Kürzlich publizierten die Philosophin Lani Watson und die Philosophen Joshua Habgood-Coote und Dennis Whitcomb in einer Fachzeitschrift einen Artikel mit dem Titel «Kann man einen guten philosophischen Beitrag leisten, indem man nur eine Frage stellt?»[1]
Unter dem Titel steht: «Zu diesem Artikel ist kein Abstract verfügbar». Der Artikel enthält nämlich - keinen Text. Das war nicht ein Jux, und das Trio hegte auch nicht den Ehrgeiz, den kürzesten philosophischen Artikel zu schreiben - im Gegenteil: die Frage ist hinterlistig. Sie gibt selbst eine Antwort. Nur anders als erwartet. Das ist allerdings erläuterungsbedürftig.
Eine Frage ist nie nur eine Frage
Zunächst: Eine Frage ist nie nur eine Frage. Sie kann eine Aufforderung sein: «Willst du nicht das Fenster schliessen?»; eine Drohung: «Weisst du, was dir mit deiner Aussage blüht?»; eine Verführung: «Wie wäre es einmal mit diesem Tropfen?»; eine Imponiergeste: «Habe ich den Wettbewerb nicht schon zweimal gewonnen?»; ein Necken: «Sind nicht alle Philosophen in ihr Denken verliebt?»; eine Missbilligung: «Wie kann man Pollocks Bilder wertschätzen?»; ein Anwurf: «Kannst du dich benehmen?»; eine Unterstellung: «Sind Sie korrupt, Herr Bundesanwalt?».
Es gibt eine äusserst ärgerliche Art des Fragens. Man erwartet gar keine Antwort, weil man sie schon kennt. Die Besserwisserei, die rhetorische Frage. Sie verrät den Klugscheisser, der sie stellt. Eine besondere Sorte sind Bullshit-Fragen. Ihnen ist der Inhalt egal. Man will eigentlich gar keine Frage stellen, sondern einfach mit einem Fragezeichen gehört werden. Ich erinnere mich an einen Mitschüler im Gymnasium. Erklärte der Lehrer zum Beispiel «Magnesium und Sauerstoff verbinden sich in einer Redoxreaktion», streckte der Schüler die Hand auf und fragte «Ist es nicht so, dass sich Magnesium und Sauerstoff in einer Redoxreaktion verbinden?». Er fiel in der Matura durch. Stellte wohl zuviele Fragen.
Warum? Was wäre wenn?
Eine Frage ist ein Sprechakt, im Jargon der Philosophen. Der Mensch ist ein sprechagierendes Tier. Besonders zwei Fragetypen kennzeichnen es. Kaum ist der Mensch aus den Windeln heraus, rutscht ihm eine typische Frage über die Lippen, die wir alle bis zum nervtötenden Exzess kennen: Warum? Warum? Warum? Mit der Frage beginnt das Wunder einer nicht zur Ruhe kommenden Neugier: das kausale Denken. Es hob unsere hominiden Vorfahren «disruptiv» aus der Evolution aller anderen Arten heraus. Es löste uns von der Oberfläche der Dinge und der Erde, hat uns den quantentheoretischen Tiefenblick in die Materie und den kosmologischen Blick in die Weiten des Universums gelehrt.
Später, der kindlichen Warum-Phase entschlüpft, stellt der Mensch eine andere persistierende Frage: Was wäre wenn? Unser ganzes Leben besteht aus Was-wäre-wenn-Geschichten, im Jargon: aus kontrafaktischen Szenarien. Die Fähigkeit, zwischen dem Faktischen und dem Kontrafaktischen zu unterscheiden, dürfte ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen sein. Alle anderen Tiere nehmen wahr, was ist, wir nehmen auch wahr, was sein könnte. Wir leben immer in alternativen Welten. Das Was-wäre-wenn-Denken ist die Wurzel von Wissenschaft, Technologie Literatur, überhaupt aller Kreativität und Kultur. Es kann faktenbasiert sein – oft eine Notwendigkeit - , es kann auch ohne Fakten auskommen oder sich gar gegen Fakten richten. Wir nennen dies neuerdings alternative Fakten. In der Politik sind sie meist toxisch, in der Literatur unentbehrlich. Fiktion ist Produktion alternativer Fakten. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass wir Was-wäre-wenn-Szenarien als semireal erfahren. Das heisst, wie unlogisch, absurd, irreal oder surreal sie sein mögen, sie erzeugen reale Gefühle, oft realer als in der Realität. Um mit Musil zu sprechen: Unser Gehirn entwickelt sowohl einen Wirklichkeitssinn wie auch einen Möglichkeitssinn.
