Glücklicherweise gibt es Mathematik und Physik und Chemie. Da wird gemessen und berechnet, werden Gesetze herausgearbeitet und wiederholbare Experimente durchgeführt. Das erklärt zwar nicht alles, gibt aber doch eine gewissen Handlungssicherheit. Das nicht unberechtigte Gefühl, dass in Kenntnis von Ursache und Wirkung einigermassen zweckrational gehandelt werden kann. Glas fällt runter, geht kaputt. Schwerkraft halt, sollte man vermeiden, wenn man ein intaktes Glas will.
Walten der Mächte
Nun ist Wirtschaft, Ökonomie, Wertschöpfung, Produktion, wie immer man das nennen will – oder ob es einem passt oder nicht –, fundamental und konstituierend für unser individuelles Wohlergehen. Woran wir das messen, ob an der Verfügbarkeit von Konsumgütern, dickem Bankkonto, Sozialprestige dank Luxusauto oder Villa mit Sehanstoss, ob an inneren Werten, gutem Essen, grosser Bibliothek, Freizeit oder was auch immer, ist jedem selbst überlassen.
Wir sind in der Lage, dank der Anwendung von Naturgesetzen nicht nur Häuser mit Kanalisation und Wasserzufuhr zu bauen, sondern auch ziemlich komplizierte Apparate wie Handys, Computer oder automatische Bandstrassen. Auch da könnte man fragen, ob man das alles wirklich braucht. Aber das Zeug funktioniert (meistens), und alles in allem macht es das Leben doch leichter.
Aber darunter liegt eben die Wirtschaft, ihr Funktionieren, ihre Regeln. Schliesslich ist Wirtschaft nichts Naturgegebenes, wir machen sie, also gibt es doch sicher Wissenschaftler, die ihre Regeln kennen, sie anwenden, dazu beitragen, dass sie besser funktioniert, dass es Fortschritt gibt. Und äusserte sich der auch nur in Form eines besseren Gebrauchswerts; ein kleines Gadget statt eines schweren Aktenkoffers oder eines ziegelsteingrossen Handys. Schliesslich sind wir doch eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft. Wir glauben nicht mehr an das Walten von Mächten, die sich unserer Erkenntnisfähigkeit entziehen. Wir glauben nicht mehr, dass ein Blitzschlag die Manifestation eines zürnenden Gottes ist.
Die Virtualisierung der Wirtschaft
Ein Blitzschlag ist die Entladung einer Spannung. Schön, dass wir das wissen. Wirtschaft ist Wertschöpfung, arbeitsteilig und globalisiert. Dadurch etwas komplizierter als ein Blitzschlag, aber eigentlich doch überschaubar. Einer braucht einen Stuhl, ein anderer schreinert oder lötet ihn zusammen. Angebot, Nachfrage, Markt, Preis. Gähn.
Aber seit mindestens 25 Jahren stellt selbst der Laie fest, und der Fachmann wundert sich, dass Wirtschaftswissenschaftler mal behaupteten: Dank moderner Rechenleistung von Computern und den entsprechenden Formeln, gerne auch Algorithmen genannt, sind wir erstmals in der Geschichte der Menschheit in der Lage, Wirtschaft als solche zu analysieren, zu beeinflussen und zu beherrschen. Besonders wichtig ist das, weil wirtschaften immer ein in die Zukunft gerichteter Prozess ist. Man stellt heute etwas her, das morgen verkauft werden soll. Hoffentlich. Aber keine Bange, Black und Scholes (und andere) haben endlich die Formel gefunden, mit der sich sogar die Zukunft vorhersehen lässt, endlich das Risiko aus zukunftsgerichteten Handlungen rausgerechnet werden kann. Wunderbar.
Wie merkwürdig allerdings, dass gleichzeitig seit mindestens 25 Jahren mit zunehmender Häufigkeit die versammelte Wirtschaftswissenschaft sagen muss: Hoppla, das dürfte eigentlich gar nicht sein, das war nun aber unvorhersehbar. Häuserpreise steigen nicht kontinuierlich bis in den Himmel? Der Mensch ist doch kein «homo oeconomicus» (obwohl da einer sogar den Wirtschaftsnobelpreis dafür gewonnen hat, allerdings ein anderer gleichzeitig für den «Beweis» des Gegenteils). Gelddrucken (oder klicken) wie Heu kurbelt doch nicht die Wirtschaft an, andererseits löst es auch keine galoppierende Inflation aus, obwohl das laut allen Lehrbüchern so sein müsste? Wenn wir oben links an einer Schraube an der Wirtschaftsmaschine drehen, bewegt sich unten rechts ein Zahnrad nicht nach rechts, obwohl das nach unseren Formeln so sein müsste? Merkwürdig.
Die Alchemisierung der Wirtschaft
Nun gibt es tatsächlich wohl ein paar Grundregeln. Markt, Eigentum, Angebot, Nachfrage, Preis, die irgendwie funktionieren, sei es auch durch das Wirken einer «invisible hand», wie das Adam Smith mangels besserer Kenntnis schon 1776 nannte. Und heute? Physik, Chemie und Mathematik entwickeln sich kontinuierlich weiter, bauen auf Erkanntem auf und es aus. Während die sogenannte Wirtschaftswissenschaft immer mehr in einen voraufklärerischen Zustand regrediert.
In pseudonaturwissenschaftlicher Verbrämung mit ellenlangen Formeln, die sich bis heute die armen Studenten an der HSG und anderswo in den Kopf bimsen müssen, wird fast alles immer mehr zu reiner Alchemie. Zu dummem Geschwätz, es gibt keinen anderen Ausdruck dafür. Greifen wir aus dem Meer der Beispiele nur eines heraus.
Nur ein Beispiel
Es soll hier nicht um Griechenland gehen, keine Bange. Nur um Folgendes. Die EU-Kommission moniert, dass der Staat seine Schuldenlast wohl doch nicht bis 2022 auf «deutlich unter 110 Prozent des Bruttoinlandprodukts» drücken wird, sondern bloss auf «112 Prozent». Als «kritische Marke» gälten allerdings sowieso «100 Prozent».
Nur ein paar banale Fragen dazu. Woher weiss der versammelte Sachverstand der Wirtschaftskoryphäen der EU das? Wieso sollen es nun 2022 plötzlich 112 Prozent sein, wo es doch aufgrund aller hochwissenschaftlichen Berechnungen bis anhin garantiert 110 Prozent sein sollten? Und wieso sind «100 Prozent» eine «kritische Marke»? Gibt es da ein Gesetz, eine Regel, einen Beweis dafür? Lässt sich diese «Marke» messen oder berechnen wie die Schallgeschwindigkeit oder der Siedepunkt des Wassers?
Nein, es ist reines Geschwafel, Geraune, orakeln, Pipifax. Das wäre ja noch egal. Wenn jemand an die seherischen Fähigkeiten eines Muschelwerfers glaubt, der so und mit etwas geheimnisvollen Gehabe die Zukunft beschwört, ist das ja sein privater Blödsinn. Aber in diesem Beispiel hängen Millionen und Milliarden realer Steuergelder von diesem völlig unwissenschaftlichen Geschwurbel ab. Unser aller Wohlergehen, letztlich. Und das ist mehr als beängstigend. Wem das noch nicht genügend Schiss macht, sollte mal versuchen, die Bilanz einer modernen Bank zu lesen. Und die Antwort auf die einfache Frage suchen: wie gut geht es der Bank eigentlich? Viel Spass.