Die Idee religiöser Toleranz hat sich (ebenso wie ihr Gegenteil) im kollektiven Gedächtnis Indiens in Form von Texten, Volksmythen oder Ritualen eingeprägt. Sie wird sich nicht rasch umprogrammieren lassen.
In den Wochen vor der grossen Ram-Zeremonie in Ayodhya besuchte Premierminister Modi eine Reihe religiöser Stätten, die einen Bezug zu Gestalt und Leben des Gottes haben. Zu ihnen gehört auch der Ranganathanswamy-Tempel in Tamil Nadu. Von einem «Tempel» zu sprechen ist missverständlich, denn der Tempelbezirk mit seinen sieben konzentrischen Gevierten umschliesst eine ganze Stadt (namens Srirangam). Sie ist anderthalbmal so gross wie der Vatikan-Staat. Heute wird sie eingeholt von der nahen Grossstadt «Trichy» (womit der zungenbrechende Name Tiruchirapalli abgekürzt wird). Etwa 40‘000 Menschen leben und arbeiten im und für den Tempel.
Eine weibliche Gottheit
Srirangam ist das wichtigste Zentrum der südindischen Vishnu-Verehrung, und jährlich pilgern Millionen Pilger dorthin. Das innerste Geviert ist das Heiligtum, in dem eine sieben Meter lange Skulptur Sri Ranganathan – ein Avatar von Vishnu – schlafend auf der «endlosen» Schlange liegend darstellt. Täglich wird der Gott – in zahlreichen Statuen – in einer Prozession durch die Strassen des Bezirks getragen, wo er eine der vielen Gottheiten besucht, die in Hunderten Altären verehrt werden.
Entlang der Wand des Allerheiligsten steht der kleine Schrein einer weiblichen Gottheit. Sie wird täglich ebenfalls bewirtet, wenn Sri Ranganathan nebenan das «Frühstück» dargeboten wird. Die Göttin trägt den seltsamen Namen Thulukka Naachyaar, der tamilische Ausdruck für «Tughlaq-Prinzessin».
Was hat eine Tughlaq-Prinzessin im Allerheiligsten eines südindischen Tempels zu suchen, kann man sich fragen. Denn die Tughlaqs waren eine der zahlreichen islamischen Invasoren-Dynastien, die seit dem 12. Jahrhundert Nordindien eroberten, und deren Armeen bis nach Südindien vorstiessen. Im Jahre 1323 soll eine marodierende Truppe auch Srirangam verwüstet haben. Sie plünderte den Tempelschatz und raubte unzählige Sri Ranganathan-Statuen.
Die verschwundene Puppe
Eine davon – eine kleine Gold-Statuette – war offenbar die heiligste dieser Darstellungen, die lebende Inkarnation des Gottes. Eine Delegation von Brahmanen begab sich deshalb an den Hof von Kronprinz Mohammed Tughlaq in Delhi und erreichte von ihm, dass sie ihren Gott wieder an den Ort seiner Verehrung bringen konnten. Inzwischen hatte sich jedoch Tughlaqs Töchterchen Suratheni in die niedliche Figur verliebt und spielte mit ihr wie mit einer Puppe – kleidete sie, ernährte sie und legte sie schlafen.
Sie war untröstlich, als sie eines Morgens erwachte und hörte, dass ihre Puppe verschwunden war. Suratheni setzte sich in den Kopf, nach Srirangam zu reisen, um dort in der Nähe ihrer «abgöttisch» verehrten Puppe zu sein. Doch dort erfuhr sie, dass die Statue auf dem Heimweg von Delhi verschwunden war und mit ihren Begleitern verschollen blieb (erst sechzig Jahre später wurde sie gefunden und wieder inthronisiert). Doch die bald einmal junge Frau bewegte sich nicht mehr von ihrem Sitzplatz an der Aussenmauer des Allerheiligsten, bis sie gemäss Legende dort starb.
