorgesehen war, wurde das vor zwei Jahren verhindert. Nicht von Peking, sondern vom Parlament, der Legco. Begründung: ein „fake-allgemeines Wahlrecht“ sei vorgeschlagen worden, denn die Hongkong-Chef-Kandidaten müssen zuvor von China für gut befunden werden. Die Studenten-Demonstrationen, welche die Stadt wochenlang lahmlegten, setzten sich in diesen Jahren ebenfalls für mehr Demokratie ein. Die Studenten traten, wie einst die Arbeiter und Studenten bei den Tiananmen-Demonstrationen 1989 in Peking, mit Maximalforderungen an nach der Devise „alles oder nichts“. Wie vorauszusehen war, kam das Nichts aus Peking. Weder hüben noch drüben war ein Kompromiss in Sicht. Heute ist Hongkong fast eine geteilte Stadt. Sogar Rufe nach Loslösung von China, nach Unabhängigkeit, wurden schon laut.
Hinter dem Vorhang
In diesem für China entscheidenden Wahljahr legt die KP-Führung viel Wert auf politische und vor allem soziale Stabilität, konfuzianisch ausgedrückt auf Harmonie. Das gilt nicht zuletzt auch für Hongkong und die Wahlen vom 26. März. Wegen dem Legco-Rückzieher dürfen die Wahlberechtigten der rund 7,5 Millionen Einwohner nur zusehen. Immerhin küren 250‘000 davon – das sind knapp drei Prozent – das 1200-köpfige Wahlkomitee. Um Kandidat zu werden, sind 150 Nominationsstimmen aus diesem Komitee erforderlich. Wie schon in früheren Chef-Wahlen ist Peking, meist hinter dem Vorhang, sehr aktiv. Zum einen bei der Auswahl der Kandidaten, zum andern beim Druck auf die Wahlmänner und Wahlfrauen, den Peking Genehmsten zu wählen. Auch ein möglichst gutes Resultat ist wichtig. Es reicht nicht, einfach gewählt zu werden. Ein gutes Resultat widerspiegelt und verspricht gleichzeitig auch eine gewisse Popularität. Die ist für Hongkong, besonders aber auch für Peking wichtig. Für Hongkong jedenfalls gilt, dass der Regierungschef sowohl das Vertrauen des Volkes als auch der Pekinger Führung zwingend nötig hat.
Carrie Lam
Der abtretende Regierungschef Leung Chun-ying war vor fünf Jahren zwar der Wunschkandidat Pekings. Doch er erhielt nur 689 Stimmen. Seine Regierungstätigkeit war ein Desaster und gipfelte 2014 im Aufstand der Studenten und der Jugend. Er tritt deshalb nicht mehr zu einer möglichen zweiten Amtszeit an. Aus persönlichen Gründen, wie er sich beeilt zu versichern, keineswegs auf politischen Druck. Die frühere Nummer zwei der Exekutive, die 59 Jahre alte Beamtin Carrie Lam Cheng Yuet-ngor hat nun alle Chancen, als erste Frau Hong Kong vorzustehen. Sie ist nicht nur in Peking wohlgelitten, sondern verfügt auch, für Hongkonger Politiker eher ungewöhnlich, über eine gewisse Popularität. Immerhin erhielt sie 580 Nominationen aus dem Wahlkomitee. Zwar reichten Ende März 601 Stimmen zu Krönung. Doch damit wäre weder Carrie Lam noch Peking zufrieden.
Gräben einebnen
Lams zwei Mitbewerber haben wenig Chancen zu reüssieren. John Tsang Chun-wah, einst als Beamter für Hongkongs Finanzen zuständig, erhielt gerade einmal das notwendige Minimum an Nominationen, nämlich 150. Auch der frühere Richter Woo Kwok-hing hat kaum Aussicht auf Erfolg. Carrie Lam hat inzwischen ein umfangreiches Regierungsprogramm vorgestellt mit dem Ziel, Gräben mit Kompromissen einzuebnen. Sie habe, sagte sie schon vor Monaten, in Hongkong eine wachsende Anti-Business- und Anti-Festland-Stimmung festgestellt. Dies jedoch, so Lam, sei für die längerfristige Entwicklung nicht hilfreich. Ueber das dornige Kapitel der politischen Reformen – zumal das allgemeine Wahlrecht – schwieg sie sich vorerst aus. Mehr Mitsprache für die Jugend hingegen ist für Kandidatin Lam ein wichtiger Punkt. Einer der jungen Anführer der Studentenunruhen, Joshua Wong Chi-fung, meldete sich allsogleich forsch und kompromisslos zu Wort: „Lam will junge Menschen kaufen. Aber kein junger Mensch wird von ihr hinters Licht geführt und kein junger Mensch wird der Regierung beitreten.“
Der Ausgang der Hongkonger Wahl ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewiss. Falls Peking nicht im letzten Augenblick einen Rückzieher macht, ist Carrie Lam der Chefposten nicht mehr zu nehmen. Professor Willy Wo Lap-lam von der Chinesischen Universität Hongkong bringt es folgendermassen auf den Punkt: „Die Wahl wird immer mehr eine typisch chinesische Wahl. Der Gewinner ist schon bekannt, bevor die ersten Stimmen abgegeben sind.“