Angesichts des beginnenden Rückzugs der Amerikaner wollen
alle politischen Kräfte der beiden Staaten mit den Taleban reden.
Diese erklären sich dazu bereit, ausser im Fall von Karzai. Doch die
erhofften Verhandlungen haben weder in Pakistan noch in Afghanistan
angefangen. Die Taleban haben es damit nicht eilig.
Vor dem Schicksalsjahr
Pakistan und Afghanistan stehen vor einem Schicksalsjahr. Ende
2014 werden die Amerikaner und die verbündeten Nato-Staaten ihre
Truppen aus Afghanistan abziehen, nachdem diese 13 Jahre lang einen unbeendeten Krieg gegen die Taleban geführt haben. Dieser Umstand wirft schon heute in beiden Staaten seine Schatten voraus.
Er bedeutet, dass Ende 2014 die Taleban präsent, die Amerikaner
jedoch abwesend sind. Das Pokern darum, wer sich zu jenem Zeitpunkt welche Position einnehmen wird, hat längst begonnen. Es wird in den kommenden Monaten immer hektischer werden.
Wer kann mit den Taleban verhandeln?
Es gibt viele Spieler: die Taleban, jene Afghanistans und die
pakistanischen; die Regierungen von Pakistan und Afghanistan; aber
auch die zahllosen weiteren politischen Mächte in beiden Ländern, die
mit ihren Regierungen manchmal zusammenarbeiten, aber oft auch ihre eigenen Wege zu gehen bestrebt sind.
In Pakistan etwa gibt es die Politik der Regierung, aber auch jene
der Armee unter Leitung des Geheimdienstes ISI, "Inter Service
Intelligence". Regierung und Armee ziehen nicht immer am gleichen Strang. Dazu kommt die politische Opposition, die einzelne Provinzparlamente und Provinzregierungen beherrscht. Entscheidend wichtig sind weiter die zahlreichen bewaffneten Gruppen von
islamistischen Extremisten, die den Taleban nahe stehen, aber nicht
unter der gleichen Führung wirken. Sie wollen alle "Sharia", jedoch
jede nach ihrer Auslegung dieses weiten Begriffes und unter der
Führung ihrer eigenen Machthaber.
Das utopische Ziel: Stabilität
In Afghanistan steht die Karzai-Regierung vor Präsidentenwahlen. Fürdiese Wahlen im kommenden April gibt es bereits 21 Präsidentschaftskandidaten.
Dazu haben die Amerikaner und Nato ihre Finger im Spiel, denn es geht ihnen darum, einen reibungslosen Abzug zu bewerkstelligen und womöglich "Stabilität" zu sichern, nachdem sie abgezogen sein werden. Das Zweite ist wohl ein utopisches Ziel.
Dazu kommen als ebenfalls Interessierte die in vieler Hinsicht
direkt betroffenen Nachbarstaaten Afghanistans: Indien, Iran, und die
zentralasiatischen Staaten, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan,
Kirgistan mit Russland im Hintergrund. China spielt mit, weil die
Chinesen in Afghanistan Bergwerkkontrakte in Milliardenhöhe
erworben haben, sie aber bisher nicht oder nur sehr beschränkt haben
ausbeuten können, weil zu viel Unruhe herrscht.
Pakistan in einer neuen Lage
In Bezug auf Pakistan wird sich das amerikanisch-pakistanische
Verhältnis dadurch verändern, dass Washington nach dem Abzug nicht mehr darauf angewiesen sein wird, ein gutes Verhältnis zu Pakistan zu bewahren, weil das Land nun nicht mehr als Hintergrund und Etappe der amerikanischen Kriegsanstrengung zu dienen hat.
Dies könnte möglicherweise auch zum Abbau der Finanz- und Militärhilfe in Milliardenhöhe führen, welche die USA seit Jahrzehnten leistet. Diese begann mit dem Guerilla Krieg gegen die Sowjetunion in Afghanistan 1979-89, brach dann ab - zum Teil wegen der pakistanischen Atombombe - , wurde aber nach dem Terrorschlag vom 11. September 2001 verstärkt neu aufgenommen, weil Afghanistan daraufhin noch im gleichen Jahr Operationsgebiet der amerikanischen Streitkräfte wurde.
