Im Irak hat die Vorwahlperiode begonnen. Am 30. April wird gewählt. 9045 Kandiaten bewerben sich um 325 Parlamentssitze. Es gibt es 39 grössere Koalitionen. Die Beobachter merken an, dass kaum einer der Kandidaten ein Programm oder Programmpunkte darüber vorlegt, was er, wenn gewählt, zu tun gedenkt. Eine riesige Zahl von Wahlplakaten zeigt lediglich das Bild des Kandidaten oder der Kandidatin. Dies ist insofern verständlich, als sich in Wirklichkeit alles um eine Hauptfrage dreht. Sie lautet: kann Ministerpräsident Maleki ein drittes Mandat erlangen und damit seine bisher sehr energisch ausgeübte Einmannherrschaft über das Land fortsetzen und festigen?
Unvermindeter Bombenterror
Im Irak gehen täglich Bomben hoch. Die Zahl der Todesopfer ist so sehr angestiegen, dass sie jene des Jahrs 2008 erreicht hat. Dies war das Jahr, in dem der irakische Bürgerkieg von 2006 und 2007 erst langsam abzuklingen begann.
Ausserdem gibt es eine Provinz, die flächenmässig grösste des Landes, Anbar, deren beide wichtigste Städte, Fallouja und Ramadi, sich in Händen von Aufständischen befinden. Die Armee hält sie mehr oder weniger umschlossen und bekämpft - nicht übermässig energisch - die islamistischen und die Stammesmilizen, die dort gemeinsam das Regiment führen. Die zivile Bevölkerung ist weitgehend geflohen. In Teilen von Anbar wird daher nicht gewählt werden.
Diskriminierung der Sunniten
Es sind nicht nur die dortigen Rebellen, die sich der Regierung widersetzen. Die sunnitisch arabische Minderheit, rund ein Viertel der Bevölkerung, fühlt sich diskriminiert. Sie bringt ihre Unzufriedenheit täglich zum Ausdruck. Ein Jahr lang haben beständig Demonstrationen in den sunnitischen Landesteilen stattgefunden. Sie wurden zu Beginn dieses Jahres durch die Sicherheitsleute Malekis gewaltsam beendet. Seither gibt es die Aufstandsbewegung in Anbar.
Ein grosser Teil der regelmässig wiederkehrenden Bombenanschläge sind sunnitischen Extremisten zuzuschreiben. Manchmal kommen allerdings auch Bomben aus schiitischen Kreisen, denen es darum geht, für Anschläge, die ihre Gemeinschaft erlitten hat, Rache zu üben.
Eigeninteressen der Kurden
Ein weiteres Viertel der Bevölkerung sind Kurden, die meisten von ihnen gehören ebenfalls zur sunnitischen Form des Islams. Doch für sie ist die ethnische Zugehörigkeit massgebend. Sie streben nach einem Maximum von Unabhängigkeit. Oftmals streiten sie sich mit der Zentralregierung von Maleki. Zur Zeit geht der Streit darum, ob sie das Erdöl unter ihrem Territorium selbst fördern und verkaufen dürfen, oder ob dies ein Monopol der zentralen Erdölbehörden sein soll, das heisst des Erdölministeriums von Bagdad.
Wenn Maleki die kurdischen Stimmen im Parlament braucht, macht er den Kurden Zugeständnisse. Im Gegenzug stimmen sie dann für ihn im Parlament von Bagdad. Dies war der Fall, als Malekis Feinde 2012 versuchten, den Ministerpräsidenten durch ein Misstrauensvotum zu Fall zu bringen. Die Kurden retteten ihn.
Die Wirtschaft beruht auf Erdöl
Die irakische Wirtschaft beruht fast nur auf der Erdölproduktion. 90 Prozent des Brutto Sozialproduktes geht aus dem Erdöl hervor. Betrieben wird die Erdölförderung durch ausländische Erdölfirmen, die für den irakischen Staat arbeiten. Die Produktion ist unter dieser Regie stark angewachsen. Soeben hat Lukoil, die russische Firma, einen Vertrag für das bedeutende Ölfeld, West Qurna 2, in Südirak unterzeichnet. Der Irak hofft, noch dieses Jahr zum zweitgrössten Erdölproduzenten der Welt zu werden. Mit ihren Geldern ist die Zentralregierung dafür ein wichtiger Partner.
Die Sunniten haben gute Gründe anzunehmen, dass das das meiste Geld in schiitische Hände gerät. Denn Maleki führt eine schiitische Partei an, die ihrerseits schiitische Verbündete hat. Zudem bestehen auch die Sicherheitskräfte, Geheimdienste, Polizei und Armee in erster Linie aus Schiiten. Für Maleki ist auf sie mehr Verlass als auf die "feindlichen" Sunniten. Die Kurden haben ihre eigene Truppe und ihre eigene Polizei.
Antiterror und Anti-Baath-Gesetzgebung
Gegen die Sunniten werden strenge Antiterrorgesetze angewandt. Sie werden durch eine Anti-Baath-Gesetzgebung ergänzt und verstärkt, die sich gegen die Staatspartei Saddam Husseins und ihre früheren Mitglieder richtet. Auch der Oberste Gerichtshof des Landes wird von Maleki dominiert. Er entscheidet ziemlich offensichtlich nach den Weisungen des Regierungschefs. Parteigänger des Ministerpräsidenten fungieren als Finanzminister und als Zentralbankchef. Der frühere Finanzminister, Rafi al-Issawi, ein Sunnit trat im März 2013 zurück. Maleki hatte zuvor dessen Leibwächter verhaften und beschuldigen lassen, sie stünden in Verbindung mit den Terroristen. Der Minister musste aus Bagdad fliehen.
