... und warum ist der Zürcher Tages-Anzeiger ausgerechnet heute ein Paradebeispiel für hervorragenden und umfassenden Journalismus?
Zuerst und in aller Deutlichkeit: Die Ermordung des Herausgebers und von Mitarbeitern des Magazins «Charlie Hebdo» in Paris ist furchtbar. Genau so furchtbar wie die Ermordung irgendeines Menschen auf unserem Planeten. Egal aus welchem Grund. Es ist stets ein Akt der Feigheit, pervers und mit nichts zu entschuldigen.
Der Blick schreibt heute auf der Titelseite von einem «Angriff auf unsere Freiheit. Res Strehle nennt die Ermordeten im Zürcher Tages Anzeiger «Märtyrer für die freie Meinung». Weltweit bekunden Spitzenpolitiker ihre Abscheu für diese Tat. Menschen demonstrieren und bekunden ihre Trauer.
Ich lese Zeitungen, Statements und Kommentare und bin teilweise irritiert. Mir wird fast schlecht, wenn ich ausgerechnet in der NZZ lese, wie ein Journalist eiskalt begründet, dass dies in Frankreich der blutigste Anschlag seit dem 19. Jahrhundert gewesen sei. Zwar habe es bei einer islamistischen Terrorwelle 1986 auch zwölf Todesopfer gegeben und rund 200 Verletzte. Aber das waren damals zwölf Anschläge, macht also nur ein Todesopfer pro Anschlag. Und es zählen ja nur die Todesopfer. Der Anschlag 1995 auf eine Pariser Bahnstation in Saint-Michel habe acht Menschenleben gefordert und 120 Personen verletzt.
2014 wurden weltweit 89 Journalisten ermordet.
Damit sind wir bei einem ersten wesentlichen Punkt. Ich formuliere ihn als Frage: Wie wären die Reaktionen ausgefallen, hätte es «nur» drei Tote geben oder «nur» Verletzte (von denen dann vielleicht die Hälfte später gestorben wäre)? Ich möchte auch nicht die Frage vertiefen, wie schockiert die Weltöffentlichkeit und die Medien reagiert haben als in Nordnigeria hunderte von Schulmädchen entführt worden sind (und vielleicht noch immer entführt werden), als ebenfalls in Nigeria über 1000 Menschen von Terroristen umgebracht worden sind. Hier geht es ja nicht um Schulmädchen im afrikanischen Busch, sondern um Medienvertreter. 2014 wurden laut dem Comittee to Protect Journalism (CPJ) weltweit 89 Journalistinnen und Journalisten ermordet. In Russland sind laut CPJ 32 Journalistmorde zwischen 1992 und 2014 unaufgeklärt. Interessiert das jemanden? Irgendjemanden?
Zweiter wesentlicher Punkt: Sicher war das rhetorisch komplett daneben, was sich Bundesrätin Leuthard geleistet hat, respektive was wohl ihre Pressestelle formuliert hat. In einem solchen Augenblick als Regierungsmitglied eines Landes eine Reaktion mit dem Satz «Satire ist kein Freipass.» zu beginnen, ist im besten Fall unglücklich. Aber die Worte sind nicht falsch. Sie stehen nur am falschen Ort. Res Strehle schreibt heute im Tagi-Leitartikel in Zusammenhang mit dem Einsatz satirischenr Zeichnungen und Texte: «...Auf religionsspezifische, allgemein akzeptierte Gebote soll dabei durchaus Rücksicht genommen werden, speziell in einer emotional aufgeheizten Situation wie heute. Wir zeigen deshalb beispielsweise keine Mohammed-Karikaturen...» Überhaupt möchte ich dem Tagi ein Kränzchen winden. Er berichtet sehr viel ganzheitlicher über das Thema als die meisten anderen Zeitungen. Interessant auch das Statement von Marco Ratschiller, Chefredaktor der Schweizer Satirezeitschrift «Nebelspalter» in einem Gastbeitrag in der «Schweiz am Sonntag» vor zwei Jahren. Gute Satire bringe nicht fremde Wertsysteme, sondern eigene Denkschablonen ins Wanken, mit Nadelstichen, die so gekonnt dosiert seien, dass man sich der Kritik nicht verschliesse, sondern gerne ausliefere.