Die Taleban in doppelter Ausführung
Es gibt zwei Arten Taleban, die afghanischen – das sind die ursprünglichen Taleban - und die pakistanischen mit der Bezeichnung TTP für "Weg der Taleban in Pakistan". Zwischen beiden bestehen Verbindungen: politisch-ideologische Parallelen, weil beide vergleichbare Ziele anstreben und ähnliche Kampfmethoden verwenden, aber auch direkte Zusammenarbeit über die weitgehend offene pakistanisch-afghanische Grenze hinweg. Diese Grenze durchquert die pachtunischen Stammesgebiete. Den pakistanischen Teil hat die pakistanische Regierung nicht lückenlos unter Kontrolle, weil die Stammeschefs eine wichtige Rolle als legal anerkannte Behörden spielen.
Diese Stammesgebiete dienen beiden Taleban-Gruppen als Zuflucht. Ein konkretes Beispiel: Eine der Kampfgruppen, jene der Haqqani, hat ihre Wohngebiete in den Stammesregionen Pakistans, kämpft aber in Afghanistan gegen die afghanische Armee und Regierung und gegen die Nato Truppen. Mit den pakistanischen Behörden ist sie bestrebt zusammenzuleben. Dies bewerkstelligt sie durch Kontakte und laufende Verhandlungen mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI.
Die Taleban werden die Amerikaner überdauern
Alle Parteien stellen heute in Rechnung, dass die Taleban den Abzug
der Amerikaner überdauern werden. Wenn diese und ihre Natoverbündeten sie schon nicht ausschalten konnten, so wissen alle Beteiligten, werden sie es ohne die Amerikaner wahrscheinlich auch nicht schaffen. Deshalb versuchen sie jetzt schon, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Dabei herrscht ein Wettlauf: Jene politische Macht, der es gelingt, eine Zusammenarbeit mit den Taleban auszuhandeln, steht in der nahen Zukunft viel stärker da als all ihre Konkurrenten, Feinde oder Rivalen.
Verhandeln möchten deshalb die pakistanische Regierung und die
pakistanische Armeeführung, die Amerikaner und die Karzai Regierung. Karzai und die Amerikaner konkurrieren darum, wer von ihnen mit den afghanischen Taleban ins Gespräch kommen kann; auch Pakistan möchte dabei mitreden, weil Afghanistan und die dortigen Taleban künftig ein enger Nachbar sein werden.
Pakistan und die pakistanischen Taleban
Pakistan und Afghanistan stehen vor dem Ende des amerikanischen
Intervention. Auch in Pakistan geht es in erster Linie darum, mit denpakistanischen Taleban ins Gespräch zu kommen. Die Zentralregierung unter Nawaz Sharif möchte die Verhandlungen führen. Das war eines der wichtigsten Wahlversprechen des neuen Regierungschefs. Es trug dazu bei, dass Nawaz Sherifs die pakistanischen Wahlen im vergangenen Mai gewann. Doch bisher hat der Geheimdienst ISI die Gespräche mit den islamistischen radikalen Gruppen geführt. Das waren natürlich Geheimgespräche, und viele der pakistanischen Offiziere sehen nicht ein, weshalb sie nun die Verhandlungsführung an die Zentralregierung abtreten sollten.
Haben sie doch seit Jahrzehnten Kontakte mit allen Arten von Islamisten gehalten und unter anderem auch dafür gesorgt, dass die Oberhäupter der afghanischen Taleban, Mullah Omar und seine Regierung, in Pakistan, höchstwahrscheinlich in Quetta, halbwegs geheimen Unterschlupf und eine Wirkungsstätte aus dem Exil fanden, nachdem die Amerikaner sie aus Afghanistan verjagt hatten.