Verluste auf der lokalen Ebene
In den lokalen Wahlen des vergangenen Jahres hat die Partei des Ministerpräsidenten schlecht abgeschnitten. Viele der örtlichen Politiker und Interessengruppen, die sich von ihm losgesagt hatten, gewannen. Sogar in den Regierungen der Grossstädte Bagdad und Basra erhielten rivalisierende Parteien die Mehrheit. Das hängt auch mit den ungenügenden Leistungen der Regierung im Bereich der Sicherheit und der Infrastruktur zusammen. Trotz seines bedeutenden Erdöleinkommens hat das Land noch immer keine genügende Elektrizitätsversorgung, zu wenig sauberes Trinkwasser, Benzinknappheit, weil der Irak zwar viel Erdöl fördert, jedoch nicht über genügend Raffinerien verfügt.
Ausbau der Macht al- Malekis
In der Zwischenzeit hat Maleki aber dafür gesorgt, dass sie sich diese Mängel nicht so leicht auf die Wahlergebnisse auswirken können. Er erliess ein Gesetz, das hohe Schwellen für den Gewinn von Wahlen festlegt. Dies benachteiligt Einzelkämpfer und Kleinparteien. Er splitterte die sunnitische Opposition auf, indem er mit den sunnitischen Stammesmilizen der amerikanischen Zeit, damals hiessen sie Sahwa, "Awakening", teilweise zusammenarbeitet. Teils stellt er sie wieder ein, teils aber auch nicht. Sunnitische Politiker, welche die Gewalttätigkeit der sunnitischen Terroristen ablehnen, erhielten unwichtige aber gut bezahlte Posten in Regierung und Verwaltung.
Maleki kultiviert sowohl seine iranischen Nachbarn wie auch deren amerikanische Gegenspieler erfolgreich. Die Iraner sorgten dafür, dass sein wichtigster schiitischer Konkurrent, Muqtada Sadr, der Held der schiitischen Armenviertel, zuerst seinen Widerstand gegen Maleki aufgab und schliesslich überhaupt aus der Politik ausschied. Die Amerikaner rüsteten die irakischen Truppen mit Waffen aus.
Das Spiel mit der Angst
Paradoxerweise begünstigt auch die schlechte Sicherheitslage die Wahlchancen Malekis. Sie ist so schlecht, dass viele Iraker, sogar die wohlhabenderen sunnitischen und die säkular ausgerichteten bürgerlichen Schichten, den Absturz ins Chaos fürchten, wenn Maleki nicht mehr das Ruder führt. Dies ist eine Folge der Politik der Machtkonzentration, die er seit dem Abzug der Amerikaner systematisch betreibt. Alle Macht ist in seinen Händen zusammengefasst. Er und seine Loyalisten beherrschen die Sicherheitskräfte.
Diesen gelingt es, soweit Ruhe zu halten, dass "nur" Bombenanschläge stattfinden und ein voller Bürgerkrieg "bloss" in der Wüstenprovinz Anbar ausgebrochen ist. Was würde geschehen, wenn die zügelnde Hand fehlte, die heute die Sicherheitskräfte zusammenhält?, fragen jene Bürger, die etwas zu verlieren haben. Käme es erneut wie 2006 und 2007 zum Bandenkrieg auf den Strassen? Diesmal auch noch ohne die damals vorhandene übergeordnete Besetzungsmacht der Amerikaner? Würde das Land auseinanderfallen und ginge das ohne Bürgerkrieg ab? Syrien ist eine Warnung und zugleich ein gefährlicher Nachbar, der ansteckend wirken könnte. ISIS kämpft im Irak und in Syrien.
Lieber schlecht als noch schlechter?
Maleki selbst erinnert in seinen Wahlauftritten und in den von seinen Gefolgsleuten geleiteten staatlichen Medien an die schrecklichen Jahre, als die Bewaffneten beider Konfessionen die Strassen und die Quartiere von Bagdad und anderer Städte von den Bewohnern der Gegenkonfession zu "reinigen" suchten, indem sie die jeweils anderen blutig aus ihren Häusern vertrieben.
Es gibt zynische Beobachter, die annehmen, ein Teil der Unsicherheit, zum Beispiel in Anbar, werde absichtlich aufrecht erhalten, um Malekis Wahlchancen zu fördern. Dass die Unsicherheit dies bewirkt, ist schwer zu bestreiten. Dass sie absichtlich zu diesem Zweck geschaffen wurde, geht jedoch daraus nicht zwingend hervor. Doch das Paradox wirkt sich jedenfalls aus. Vor die Wahl gestellt: Maleki oder das Chaos?, werden viele jener Iraker, die überhaupt wählen gehen und die zu den Wahlen zugelassen werden, möglicherweise für Maleki stimmen. Es gibt gewiss Unzufriedene, die zu Recht finden, die Maleki Regierung mit all ihrem Ölgeld tue nicht genügend für sie. Das Geld versickere im Sumpf der Korruption. Doch die Unsicherheit im Land ist so gross, dass Maleki auf viele Verunsicherte zählen kann, die trotz allem für ihn stimmen werden, weil sie sich sagen: Maleki mit seinen Sicherheitshorden ist das kleinere Übel, verglichen mit dem, was uns ohne ihn blühen kann.