In der fernen Erinnerung ein Paradiesgarten mit Seen und Reisterrassen, samtig weiche Landschaften wie der Flaum der Paschminawolle. Am anderen Ende der ‚Cauchemar‘, wie Salman Rush die Kaschmirer verballhornt hat: Der Albtraum eines nicht enden wollenden Bürgerkriegs, die Zahl der Opfer – über 70‘000 – ein Hinweis, dass praktisch jede Familie Angehörige verloren hat, an die Kugeln der indischen Armee, an die Aufständischen, an Flucht oder spurloses Verschwinden: Eine verlorene Generation.
Die bange Frage, als wir im Flugzeug durch die Wolken in das breite Jhelum-Tal sinken: Würde es eine Rückkehr zur kollektiven Depression sein, zur Omnipräsenz der indischen Besatzungsmacht, zu den Wehklagen, die die Kaschmirer so vollendet beherrschen? Die Bordlektüre versprach Neues. Das Wochenmagazin ‚OPEN‘ zeigte auf dem Titelblatt junge Kaschmirer, statt mit Kalashnikovs mit Billardstöcken bewaffnet. Die Schlagzeile: „Sorry, Kashmir is happy!“. Das ironische ‚Sorry!‘ richtet sich an die kaschmirische Diaspora ebenso wie an lokale Politiker und Intellektuelle. Für sie sei der Konflikt zu einer Karriere geworden, meint der Autor. Ihr schliesst die Augen vor der Realität wirtschaftlichen Aufschwungs, ruft er ihnen zu, vor der Kriegsmüdigkeit der Mehrheit, vor den Jungen, deren Träume sich nicht mehr mit Ausbildungslagern in Pakistan bevölkern, sondern Karrieren in Indien.
Gejätete Grasbeete
Es ist kalt und regnerisch in Srinagar, doch die Fahrt in die Stadt heitert auf. Die Sandsack-Bunker sind verschwunden, die Strassensperren ebenso. Die Mittelstreifen der Strassen werden neu bemalt, die Grasbeete gejätet. Die Schlagzeile von ‚Greater Kashmir‘: Omar Abdullah, der junge Chefminister des Staates, „fühlt sich missverstanden und ungeliebt“. Ein Computer-Algorithmus hat seine ‚Tweets‘ und Facebook-Auftritte analysiert und herausgefunden, dass sich dahinter ein einsamer, narzisstisch angehauchter Mann verbirgt. Die Fahrt durch das Ladenviertel der Residency Road lässt erahnen, warum Twitter und Facebook Schlagzeilen schaffen. Wo in anderen Städten ganze Hausfassaden in die Kriegsfarben von Coca Cola gegen Pepsi getüncht worden sind, ist es hier das Rot und Blau der Mobilfunk-Anbieter, die den Bazar eingefärbt haben. Noch hat sich der Alltag – und vor allem die Nacht – nicht vom jahrelangen Ausgehverbot erholt. Der Verkehrsstrom lockert sich am Abend rasch, die Trottoirs leeren sich, die Kaffeehäuser schliessen früh. Und man ahnt, wie sehr zuhause, in der Langeweile elterlicher Umgebung, die sozialen Netzwerke zu glühen beginnen.
Bollywood-Melodramen, Rambo-Serien
Zwanzig Jahre Ausgehverbot haben nicht nur zum zwanghaften Handy-Tippen gejuckt. Sie haben die Kaschmirer auch näher an Indien gebracht; oder zumindest an die vollen Saugnäpfe der TV-Seifenopern. Wohl keine Region starrte in der Zeit des Schreckens so gebannt auf die TV-Geräte, setzte sich den Bollywood-Melodramen und Rambo-Serien so willig aus wie die Kaschmirer. In den Fernsehpausen produzierten sie auch das, wofür im ländlichen Indien lange Stromausfälle gesorgt hatten: eine reiche Kinderzahl. Die Schul-Industrie boomt, von privaten Kindergärten bis zu Mädchen-Colleges. Viele Kaschmirer, die in die indischen Städte geflohen sind, denken daran, zurückzukehren und Lehrerstellen anzunehmen.