Gesteigerte Frequenz der Anschläge
Pakistan und Afghanistan stehen vor dem Ende des amerikanischen
Intervention.Die pakistanischen Taleban haben für Pakistan erste Priorität, weil das Land schwer unter ihren beständigen Mordanschlägen leidet. Alle Versprechen der militärischen und der zivilen Behörden, dass sie diese schon bald eindämmen würden, haben sich als trügerisch erwiesen.
Die mörderischen Anschläge dauern immer an, und ihre Frequenz hat sich in den letzten Monaten erhöht. Deshalb war das Wahlversprechen, "Verhandlungen" zu führen, ein zugkräftiges Argument in den Wahlen vom vergangenen Mai.
Es brachte den beiden erfolgreichsten Parteien, der Muslimliga Fawaz Sharifs, die heute das Land regiert und der Gerechtigkeitsbewegung Imran Khans, die heute in der Provinz Pukhtunwali (Hauptstadt Peshawar) die Lokalregierung stellt, Stimmen ein. Doch die Gespräche mit den Taleban haben noch nicht begonnen.
Warum, ist unklar. Es könnte an den Massenmorden durch
Bombenanschläge der vergangenen Monate liegen, wie Nawaz Sharif
öffentlich aussagte. Es könnte aber auch eine Folge des Ringens zwischen Armee und Zentralregierung darum sein, wer die Verhandlungen führen soll.
Angebliche Verhandlungsbereitschaft
Die TTP hat mehrmals erklärt, sie sei zu Verhandlungen bereit. Sie
machte aber auch deutlich, dass sie ihre Forderung sehr hoch schrauben werde: nicht weniger als eine Art von Kapitulation der Regierung. Einer ihrer einflussreichsten Sprecher, der heute als ihr wichtigster operativer Kommandant gilt, Hakimullah Mahsud, gab der BBC ein Interview, in dem er sagte, seine Gruppe sei bereit zu verhandeln. Ihre Forderungen werde sie vorlegen, wenn einmal die Verhandlungen ernsthaft angefangen hätten.
Sie stellten zwei Grundforderungen: Zum Ersten müssten
die Amerikaner gehen und die Drohnenagriffe aufhören. Pakistan
habe sich von den Amerikanern zu trennen. Zum Zweiten sei die Sharia in Pakistan einzuführen, weil das gegenwärtige Regime
"unislamisch" sei. Was in seinen Augen ein Scharia Regime für Pakistan bedeuten würde, sagte er nicht, doch man kann es sich ausmalen..
Lockrufe der afghanischen Taleban
Ihre Vettern, die Taleban in Afghanistan sprechen schon seit mehreren
Jahren von der Möglichkeit von Verhandlungen. Zuerst geschah das in geheimen Gesprächen mit den Amerikanern und manchmal über saudische, später auch über deutsche Vermittler. Noch später sprachen beide Seiten direkt miteinander über mögliche Verhandlungen und deren Agenda.
Doch zu eigentlichen Verhandlungen ist es nicht gekommen. In Qatar hätten am vergangenen 18.Juni die Gespräche mit den Amerikanern
beginnen sollen. Auch eine Delegation der Karzai-Regierung befand sich in Qatar. Doch die angekündigten Verhandlungen begannen nicht, weil die Taleban ihr dortiges Büro mit Flagge und Aufschriften als "Vertretung des Islamischen Emirates von Afghanistan" zu stilisieren versuchten. Das hat besonders Karzai, aber auch die Amerikaner erzürnt.
Karzai möchte mitreden
Karzai hat seinerseits seit geraumer Zeit eine afghanische
Versöhnungsinstanz eingesetzt, die mit den Taleban ins Gespräch kommen sollte. Doch dies kam nie wirklich zustande. Ganz im Gegenteil wurde der Vorsitzende jener Kommission ermordet. Die Taleban erklären immer wieder, sie seien bereit, mit den Amerikanern zu verhandeln, jedoch nicht mit Karzai. Dieser sei nur eine Marionette der Amerikaner.
