Jedes andere Land würde 150 Jahre nach seiner Vereinigung jubeln und feiern. Nicht so Italien. Wieder einmal übt sich das Land in Selbstzerfleischung. Da wird gestritten, ob man überhaupt feiern soll.
Die politischen Schlammschlachten vermiesen jede Festlaune. Auch die gefährlich wachsenden sozialen Spannungen laden nicht gerade zum Jubeln ein. Bis vor 150 Jahren bestand Italien aus vielen einzelnen Staaten. Am 11. Oktober 1860 wurde die Vereinigung des Landes beschlossen.
Der wichtigste Staat auf der Apenninen-Halbinsel war damals das Königreich Piemont-Sardinien – ein seltsamer Staat. Zu ihm gehörten – neben dem Piemont und Sardinien - die beiden heutigen französischen Departemente Savoyen und Hochsavoyen. Hauptstadt des Reiches war Turin. Der König des Reiches hiess Vittorio Emanuele II. Er stammte aus dem jahrhundertealten Haus Savoyen. Ministerpräsident war Graf Benso di Cavour. Er, ein reicher, hochgebildeter Adliger, der kaum Italienisch sprach, gilt als einer der Väter des italienischen Einheitsstaates.
Italien – von fremden Mächten besetzt
Am 11. Oktober 1860 beschloss das Parlament in Turin, sich mit Süditalien und weiten Teilen Mittelitaliens zu vereinen. In Volksabstimmungen in diesen Gebieten sprachen sich 75 bis 79 Prozent für „ein einiges und unabhängiges Italien mit Vittorio Emanuele II. als konstitutionellem König“ aus.
Italienische Historiker sprechen von einer „Einigung von oben“. Zwar gab es Volksabstimmungen, doch das Volk durfte nur absegnen, was von oben beschlossen wurde. Und „oben“, das war Turin.
Dem 11. Oktober 1860 gingen blutige Jahre voraus. Bis vor 150 Jahren war die Apenninen-Halbinsel von fremden Mächten besetzt. In Süditalien herrschten die Bourbonen, in der Lombardei und Venetien die Habsburger, und in Mittelitalien regierte der Papst mit französischer Hilfe. Von diesen fremden Herren wollten sich die Italiener befreien.
„Il Risorgimento“ nennen die Italiener diesen Befreiungskampf. 60 Jahre lang dauerte er. Überall Rebellionen, überall fliesst Blut, Hunderttausende sterben, Zehntausende werden hingerichtet. Verrat und Intrigen, Rache und Verschwörungen. Ein Papst und ein König auf der Flucht. Der päpstliche Innenminister mit dem Dolch im Rücken, ein Freiheitsheld, der gefangen wird, ein König, der exkommuniziert wird, Aufstände, Rückschläge, Strassenschlachten – und das Volk singt die Melodie von Verdis Gefangenendchor aus Nabucco. Dann kam der 11. Oktober.
Plötzlicher Einigungsdrang
Möglich wurde alles durch einen genialen Tauschhandel. Beteiligt daran waren König Vittorio Emanuele II. und Napoleon III. Die beiden verband eine fast enge Freundschaft, immer wieder gingen sie gemeinsam auf die Jagd.
Der Tauschhandel ging so: Vittorio Emanuele schenkte den Franzosen die beiden Savoyen. Im Gegenzug vertrieben 200 000 französische Soldaten, unterstützt von 63 000 piemontesischen Kämpfern, die Habsburger aus der Lombardei. In der Schlacht von Magenta erlitten die Österreicher eine herbe Niederlage und räumten Mailand. Am 24. Juni 1859 wurden die Habsburger bei Solferino endgültig geschlagen.
Das Bild, das italienische Schulbücher von Vittorio Emanuele und Cavour zeichnen, ist etwas gar schmeichelhaft. Denn die beiden wehrten sich zunächst gegen eine Einigung Italiens. Sie fürchteten, ihre Macht zu verlieren. Dann plötzlich überkam beide ein intensiver Einigungsdrang, allerdings nicht ganz freiwillig.
Garibaldi – die treibende Kraft
Überall in Italien, vor allem im Süden, gab es starke Kräfte, die für eine Einigung der Halbinsel kämpften. Wichtigste Figur dieser Bewegung war Giuseppe Garibaldi, eine der hervorragendsten Persönlichkeiten Italiens. Doch Garibaldi, einer der ersten Sozialisten, wollte ein republikanisches Italien – ohne König. Wegen der gewaltigen Popularität Garibaldis fürchteten Vittorio Emanuele und Cavour das Schlimmste: Ein Sieg der Republikaner. Deshalb wollten sie ihnen jetzt zuvorkommen.