Nach der Wiedereinsetzung Sri Ranganathans erschien dieser dem Tempelpriester im Traum. Er erklärte ihm, die Prinzessin habe ihn so geliebt, wie es sonst kein Mensch getan hatte. Er habe deshalb beschlossen, sie zur Gemahlin zu nehmen. Er wolle sie fortan in seiner Nähe haben, und die erste Mahlzeit des Tages für beide müsse ein «Mughlai»-Mahl sein, will sagen: nordindisch-muslimische Weizen-Chappatis statt des südindischen Reismehls. Bis heute, so wird den Touristen erklärt, werden in der Tempelküche diese «Mogul»-Fladen für die beiden Gottheiten gebacken.
Die Symbolik dieser Geschichte und ihrer Inszenierung ist klar: Die oberste Gottheit steht über allen menschlichen und gesellschaftlichen Kategorien und Trennungen, seien es religiöse oder soziale. Das Ritual, seit Jahrhunderten vor zahlreichen Pilgern durchgeführt, ist eine täglich vorgeführte Erinnerungshandlung daran, dass das Göttliche über jeder menschlichen Aneignung und Deutung steht.
Die Kastenhierarchie
Eine zweite Geschichte betrifft einen Kastenlosen. Sie thematisiert nach der religiösen eine zweite radikale gesellschaftliche Bruchstelle, jene der Kastenhierarchie. Dieser Dalit hauste am nahen Kaveri-Strom ausserhalb des Tempels. Als sich der oberste Brahmane eines Tages zu seiner rituellen Waschung begab, warf er einen Stein, damit ihm der Kastenlose ja nicht zu nahe komme und besudle. Der Stein traf den Mann am Kopf, der zu bluten begann. In den Tempel zurückgekehrt erfuhr der Priester, dass die Statue der Gottheit aus dem Kopf blutete. In der gleichen Nacht erschien ihm Sri Ranganathan im Traum. Er befahl ihm, den Dalit zu sich ins Allerheiligste zu bringen. Der Brahmane gehorchte. Doch weil der heilige Boden keinesfalls vom Dalit berührt werden durfte, trug er ihn auf dem Rücken vor das Allerheiligste. Auch diese Geschichte soll in einem Tempelritual quasi festgeschrieben sein.
Ich hörte die Geschichte von Prinzessin Suratheni kürzlich, weil ein neuer tamilischer Film davon erzählt. Er heisst «Annapoorani» und nimmt seinen Namen von Annapurna, der Göttin der Nahrung. Sie ist die älteste Göttin, deren Verehrung in der Stadt Varanasi verbürgt ist. Annapoorani, die Protagonistin, zeigt von Geburt an ein besonderes Sensorium für das Riechen und den Geschmack von Nahrungsmitteln.
Vielleicht liegt der Grund darin, dass ihr Vater der Priester ist, der täglich für Sri Ranganathan das Essen zubereitet. Doch seine Tochter lebt im 21. Jahrhundert, und will Küchenchefin werden. Er verbietet es ihr, da sie mit Geräten in Kontakt kommen könnte, mit denen Fleisch bearbeitet wurde – für eine südindische Iyengar-Brahmanin ein Sakrileg. Hinter dem Rücken ihres Vaters tut sie es dennoch.
Das Fleischtabu
Die Scheu vor Fleischkontakt wird ihr von einem Klassenkameraden namens Farhad – einem Muslim also – genommen. Er erklärt ihr, auch Gott Ram und Göttin Sita hätten Fleisch gegessen, wie es das Ramayana-Epos an zahlreichen Stellen beschreibe (was tatsächlich so ist). Farhad erzählt ihr auch, seine Mutter habe bei der Herstellung von Biryani jeweils ein Namaz – das islamische Gebet – in den kochenden Reis gehaucht, um den Eintopf noch exquisiter zu machen. Annapoorani tut dasselbe, als sie bei einem Master-Chef-Wettessen Biryani kocht.