Die Vorstellung der Amerikaner scheint zu sein, dass die Taleban
als Resultat eines Abkommens das Recht erhalten könnten, als legale
Partei in dem demokratischen System Afghanistans mitzuwirken. Sie
müssten zu diesem Zweck, die Verfassung anerkennen, unter der
gegenwärtig Karzai regiert. Abänderungen dieser Verfassung könnten
vielleicht ausgehandelt werden. Doch dies ist sehr weit entfernt von allem, was man über die politischen Ziele und Vorstellungen der afghanischen Taleban weiss.
Verhandeln oder nur über Verhandlungen reden?
Es ist keineswegs sicher, dass die Taleban In Pakistan und Afghanistan wirklich verhandeln wollen. Es könnte durchaus sein, dass es ihnen in Wirklichkeit lediglich darum geht, durchzuhalten, bis die Amerikaner verschwinden. In der Zwischenzeit über Verhandlungen zu reden und Hoffnung auf sie zu machen, kann ihnen
dazu dienen, dass die Amerikaner, die afghanische Armee und die
Pakistani sie etwas weniger energisch angreifen, als sie dies
möglicherweise tun würden, wenn ihnen jede Hoffnung auf eine
Verhandlungslösung genommen würde. Mit anderen Worten: Es könnte den Taleban beider Staaten mehr darum gehen, Zeit zu gewinnen, bis die Amerikaner abziehen, als darum, schon heute ihr künftiges Verhältnis zu den beiden Staaten auszuhandeln. Denn nach dem Abzug der Amerikaner wären sie ohne Zweifel in einer besseren Verhandlungsposition als gegenwärtig.
Es ist aber auch denkbar, dass es unterschiedliche Meinungen unter
den Taleban gibt: Leute der harten Linie, die weiterkämpfen wollen, und eher politische Köpfe, die glauben, durch Verhandlungen könnten
Verluste an Menschenleben und Geld reduziert werden. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die inneren Diskussionen zwischen derartigen Gegensätzen bei den Taleban zu einer explorativen Grundhaltung führen nach dem Motto: "Reden wir mal über Verhandlungen, um zu sehen, was dabei möglicherweise herauskommen kann!"
Mit Gewalt an den Verhandlungstisch?
Die Amerikaner setzen in erster Linie auf ihre Drohnen, um die Taleban zum Verhandeln zu zwingen. Doch ihre Rechnung scheint nicht aufzugehen. In mancher Hinsicht wirken die Drohnen sogar
kontraproduktiv. Zwar fallen ihnen immer wieder Führer der Taleban
beider Länder zum Opfer. Opfer gibt es jedoch auch immer unter der
zivilen Bevölkerung, und deren Ressentiments und Rachebedürfnisse
wachsen beständig. Ausserdem gilt: Je mehr Führer umkommen, desto mehr werden sie durch Taleban-Kämpfer aus den unteren Rängen ersetzt. Der Nachschub ist unbegrenzt.
Dies führt dazu, dass beständig neue
Chefs nach oben rücken. Das sind Leute aus dem Guerillakrieg, mehr
Kämpfer als Politiker. Solange sie noch neu in den ührungspositionen sind, werden sie zunächst eher auf möglichst energische Fortsetzung "des Kampfes" ausgehen. Die Erkenntnis, dass politische Manöver ebenfalls zur Verbesserung ihrer Lage beitragen könnten, dürfte - falls überhaupt - später kommen, wenn die neuen Führer mehr Einsicht in die weiter gespannten politischen Zusammenhänge gewinnen.
Tiefer Hass wegen der Drohnen
Die Drohnenschläge mit ihren "unbeabsichtigten" Opfern sind in beiden Staaten so unbeliebt, dass die Regierungen versuchen, ihre
Zusammenarbeit mit den Amerikanern in Sachen Drohnen abzustreiten. Die Drohnen starten von Flugplätzen in Pakistan und in
Aghanistan und werden dort auch gewartet auf. Die CIA betreibt sie dort. Doch die Politiker beider Länder behaupten in der Öffentlichkeit, sie verböten Drohnenangriffe. Womit sie allerdings ungewollt einräumen, dass die Amerikaner trotz ihrer Einsprache – so sie denn wirklich erfolgt - in ihren Ländern tun und lassen können, was ihnen beliebt.