Und jetzt plötzlich setzte sich das Haus Savoyen mit Vehemenz für die Einigung Italiens ein, unter seiner Herrschaft natürlich. Also: die eigentlich treibende Kraft zur Einigung Italiens war Garibaldi. Vittorio Emanuele hingegen war der Getriebene.
Auch die Feudalherren im Süden des Landes fürchteten sich vor der Republik und dem „linken“ Garibaldi. Deshalb lockte Vittorio Emanuele die südliche Feudalschicht mit dem Versprechen, ihnen ihre Privilegien und Ländereien zu belassen. Dies ist einer der Gründe für die heute noch vorherrschende Unterentwicklung des Südens.
Feiern auf Sparflamme
Am 11. Oktober 1860 wurde erst der Startschuss zur Vereinigung gegeben. Proklamiert wurde der Staat – einer der jüngsten in Europa – am 17. März 1861. Doch schon jetzt steht fest: Auch im kommenden Frühjahr wird man nicht jubeln. Geplant war ein nationales Fest mit einem schulfreien Tag und geschlossenen Ämtern, einer Freinacht, Volksfesten, Freilufttheater und Konzerten. Der frühere Ministerpräsident Giuliano Amato wurde mit der Organisation beauftragt. Doch jetzt beschloss die Regierung: alles herunterfahren, kein grosses Fest.
Man befürchtet, die Spannungen im Lande könnten sich entladen. 150 Jahre nach der Vereinigung ist Italien zwar ein eigenständiger Staat, doch zusammengewachsen ist er noch längst nicht. Eine italienische Identität gibt es kaum. Einig sind sich die Italiener einzig, wenn ihre Fussballnationalmannschaft spielt. „La nazione senza“ titelte jüngst die italienische Zeitung „la Repubblica“.
Man stelle sich vor: In der italienischen Regierung sitzt eine wichtige, immer stärker werdende Partei, die den Staat, den sie mitregiert, abschaffen will. Die Lega Nord von Umberto Bossi verspottet das Risorgimento und will alle Feiern verhindern. In keinem andern Land – mit Ausnahme vielleicht von Belgien und Bosnien – kämpft eine Regierungspartei gegen den eigenen Staat. Die Lega glaubt nicht an eine Nation von den Alpen bis nach Sizilien.
“Agonisierendes Italien
„Die Italiener sind die grössten Feinde des vereinten Italiens“, schreibt Massimo d’Azeglio. Der italienische Politologe, Schriftsteller und Faschismus-Forscher Emilio Gentile geht noch weiter. Die Italiener seien die grössten Feinde von sich selbst. Gentile hat im Hinblick auf die 150 Jahr-Feier den Gesundheitszustand des italienischen Staates beschrieben („Né stato né nazione. Italia senza meta“). Weder Staat noch Nation, Italien ohne Ziel.
Der Staat und die Nation befinden sich laut Gentile in einem fast „agonisierenden Zustand“. Da und dort herrscht eine hoffnungslose, fast depressive Stimmung. Schlechte Voraussetzungen zum Feiern.
Da sagt vergangene Woche Sergio Marchionne, Fiat-Chef und einer der wichtigsten Wirtschaftsvertreter des Landes: „Italien ist eine Schande“. Das Land habe keinen Kompass mehr. Es sei schwierig, der Welt zu erklären, was in Italien geschehe. Jemand habe die Gehege des Zoos geöffnet und alle irrten jetzt herum. Das Land habe den „institutionellen Sinn“ verloren.
Der Historiker und Politologe Gian Enrico Rusconi fragt sich, ob Italien schon aufgehört habe, eine Nation zu sein. Die Antwort von Gentile: „Eine Nation, die ständig über ihre eigene Identität nachdenken muss, wird sie entweder verlieren oder wird schizophren“.
Tiefe, gefährliche Risse
Die letzten Jahre seien von einem langsamen „Vergessen der Nation“ gekennzeichnet. Die Nation werde „ein leeres Trugbild“, unfähig bei den Italienern Ideale, Gefühle und Emotionen wachzurufen“. Viele Intellektuelle fürchten schon lange eine Auflösung Italiens: Giulio Bollati, Norberto Bobbio, Rosario Romeo und Renzo De Felice.
Es sei zu spät, diese Leiche wiederzubeleben, sagt Gentile. Eine Leiche, die von einem sklerotischen politischen System geschaffen wurde, das während Jahrzehnten blockiert war, obwohl sich die Gesellschaft tumultuös verändert habe. Die Aussichten sind trübe. Gentile erinnert an das „grassierende Misstrauen“ in die Institutionen und eine „wachsende Geringschätzung der politischen Klasse“.