Der Film lief Anfang Dezember in den südindischen Kinos an und erhielt mässige bis schlechte Kritiken, seine Machart betreffend. Er wurde aber gelobt, weil er die alte Prinzessin-Geschichte aus Srirangam aufgriff und ihr einen modernen Kontext gebe. Eine Muslimin als Gemahlin des wichtigsten Gottes? Das war kein Thema.
Die Kritikergilde hatte ihre Speise-Rechnung allerdings ohne den Wirt gemacht. Dieser meldete sich in Gestalt vegetarischer Schnüffler, für die jeder Fleischkontakt Blasphemie ist, weil dessen Konsum mit anti-muslimischen Ressentiments behaftet ist. Noch bevor der Film in Südindien sang- und klanglos – quasi geruchlos – verschwand, erhob sich in Nordindien plötzlich eine Gestankswolke, die Annapoorani noch einmal kurz auf die Schaubühne zerrte.
Aufruhr wegen eines Films
Inzwischen war der tamilische Film nämlich in Hindi synchronisiert worden, und noch vor dem Kinostart konnte man ihn auf YouTube herunterladen. Es begann mit einem X-Text aus dem Provinznest Jabalpur. Dort fühlte sich ein Anhänger der Hindutva-Organisation VHP in seinen religiösen Gefühlen verletzt.
Es war nicht nur ein Sakrileg, zu behaupten, dass Ram je Fleisch gegessen habe. Noch schlimmer sei, dass ein Brahmanenmädchen dazu verführt wird, Fleisch zu berühren, und sogar einen islamischen Gebetsreim in den Mund zu nehmen. War das nicht ein Beispiel von «Love Jihad», diesem Trauma der radikalen Hindutva-Szene, dass Muslim-Jungen die Liebe unschuldiger Hindu-Mädchen missbrauchten, um sie zu Musliminnen zu machen?
Im Nu wurde aus dem digitalen Funkensprung ein Feuerwerk von Entrüstung und Drohgebärden – brennende Kinosäle, eingeschlagene Scheiben in den Büros der Verleiher, gerichtliche Verfügungen wurden an die Wand gemalt. Im Nu zog das in Mumbai ansässige Filmstudio den Film aus dem Verkehr, und – besonders gravierend für das Filmteam – auch Netflix als Ko-Produzentin verzichtete eilig auf das vorgesehene weltweite Streaming.
Sitas Küche
Als ich vom Besuch des Premierministers bei Sri Ranganathan hörte, zweifelte ich, dass ihm die Geschichte der muslimischen Prinzessin und ihrer Vermählung mit dem meistverehrten Gott Südindiens erzählt worden war – wenn selbst der Göttin der Nahrung aus Narendra Modis Wahlbezirk Varanasi ein ähnliches Schicksal beschieden war wie es der Annapoorani-Film erlebte.
Neben der 1992 zerstörten Moschee stand damals ein halb zerfallenes Haus, das «Sita Ki Rasoy» hiess – Sitas Küche. Es war der Ort, wohin gemäss Legende die Göttin Annapurna aus Varanasi herbeigeeilt war, um für Ram und Sita ein Hochzeitsmahl zu kochen. Eine Reihe von uns Korrespondenten war an jenem 6. Dezember in diesem Gebäude eingesperrt worden, damit wir unserer journalistischen Zeugnispflicht nicht nachkommen konnten.
In einer Gruft unter dem Erdboden befand sich damals ein langer dunkler Gang, an dessen Ende ein kleiner Schrein stand, in dem Sita und Annapurna verehrt werden konnten. Dem neuen Tempel-Plan konnte ich nun entnehmen, dass auch Sitas Küche sang- und klanglos verschwunden ist. Sie musste wohl dem prächtigen Tempel von Gott Ram weichen, der seit dem 22. Januar 2024 dort thront, allein.