"Ein Ende der Drohnenschläge" gehörte ebenfalls zu den
Wahlverheissungen von Nawaz Sherif. Das Gleiche werden auch viele der Präsidialkandidaten in den auf den kommenden April bevorstehenden afghanischen Wahlen versprechen.
Die neuen afghanischen Streitkräfte
Die Amerikaner setzen neben den Drohnen auch auf die von ihnen und anderen Nato-Staaten im Eiltempo ausgebildete afghanische Armee und Polizei, um künftig die Taleban in Afghanistan in den Schranken zu halten. Die Nato-Staaten haben versprochen, der afghanischen Regierung auch nach ihrem Abzug sowohl finanzielle Hilfe wie auch Unterstützung beim weiteren Aufbau der Armee zukommen zu lassen. Doch die Taleban rechnen damit, dass sie diese Armee überrennen oder zermürben können, sobald ihr das amerikanische Rückgrat fehlt. Es ist zu befürchten,dass ihre Rechnung aufgehen wird.
Wird in Pakistan weiterhin die Armee die Gespräche führen?
In Pakistan ist die Lage der Armee gegenüber den Taleban und anderen Jihad-Extremisten insofern anders als im heutigen Afghanistan, als dort eine alte Zusammenarbeit zwischen den beiden Lagern besteht. Ob diese Zusammenarbeit nach dem Abzug der Amerikaner weitergeführt werden wird, bleibt offen. Doch dürfte kein
Grund bestehen, warum die Armee und ihre Geheimdienste Kontakte und eine Zusammenarbeit aufgeben sollten, die sie unter teilweiser
Geheimhaltung während all der Jahre der Allianz und Zusammenarbeit mit den amerikanischen Truppen und deren Geheimdiensten durchhielten. Man hat anzunehmen, dass dies geschah, weil den Pakistani schon früh bewusst war, dass die Amerikaner am Ende abziehen würden, die Jihadisten aber bleiben.
Doch die Frage, um die es für die pakistanische Armee zukünftig gehen wird, ist heute die folgende: Werden in Zukunft weiter die Dienste der pakistanischen Streitkräfte in den Beziehungen zu den Jihadisten das Sagen haben? Oder wird sich die Sache umkehren, so dass die Jihadisten Weisungen geben, denen die regulären Soldaten dann Folge leisten?
Unter Ministerpräsident Nawaz Sharif möchte nun auch die
pakistanische Regierung mitsprechen. Früher hatten sich die
pakistanischen Regierungen geweigert, mit den pakistanischen Taleban zu reden. Dies war Sache der Geheimdienste gewesen. Die TTP haben daher nun die Möglichkeit, zwischen den beiden möglichen Gesprächspartnern zu lavieren.
Vorleistungen der Pakistani und Amerikaner
Bisher gibt es nur Gespräche über mögliche Verhandlungen. Eigentliche Verhandlungen haben weder im Süden (Pakistan) noch im Norden (Afghanistan) angefangen. Die Taleban haben erreicht, dass einige ihrer gefangenen Führer freigesetzt wurden, gewissermassen als Vorleistung für erhoffte Gespräche. So zum Beispiel der einstige
Zweite Mann Mullah Omars, der Mullah Beradar. Ihn hatten die
pakistanischen Geheimdienste im Februar 2010 in Karachi gefangen
genommen, weil sie - wohl nicht ohne Grund - vermuteten, dass er
damals, von Karachi aus, Fäden zu den Amerikanern zu spinnen begann.
Nun haben sie ihn im September dieses Jahres wieder frei gelassen,
gewiss in der Hoffnung, dass er diese Fäden weiter zu spinnen vermöge, wobei sie natürlich hofften, dass das pakistanische Ende der erhofften Verbindungslinie in ihren Händen, nicht in jenen der Amerikaner, oder jenen der pakistanischen Regierung zu liegen käme. Auch die Amerikaner haben einige Taleban-Führer freigelassen.