In der Schweiz gibt’s die Beugehaft für Journalisten
Bundesrätin Leuthard hat leider Recht, wenn Sie schreibt, dass Satire kein Freipass ist. Aber mit diesem Satz hat sie auch eine losgetretene Herde von heulenden Journalisten gegen sich aufgehetzt, die sich gerade über den «Angriff auf unsere Pressefreiheit» gegenseitig in totale Hysterie hochschaukelte. Das ist insbesondere in der Schweiz ein kniffliges Thema.
Denn bei uns kann die Staatsanwaltschaft auch gegen Journalisten Beugehaft beantragen, um einen angeklagten Journalisten dazu zu bringen, seine Informationsquellen preiszugeben. Gemäss Zitierungen des Medienrechtsexperten Professor Urs Saxer erlösche der journalistische Anspruch auf den Schutz der Quelle erst bei schweren Verbrechen. Aber laut Saxer ist schon eine komplexe Frage, ob es sich bei der Weitergabe vertraulicher Dokumente an einen Journalisten um ein schweres Verbrechen handle.
Ausgerechnet die Medien heulen nun auf, welche seit Monaten und bald Jahren extremistische Taten Einzelner auf die Titelseiten und in die Tagesschau-Hauptausgaben rücken und damit immer mehr den Eindruck erwecken, Menschen, die nach dem Koran leben, seien Monster, dabei leben die allermeisten von ihnen friedfertig oder möchten in Frieden leben, genau so wie die allermeisten Christen, Buddhisten oder Anhänger anderer Glaubensrichtungen auch. Dadurch schüren diese Medien zunehmend extremistische Gedanken auch bei uns, fördern Kräfte, die nur ein Ziel haben: unsere sozialen und politischen an sich stabilen Strukturen aus dem Gleichgewicht zu bringen und für Chaos und Terror die Voraussetzungen zu verbessern. Ich behaupte, dass heute das Echo in den Medien bei einem Anschlag bedeutend geringer ausfallen würde, wenn die Täter Angehörige einer anderen Religion wären.
Wie weit darf Provokation gehen?
Darf Satire wirklich alles? Ist es förderlich, konstruktiv, Angehörige einer Religion zu diffamieren? Egal, wieviele Menschen wegen dieser «Satire» schon umgekommen sind? Gemäss Constantin Seibt (auch im Tagi von heute) waren das im Fall der Mohammed-Karikaturen schon vor dem Attentat in Paris über 100 Menschen.
Was soll das alles? Haben wir nicht selber genug Probleme, bei denen es sich lohnt, mit dosierten Nadelstichen, die Gemüter zu bewegen, konstruktive Kritik zu fördern? Könnten die Medien nicht endlich mal aufhören, jede Blutspur auf die Titelseite zu hieven und sich an Gewehrsalven aufzugeilen? Nochmals: Die Zusammenfassung und die Hintergrundinformationen im heutigen Tages-Anzeiger sind für mich ein Paradebeispiel für ausgezeichneten Journalismus.
Freiheit hat mit Verantwortung zu tun. Meinungsfreiheit noch mehr, denn die Verbreitung einer Meinung beeinflusst die Meinung anderer. Meinungsfreiheit ist eines der wertvollsten Güter innerhalb einer Gesellschaft, die Visitenkarte sozusagen. Ich denke nicht, dass die Bluttat in Paris ein Angriff auf unsere Meinungsfreiheit gewesen ist. Es war ein barbarischer Akt fanatischer Islamisten, von Mördern. Es war kein Akt einer Religionsgemeinschaft. Es war kein Angriff auf die westliche Demokratie. Es war ein Akt von Feiglingen, Kriminellen, von menschlichem Abschaum.
Aber es war auch die Reaktion auf jahrelange Provokationen, bewusste Verletzungen und Verleumdungen. Durchgeführt von Menschen die ich gerne mal gefragt hätte, warum sie das tun? Nun sind sie tot, werden als Märtyrer gelobt, obwohl sie bis gestern ihrerseits grundlos andere Menschen immer und immer wieder mit teilweise primitivsten Zeichnungen gereizt haben. Unter dem Deckmantel der Satire und mit Verweis auf die Meinungsfreiheit. Die sie vielleicht auch ganz einfach missbraucht haben.
Wir sollten vorsichtiger damit umgehen.