„Dem vereinten Italien geht es nicht gut“, sagt Gentile. Neben der Wirtschaftskrise kommt die bürokratische Ineffizienz, die Verschwendung öffentlicher Gelder, das Anwachsen des Haushaltsdefizits, die sozialen Probleme, die organisierte Kriminalität, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, der wachsende Rassismus gegen Einwanderer aus Osteuropa, Afrika und Asien. Der Nationalstaat sei ein Käfig, in dem verschiedene Völker zu einer Cohabitation gezwungen würden. Immer wieder drohe die Lega mit einer Abspaltung des Nordens, sogar ein Waffeneinsatz werde nicht ausgeschlossen. „Der Staatsapparat ist ein Gebäude mit tiefen, teils gefährlichen Rissen“.
Leonardo da Vinci bringt Italien nicht weiter
Die Mehrheit der Bürger glaubt nicht, dass der Staat etwas Gutes sei. Nur 30 Prozent der Italiener haben Vertrauen in den Staat, zitiert Gentile eine Meinungsumfrage.
Vielleicht sind die Analysen von d'Azeglio, Gentile und Rusconi etwas allzu hart. Da und dort ist doch ein Nationalstolz auszumachen. Ein bisschen zusammengewachsen ist das Land schon. Und die Italiener können auch stolz auf vieles sein: Im Laufe der letzten anderthalb Jahrhunderte tummelten sich auf der Halbinsel geniale Gelehrte, wunderbare Erfinder, herrliche Schriftsteller, kluge Wirtschaftsvertreter, Philosophen, Filmregisseure, Designer, Sportler – und Köche.
Die Gefahr besteht, dass sich das Land selbst lähmt. Anstatt Neues zu leisten, werden frühere Zeiten verherrlicht. Doch das Kolosseum, Botticelli, Piero della Francesca, Leonardo da Vinci oder Michelangelo bringen Italien heute nicht weiter.
Trotz trüben Voraussetzungen: da und dort versucht man doch dem wichtigen Jahrestag zu gedenken. In Turin wurde im Palazzo Reale eine Ausstellung über Vittorio Emanuele eröffnet. In Rom findet in den Scuderie del Quirinale eine Mostra über die Maler des Risorgimento statt. Neue Bücher über den Freiheitskampf werden aufgelegt, die Zeitungen publizieren Risorgimento-Beilagen, Corrado Augias, einer der Chefkolumnisten der „Repubblica“ verfasste auf zwölf DVDs eine italienische Geschichte: „Die Geschichte eines Volkes, das Nation wurde“.
Ich fühle mich als Italienerin
Doch das Italien, das da – auf Sparflamme – gefeiert wird, war noch nicht das Italien von heute. Venetien im Nordosten blieb in habsburgischen Händen. Erst sechs Jahre nach der Proklamation des Königreichs Italien fiel auch diese Region.
Als letztes blieb der Papst, der noch immer in Rom und weiten anliegenden Gebieten herrschte. Er verfügte über ein eigenes Heer und wurde von den Franzosen unterstützt. Doch schliesslich zogen die Franzosen ab. Am 20. September 1870 beschossen italienische Truppen Rom und zogen in die Stadt ein. Am 9. Oktober 1870 wurde Rom ins vereinte Italien integriert. Der Papst wurde in den Vatikan zurückgedrängt. Pius IX tobte und exkommunizierte wieder einmal – vergebens. Dem Papst blieben nur noch der Vatikan, der Lateran und der Landsitz Castel Gandolfo.
Das Italien von heute, mit Venetien und Rom, existiert also erst seit 140 Jahren. Auch wenn es ein fragiles Gebilde ist, Hoffnung gibt es dennoch.
Jedes Jahr wird in Italien mit riesigem Pomp und stundenlanger Fernsehübertragung „Miss Italia“ gewählt. Der Lega Nord gefällt das gar nicht, denn Italien als Nation gefällt ihr nicht. So hat denn Umberto Bossi vor kurzem eine eigene Miss-Wahl veranstalten lassen. Gewählt wurde „Miss Padania“. Padanien nennt man den nördlichen Teil Italiens, den Bossi vom übrigen Land abspalten möchte.
Gewählt zur „Miss Padania“ wurde Elisa Migliorati. Doch – oh Schreck – da gab die dunkelhaarige langbeinige Schöne ein Fernsehinterview, und was sagte sie: „Mi sento più italiana che padana“ - Ich fühle mich mehr als Italienerin denn als Padanierin.