Noch mehr Blutvergiessen
Doch "der Krieg" geht weiter. Die Taleban führen ihn mit Bomben,
Tretminen und Überfällen. Die Amerikaner mit Drohnen. Die afghanische Regierung mit ihrer neuen Armee, die offiziell im Juni dieses Jahres die Verantwortung für die Sicherheit im ganzen Land übernommen hat - ausgenommen Notfälle, in denen sie Hilfe von der Nato braucht.
Die Taleban haben ihren Einsatz gesteigert. In Pakistan begehen sie
Massenmorde wie jenen in einer Kirche von Peshawar vom vergangenen 22.September, in dem über 80 Menschen getötet wurden. Ebenfalls wurden in Peshawar im gleichen Monat weitere 69 Personen durch zwei andere Bombenanschläge getötet. Doch die Taleban führen auch "gezielte Tötungen" durch (um den amerikanischen Euphemismus zu verwenden), die
sie gegen Regierungsverantwortliche im zweiten Rang in allen Provinzen richten, wie Provinzgouverneure, Distriktverwalter, Dorfälteste und Stammesführer, Polizei- und Armeekommandanten. Dies geschieht auch in Afghanistan, wo in den letzten zehn Jahren gegen 1000 solcher Regierungsvertreter auf der lokalen Ebene ermordet wurden.
Eliminierung der Provinzverantwortlichen
Sowohl in Pakistan wie in Afghanistan sind am grössten muslimischen
Feiertag, dem Id al-Adha, vom vergangenen 15. Oktober, je ein
hochgestellter Regierungsbeamter durch Bomben ermordet worden. Beide traf es in einer Moschee, als sie am Festtagsgebet teilnahmen. Der Pakistaner war Israrullah Gandapur, Justizminister der
Lokalregerierung von Pakhtunwa, Hauptstadt Peshawar, ein enger
politischer Mitstreiter Imran Khans und Mitbegründer seiner Partei.
Imran Khan gehört mit Nawaz Sharif zu den pakistanischen Politikern,
die im September auf einem Kongress nach den Wahlen übereingekommen waren, einerseits Verhandlungen mit den Taleban zu führen und andrerseits dafür zu sorgen, dass die amerikanischen Drohnenschläge aufhörten.
In Afghanistan war das Opfer der Provinzgouverneur von Logar, der Provinz südlich von Kabul, Arsala Jamal. Er war einer jener Afghanen, die aus dem Ausland (in seinem Fall Kanada) nach dem Sturz der Taleban heimgekehrt waren, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen. Er war ein enger Vertrauter Karzais gewesen und hatte dessen letzte Wahlkampgne organisiert. In Logar hatte er sich dafür eingesetzt, dass das von den Chinesen übernommene dortige Kupferbergwerk, das als das zweitgrösste der Welt gilt, die Arbeit aufnehmen kann. Die Chinesen sollen drei Milliarden Dollar investiert haben, konnten jedoch wegen Sicherheitsfragen und Unstimmigkeiten mit der Regierung die Anlage nicht in Betrieb nehmen.
Die Ermordung solcher Persönlichkeiten trägt dazu bei, die gesamte
Bevölkerung beider Länder einzuschüchtern und alle Hoffnungen auf
konstruktive Aufbaupolitik zu vernichten.
Abtransport des Kriegsgerätes der Nato
Die Nato hat ihrerseits bereits mit dem Abtransport von aliiertem
Kriegsgerät begonnen. Dieser stösst auf allerlei Hindernisse, weil
die Afghanen beschlossen haben, die Alliierten hätten nicht nur Zoll
für den Import ihrer Waffen und Waren zu zahlen, sondern nun auch bei der Ausfuhr Strafzölle dafür, dass sie bei der Einfuhr diesen Zoll
ignoriert hätten. Sie sollen 1000 Dollar pro Lastwagen fordern. Die
Pakistani wollen Wegzölle für die Benützung ihrer Strassen von der
afghanischen Grenze bis nach dem Hafen von Karachi. Dies führt dazu, dass die Alliierten für viele Transporte den viel teureren Luftweg von Afghanistan nach baltischen Häfen wählen. Schweres Material, das den Transport nicht lohnt, geht an die afghanische Armee oder wird verschrottet.