Die Suchmaschine treibt uns das Fragen aus
Fragen wächst aus dem Nichtwissen. Mit der Frage verfügt der Mensch über ein äusserst geschmeidiges und effizientes Mittel der Informationsbeschaffung. Nun, im Informationszeitalter, verlernen wir das Fragen. Die Suchmaschinen nehmen es uns vermehrt ab. Big Data begünstigt einen neuen Wissenstypus: das Wissen-wo. Das Netz ist ein riesiges wachsendes externes Gedächtnis, das mich von unnötiger Memorierarbeit entlastet. Wir fragen nicht, wir fragen ab. Dank der Suchmaschinen genügt es, zu wissen, wo ich die entsprechende Information finden kann: «Retrieval» heisst das heute. Es charakterisiert den Wissens-Abrufer. Er weiss nicht, aber er weiss, wo bei Gelegenheit entsprechendes Wissen zu holen ist. Er erspart sich die Mühe, sich mit einer Sache auseinanderzusetzen, und empfindet sich als «wissend», nur schon weil er ja im Besitz eines smarten Geräts ist. Wie verlernen dabei die Neugier, den Sinn für das Ungewisse, Unbekannte, für das Mehrdeutige, das Imaginäre.
Sokratische Fragen
Wenn man mit Fragen sich Wissen beschaffen kann, dann kann man umgekehrt mit Fragen auch (vermeintliches) Wissen als Ignoranz entlarven. Das war das berühmte Vorgehen von Sokrates, zumindest so wie ihn Platon zeichnet. Er liefert den Prototypen des penibel fragenden – mitunter nervenden - Philosophen, der allein der Wahrheit verpflichtet ist: der das Leben prüft. «Ein unbefragtes Leben ist nicht lebenswert», so der viel zitierte Satz von Sokrates vor den Athener Richtern, die ihn zum Tode verurteilten. In den Dialogen befragt allerdings der Philosoph das Fragen selbst nicht. Und er steht nicht allein da. Philosophie wird ja gerne als die Kunst des Fragens charakterisiert, aber die Frage nach dieser Kunst war lange kein grosses Thema. Der Urvater der modernen Philosophie, René Descartes, stellte alles in Frage, was er wahrnahm, nur nicht sein Fragen. Es entspringt dem «natürlichen Licht» des Verstandes. Eines Geschenks Gottes.
Scheinfragen
Ist jede Frage ein guter philosophischer Beitrag? Nein. Aber in Umkehrung der Frage liesse sich sagen, dass ein guter philosophischer Beitrag mindestens eine Frage enthält, die weiter zu verfolgen sich lohnt. Philosophische Fragen geniessen ja landläufig die Wertschätzung der Tiefe und der Beständigkeit, was einen nicht daran hindern sollte, sie kritisch zu befragen.
Immer wieder haben sich im 20. Jahrhundert Philosophen dadurch profiliert, dass sie ihr eigenes Metier gnadenlos zerrupften, traditionelle philosophische Fragen als Scheinfragen oder Mumpitz entlarvten – etwa die logischen Positivisten, Bertrand Russell oder Ludwig Wittgenstein. Der amerikanisch-britische Philosoph Gordon Baker hat ihre Devise – im Geist von Sokrates - bündig formuliert: «Eine unbefragte Frage ist nicht beantwortenswert».
Fragen braucht ein Sprachspiel
Das könnte auch der Hintergedanke der Autorin und der Autoren des Artikels sein. Denn Fragen gehen immer von bestimmten, meist impliziten Voraussetzungen aus. Um eine Frage zu stellen, muss man sich – wie Ludwig Wittgenstein sagen würde – an einem Sprachspiel beteiligen. Ein Spiel hat Regeln. Normalerweise erwarten wir auf eine Frage eine Antwort. Wenn also die Autoren des Artikels keine Antwort liefern, brechen sie die Regeln. Oder vielmehr: Sie machen die Regeln explizit, sie bringen selbstverständliche Voraussetzungen eines Sprachgebrauchs zum Vorschein.
Wissenschaft zum Beispiel ist ein Frage-und-Antwortspiel. Das Spiel weist ein erstaunlich einfaches Muster mit zwei Regeln auf. Erste Regel: Halte eine Antwort nie für die letzte, denn es werden sich aus ihr über kurz oder lang neue Fragen ergeben. Zweite Regel: Halte eine Frage nie für unbeantwortbar, denn sobald du sie anders stellst, kommt eine mögliche Antwort in Sicht. Und dann gilt erneut Regel eins. Ad infinitum.
Postskript
Ich bin ein passionierter Schwimmer. Ich ziehe, wann immer möglich, meine Bahnen im Hallenbad oder im offenen Pool des Berner Marzilibads. Eines Sommertags schossen plötzlich Fragen quer in die Kraulzüge: Was tust du da eigentlich? Wozu? Hat das einen Sinn? Ich hatte keine Antwort, schwamm einfach weiter. Oder vielmehr: Schwimmen genügte als Antwort. Und so ist das Philosophieren: In Fragen schwimmen, darin seine Bahnen ziehen. Keine endgültigen Antworten finden. Nur einfach nicht untergehen.
[1] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/meta.12599