Mit «Grenzland Tessin» legt Alexander Grass ein Buch zur Entwicklung des Tessins seit 1945 vor. Der ehemalige Tessin-Korrespondent des Schweizer Radios schildert den radikalen Wandel, der den Südkanton in jenen Jahrzehnten prägte und entwirft ein Bild der Tessiner Realität, das weit weg ist von den liebgewordenen Grotto-Klischees.
Im Jahr 1950 erfasst ein eifriger Beamter des kantonalen Labors für Hygiene im Tessin den hygienischen Zustand von über 20’000 Tessiner Haushalten. Das Bild ist katastrophal: 9 von 10 Behausungen haben weder Dusche noch Bad, in nahezu baufälligen Häusern leben oft sechs, acht Menschen, über drei Viertel aller Gemeinden haben weder Abfallentsorgung noch Kanalisation. Kein Wunder setzt die Abwanderung aus den Tessiner Tälern, die sie schon im 19. Jahrhundert ein Drittel ihrer Bevölkerung gekostet hatte, nach dem Krieg wieder mächtig ein. Nur dass die Auswanderer im 19. Jahrhundert manchmal auch Know-how und Geld für einen Palazzo in ihr Dorf zurückbrachten. Im 20. Jahrhundert geschieht das nicht mehr, nun leeren sich die Dörfer, tausende von Maiensässen verkrauten und zerfallen.
Rasanter und radikaler Wandel
Es ist ein Wandel, der sich zwar in vielen Bergtälern der Schweiz und Europas abspielt. «Doch nirgendwo in der Schweiz war der Wandel so radikal und schnell wie im Tessin», schreibt Alexander Grass. Denn im gleichen Zeitraum, in welchem die karge alpine Landwirtschaft und ihre Zivilisation weitgehend verschwanden, wuchsen im Tessin die Städte und mit ihnen der Lebensstandard, zogen neue (oft deutschsprachige) Bewohner in die verlassenen Dörfer und stieg Lugano zum drittgrössten Finanzplatz der Schweiz auf.
Alexander Grass, von 2002 bis 2018 Tessin-Korrespondent des Schweizer Radios, ist selbst einer dieser neuen Bewohner, er lebt und arbeitet heute im Onsernonetal. Nach zwei kenntnisreichen Büchern zum Ausbau der Gotthardstrecke zeichnet er in «Grenzland Tessin» das Bild des kolossalen Wandels seit 1945 und damit der heutigen Realität des Südkantons.
Es ist ein Bild, das weit weg ist von den gängigen Klischees unserer geliebten «Sonnenstube», ein schon fast schmerzhaft-realistisches Bild, wie es auch der eindrucksvolle Bildteil des Buches vom Tessiner Fotografen Alberto Flammer zeigt: Baustellen statt wilde Bäche, Neubauten statt lauschige Grottos, und immer wieder die entstehende Bank- und Konsumwelt von Lugano.
Gefühle der Vernachlässigung und Kränkung
Zwei Themen sieht der Autor im Zentrum der Geschichte dieses Wandels: Zum einen die Grenzsituation, die das Buch im Titel trägt: «Die Grenze ist das zentrale politische Thema im Tessin», schreibt Grass. Denn das Tessin ist gleich zweimal Grenzregion: von Norden, von der Deutschschweiz aus gesehen ist es eine Randregion der Schweiz. Von Süden, also von Italien aus gesehen liegt das Tessin an der Peripherie des starken norditalienischen Wirtschaftsraumes. Im Tessin fühlt man sich dadurch von beiden Seiten zu wenig wahrgenommen, verkannt und vergessen – am Rande eben.
Mag auch der vielfache Ausbau der Gotthardstrecke und der grossen Elektrizitätswerke (das heisst der zentralen Infrastruktur des Tessins, die den Aufschwung brachte!) zu weit über 90 Prozent vom Bund bezahlt worden sein – das Tessin fühlt sich von Bern ignoriert, betrogen und vernachlässigt. Mögen auch 8 Bundesräte von 119 (also rund 7 Prozent) seit Beginn des Bundesstaates sogar höher als der 4-Prozent Anteil der Tessiner an der Gesamtbevölkerung der Schweiz liegen – jeder nicht gewählte Tessiner Bundesratskandidat ist hier eine tiefe Kränkung.
Den Abstand zu Bern verdeutlichen auch die vielen eidgenössischen Abstimmungsvorlagen, bei denen das Tessin gegen die Schweizer Mehrheit konservativ stimmte: Nein zu Uno-Beitritt, Schengen/Dublin-Beitritt und Personenfreizügigkeit, dafür Ja zur Masseneinwanderungsinitiative. Gleichzeitig spielt der Kanton aber im sozialen Bereich oft eine Pionierrolle: 2005 erstes Rauchverbot der Schweiz im öffentlichen Raum, dichtes Kita-Netz, dreimal mehr Organspenden als in der Deutschschweiz.
Ein Tessiner Dauerthema sind die Grenzgänger. Zwar ist die Verdoppelung der Grenzgänger seit 2002 (Freizügigkeitsabkommen mit der EU) unentbehrlich für Bauwirtschaft und Gesundheitswesen, zwar ist in keiner Grenzregion der Schweiz das Gefälle zwischen den Löhnen der Grenzgänger und jenen für Einheimische so gross wie im Tessin. Doch die Grenzgänger bleiben ein Allround-Sündenbock, für Billiglohnkonkurrenz ebenso wie für überfüllte Parkplätze, für Verkehrsinfarkt oder Kriminalität und führen zu zahllosen Standesinitiativen in Bern, die dann fast immer abgelehnt werden.