Der Rückzug der Russen brachte weiteres Blutvergiessen
Als die sowjetische Armee Ende 1988 aus Afghanistan abzog, hörte der afghanische Krieg nicht auf. Die sogenannten afghanischen Warlords kämpften untereinander, und in Kabul hielt sich bis 1992 der
Vertraute Moskaus, Mohammed Najibullah, mit der damaligen afghanischen Regierungsarmee, die zunächst von Moskau Unterstützung erhielt.
Erst als diese mit dem Ende der Sowjetunion aufhörte, wurde Kabul von zwei gemeinsam operierenden Kampfgruppen der Mujaheddin erobert, die der Guerilla Chef Ahmed Shah Mas'ud anführte. Sie hielten Kabul, jedoch wurde diese Stadt, die bis dahin beinahe unbeschädigt geblieben war, von 1994 bis 1996 seitens Glubbeddin Hekmatyar und seiner "Islamischen Partei" aus der Ferne mit Artillerie und Raketen beschossen und weitgehend zerstört. Hekmatyar wurde anfänglich dabei von Pakistan unterstützt.
Hekmatyar und sein Intimfeind, Ahmed Schah, mussten schliesslich
beide der neuen Macht der Taleban weichen. Diese erwiesen sich als
überlegen, weil sie von Pakistan aus lanciert und bewaffnet wurden,
saudische Finanzunterstützung erhielten und das Wohlwollen der CIA
genossen. Sie eroberten zuerst Kandahar (1994), dann 1996 Kabul und zum Schluss nach einem Rückschlag, die nördliche Hauptstadt Mazar-e-Sharif im Jahr 1998. Ahmed Shah Mas'ud, damals Chef der sogenannten Nördlichen Allianz, konnte sich nur noch in der nordöstlichen Ecke des Landes halten. Dort wurde er drei Tage vor dem Terrorschlag in New York von als Journalisten verkleideten Selbstmordbombern aus Tunesien getötet, welche die Taleban, wahrscheinlich mit Hilfe ihres damaligen Gastes, Osama Ben Ladhen, organisiert hatten. Dann kam die blinde Dampfwalze der Amerikaner...
Pakistans reduzierte Optionen
Dass Pakistan nach dem Abzug der Amerikaner noch einmal eine ähnliche Rolle wie damals wird spielen können, als es die Taleban nach Afghanistan entsandte und ihren Eroberungszug fernsteuerte, ist
unwahrscheinlich. Schon weil es heute nicht nur die afghanischen,
sondern auch die pakistanischen Taleban gibt, mit denen Islamabad
rechnen muss. Dass der Krieg in Afghanistan, und als Terrorkrieg auch in Pakistan, nach dem Abzug der Amerikaner fortdauern wird, ist nur zu wahrscheinlich. Die neue afghanische Armee wurde aufgestellt, um ihn zu führen.
Im kommenden Jahr werden alle oben erwähnten Gruppen und Staaten darum ringen, welche Ausgangsposition sie für die neue Phase der Auseinandersetzungen in Afghanistan einnehmen können. Dass die Auseinandersetzung bloss eine politische werden wird, nicht auch und vor allem eine kriegerische, wäre zu hoffen. Verhandlungen mit den Taleban sollten dieses Ziel anstreben nach den Absichten der Afghanen, der Pakistani und der Amerikaner. Dies erscheint jedoch zunehmend als eine verlorene Hoffnung, weil es im Interesse der Taleban beider Varianten liegt, den Abzug der Amerikaner abzuwarten, bevor sie verhandeln oder den Entschluss fassen, unmittelbar zum Endkampf übergehen.