Im Schatten der Gewalt ist eine Generation herangewachsen, die von dieser gewiss geprägt ist, aber nicht mehr von den politischen Träumen, die sie ausgelöst hatten – Autonomie, Unabhängigkeit, Anschluss an Pakistan. Statt auf ihre Leidensgeschichte fixiert, sind sie bis weit in die Welt hinaus vernetzt. Und sie wollen ihre Zukunft selber bestimmen. Bei einem Workshop mit College-Studenten wurde die Ungeduld beinahe greifbar - mit der Elterngeneration und deren Ideen von ‚Azadi‘, aber auch mit den Vorbildern, die wir Vertreter ‚aus Indien‘ präsentierten: „Warum immer Mahatma Gandhi als Rollen-Modell – kann ich nicht selber eins sein?“ fragte eine junge Ingenieur-Studentin (im Chador).
Die Armee im Hintergrund
Es ist ein Szenenwechsel, den vor zwei Jahren niemand erwartet hätte. Damals drohten Demonstrationen jugendlicher Steinwerfer eine neue ‚Intifada‘ auszulösen. Doch für einmal liess sich der Staat nicht zu Überreaktionen provozieren und vermied es, neue Märtyrer zu schaffen. Die Armee berief mit General Hasnain einen lokalen Muslim als Oberkommandierenden – ein Novum. Sein erster Tagesbefehl war die Anweisung an alle Armeeangehörige, der Zivilbevölkerung mit Respekt zu begegnen. „Hazoor“ – das altmodische ‚Ihr Diener‘ – wurde zum obligatorischen Begrüssungsgruss. Die Armee ist weiterhin omnipräsent, aber statt wie früher mit ihren Gewehrläufen fast buchstäblich den Leuten in die Augen zu stechen, hält sie sich im Hintergrund. Die Regierung des jungen Chefministers forderte die Zentralregierung auf, das drakonische Armeegesetz mit seiner weitgehenden Immunität für Willkürakte aufzuheben. Der Erfolg blieb bisher aus, aber er konnte dies mit anderen Initiativen kompensieren. Abdullah versprach, bei den Lokalwahlen die überfällige Stärkung der Gemeindeautonomie durchzuführen. Das Resultat war eine rekordhohe Stimmbeteiligung und die Wahl von vielen jungen Gemeinderäten.
Jugendarbeitslosigkeit
Die politische Bewegung geht einher mit einer wirtschaftlichen Erholung. Letztes Jahr reisten eine Million Touristen in Indiens klassisches Ferienland. Dieses Jahr werden vier Millionen erwartet. Flüge sind überbucht, Hotels und Hausboote sind voll. „Tourism is vital for Peace“ steht unter dem Schild des Teppichhändlers „Shaw&Co.“. Selbst der ikonische Touristenladen ‚Suffering Moses‘ hat keinen Grund mehr zu klagen. Dazu kommt die Kriegsökonomie, angekurbelt durch eine Besatzungsarmee von mehreren hunderttausend Mann. Sie schafft eine gewaltige Nachfrage nach Nahrungsmitteln und anderen Konsumwaren und lässt eine Geldwelle ins Tal schwappen.
Der 400-jährige Tourismusort Srinagar ist auf den Goldregen überhaupt nicht vorbereitet. Statt Militärsperren blockiert nun der Stossverkehr das Fortkommen. Trotz 1.5 Millionen Einwohnern blinkt in der Stadt keine einzige Rotlichtanlage; als der Stadtrat diese Woche eine ankündigte, war dies eine Schlagzeile wert. Die Geldblase nährt auch die Korruption. Und Konsumausgaben sind keine Investitionen. Ausser dem Staat investiert praktisch kein Unternehmer in produktive Anlagen. „Niemand hungert“, sagt der junge Filmemacher Abeer Gupta, „aber die Jugendarbeitslosigkeit ist beängstigend“.
Freude über das Verkehrschaos
Und das Trauma von 22 Jahren Bürgerkrieg ist noch längst nicht ausgeheilt. Jedes Gerichtsurteil, eine Berufungsklage, ein neuentdecktes Massengrab, schwemmen Erinnerungen hoch, Hoffnungen, die gleichzeitig Befürchtungen sind. „We are confident, but also afraid“, meint der Student Afzal. Aber er und viele seiner Kollegen lassen sich – und das ist das Neue – davon nicht mehr lähmen; sie fühlen sich im Gegenteil, so die Psychologin Ferida Khan, „primär als Handelnde, und nicht als Opfer“. Anderswo mag ein Verkehrschaos Stress auslösen – hier wird es fast freudig registriert. Genauso wie sie die Horden von Lokaltouristen begrüssen, die, statt wie sonst ins schweizerische ‚Kaschmir Europas‘ zu reisen, dieses Jahr die ‚Schweiz Asiens‘ wiederentdecken.