Untergangs- und Verfallsklagen
Das zweite grosse Thema dieses Buches ist die Klage über den Verlust der eigenen Identität. Über Jahrzehnte wird der Niedergang der alpinen Zivilisation von Tessiner Intellektuellen und Autoren als Verlust der eigentlichen Tessiner Identität beklagt, das Wirtschaftswachstum nicht mit Befreiung aus bitterer Armut, sondern mit Kulturpessimismus assoziiert. Laut dem Historiker Georg Kreis gibt es in keinem Kanton so viele Publikationen zum Thema Identität.
Die Untergangs -und Verfallsklagen von renommierten Tessiner Intellektuellen, Autoren und Akademikern, die Grass hier versammelt, sind erstaunlich. Da ist die Rede von «einer Welt der Besiegten», von einem «vergewaltigten» Land, da findet sich die Selbstanklage «Wir haben unsere Werte zugrunde gerichtet mit unserer Veränderungswut» oder die Klage über den «Bankrott eines Entwicklungs- und Lebensmodells», der sich «in der plötzlichen Erkenntnis der Einheimischen … die eigene Identität zu verlieren» äussere.
Selbst eine Grösse wie der Literaturhistoriker und ETH-Professor Guido Calgari sieht ausgerechnet im «falschen Ehrgeiz», dass Söhne und Töchter von Tessinern nun Anwalt, Ärztin oder Bundesbeamte werden wollen, das «Unglück des Tessins». Nichts ist all diesen Klagenden übrigens so verhasst wie die Tessin-Begeisterung der vielen Zuzüger aus dem Norden, seien sie Deutschschweizer oder Deutsche, Rentner oder berühmte Schriftsteller. Ihre positive Sicht wird als beleidigende Romantisierung und Verklärung des Tessins zum «Heidiland des Südens» abgetan.
Doch worin eigentlich besteht sie, diese Tessiner «Identität», deren Verlust hier beklagt wird? Auch hier gibt es ein breites Spektrum von Ideen und Meinungen. Da ist zum einen natürlich die italienische Sprache. Der Rückgang der italienischen Sprache in der Schweiz ist eine Tatsache: 1970 war Italienisch noch für 750’000 Menschen in der Schweiz die Hauptsprache, im Jahr 2000 waren es noch 470’000, davon rund 300’000 im Tessin. Zur einst mächtigen Italianità zählten allerdings auch die Gastarbeiter – der Schwund des Italienischen als Hauptsprache betrifft deshalb in erster Linie die Deutschschweiz und die Romandie. Doch auch das Vordringen von Englisch in Schweizer Schulen oder die Abschaffung von Italienisch-Lehrstühlen werden im Tessin jeweils gereizt wahrgenommen.
Dessen ungeachtet war und bleibt die Tessiner Literaturwelt äusserst lebendig. Grass erzählt ausführlich von zahlreichen Autoren und Werken, bei Interesse kann man sich hier wunderbar eine Leseliste zur Tessiner Literatur zusammenstellen. Merkwürdig bleibt, dass von deren Vertretern offenbar sehr wenig Interesse bestand für die vielen zugereisten Kollegen – Erich Maria Remarque, Kurt Held, Hermann Hesse, Alfred Andersch, Max Frisch, um hier nur die bekanntesten Namen zu nennen. Auch in diese Kreise und «ihre» Orte – Ascona, Montagnola, Berzona, Comologno – verschafft uns dieses Buch viele Einblicke.
Das Identitäts-Ufo
Ein weiteres Thema der Identitätsfrage ist die Landschaft, durch Bauboom und Spekulationsgier verschandelt. Weiter das heimische Handwerk und Know-how, durch die Globalisierung entwertet und zerstört, wenn etwa die Stadt Chiasso ihre Prachtstrasse mit rosa Granit aus China pflastert statt mit einheimischem Granit: Steinbruchsterben heiss das dann.
Keiner dieser Aspekte scheint die vieldiskutierte Identität jedoch wirklich ganz zu treffen. Tessiner Autoren selbst haben sie deshalb mit einem Ufo verglichen: keine scharfen Bilder, dafür viele Ufologen. Vielleicht, so schlägt Alexander Grass vor, besteht dieses rätselhafte Identitäts-Ufo ganz einfach in einer Erzählung. Der Erzählung, wie aus einem über Jahrhunderten ausgebeuteten, mausarmen Land eine moderne Industrie-, Dienstleistungs- und Tourismusregion wurde.
«Grenzland Tessin» ist nicht immer leichte Lektüre. In diesen Texten klappern keine Zoccoli, sondern eher Statistiken, politisch-ökonomisch-demografische Zahlen und Zitate aus offiziellen Kommissions-Berichten. Umso mehr vermisst man zur Orientierung ein Stichwort- und Namensverzeichnis. Und doch ergibt die Lektüre ein eindrucksvolles Gesamtbild der Seelenlage unseres italienischsprachigen Kantons, seiner Stimmen und Stimmungen, seiner Klagen und Ängste und vor allem seiner vielen Paradoxien.
Alexander Grass: Grenzland Tessin. 279 Seiten, Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2023