Sie heisst Luz. Sie lebte in einem kleinen kolumbianischen Dorf am Pazifik. Dann kam der Krieg und Luz musste fliehen. Sie floh nach Buenaventura. Die Hafenstadt ist eine der kriminellsten in Lateinamerika. Vor allem Frauen und Kinder werden missbraucht.
Luz Dary Santiesteban begann, sich für die Rechte der Frauen einzusetzen. Die kriminellen Banden schüchterten sie ein. Sie drohten, ihre zehnjährige Tochter zu vergewaltigen. Als sich Luz dagegen wehrte, wurde sie selbst vergewaltigt.
Noch heute ist sie traumatisiert. „Man vergisst nie diesen Moment, diese Vergewaltigung. Man erinnert sich ein ganzes Leben lang daran. Nach der Vergewaltigung ist auch mein Mann gegangen. Mein früheres Lachen ist verschwunden“.
Luz ist eine von gut tausend Frauen, denen die Frauenrechtsorganisation „Schmetterlinge“ neuen Mut gibt. Jetzt hat die Vereinigung den Uno-Flüchtlingspreis erhalten. Dies gab am Freitag das Uno-Hochkommissariat für das Flüchtlingswesen UNHCR) in Genf bekannt. Der mit 100‘000 Dollar dotierte Award ist der Prestige-trächtigste aller Uno-Preise.
Seit Jahrzehnten herrscht in Buenaventura Krieg: Krieg zwischen bewaffneten Banden. Um ihre Macht zu demonstrieren, missbrauchen die Banditen die Frauen ihrer Gegner. Die Opfer werden vergewaltigt, gefoltert oder auch getötet.
„Schmetterlinge, die mit neuen Flügeln eine Zukunft aufbauen“ heisst die Frauenorganisation, die den Opfern helfen will: Red Mariposad de Alas Nuevas Construyendo Futuro. Dutzende freiwilliger Mitarbeiterinnen suchen die Quartiere auf und versuchen die Frauen dazu zu bringen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Die meisten haben zunächst Angst zu sprechen. Sie fürchten Rache.
„Diese Frauen leisten unter schwierigsten Bedingungen aussergewöhnliche Arbeit“, erklärt Antonio Guterrez, der Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge. „Täglich versuchen sie die Wunden der Frauen und Kinder von Buenaventura zu heilen und riskieren dabei ihr eigenes Leben. Ihr Mut ist grenzenlos“.
Viele der freiwilligen Helferinnen sind selbst geschändet worden - oder waren bei Gewalt-Exzessen dabei. So Gloria Amparo. Seit vier Jahren arbeitet sie für die Schmetterlinge. Sie wuchs in grösster Armut auf. Ihr Vater schlug und vergewaltigte regelmässig ihre Mutter. Gloria selbst wurde mit dem Tod bedroht.
Maritza Aspilla Cruz stiess vor zwei Jahren zu den Schmetterlingen. Auch sie wuchs in grösster Armut auf. Auch ihre Mutter wurde regelmässig geschlagen. Maritza betreibt im Quartier Vista Hermosa mehrere Workshops, in denen sie Frauen zu helfen versucht.
Mery schaltet immer wieder die Justiz ein. Vor allem auch sie wird von den Banden bedroht.
Der Konflikt in Buenaventura zwischen bewaffneten Gangs dauert schon seit fünfzig Jahren. Die einzelnen Banden beherrschen einzelne Quartiere und bekämpfen sich bis aufs Blut. Die Stadt hat eine der höchsten Gewalt- und Vertriebenenraten.
In langen Gesprächen versuchen die Schmetterlinge das Vertrauen der missbrauchten Frauen zu gewinnen. Ziel ist es, dass sie ihre Kraft wiedergewinnen. Sie sollen erfahren, dass sie mit ihrem Leid nicht allein sind.
Die Schmetterlinge beraten nicht nur, sie leisten auch medizinische und rechtliche Hilfe. Einige der Vergewaltiger haben sie schon vor Gericht gezogen. Immer wieder gehen sie zur Polizei. Die Organisation ruft auch zu Protestmärschen auf und organisiert Sit-ins.
Mit den 100’000 Dollar, die der Flüchtlingspreis bringt, soll in Buenaventura ein neues Projekt realisiert werden. So sollen die Schmetterlinge noch höher fliegen, noch stärker werden.
Der Flüchtlingspreis, den die Schmetterlinge jetzt erhalten, heisst offiziell Nansen Award (früher: Nansen-Medaille). Er ist nach dem norwegischen Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen benannt. Der Preis wird jedes Jahr verliehen. Letztes Jahr ging er an die kongolesische Nonne Angélique Namaiko.
Laut offiziellen Regierungsangaben haben seit 1997 5,7 Millionen Kolumbianerinnen und Kolumbianer ihr Zuhause verlassen müssen. In keinem Land – ausser Syrien – gibt es so viele Vertriebene. 80 Prozent von ihnen sind Frauen. Die Hälfte aller vertriebenen Frauen ist sexuell geschändet worden. Im ersten Halbjahr 2014 sind bereits elf Frauen umgebracht worden.
Der diesjährige Nansen-Flüchtlingspreis wird am 29. September in Genf verliehen. Vertreten sein werden die Schmetterlinge durch Gloria Amparo, Maritz Asprilla Cruz und Mery Medina.
Der Nansen Award wird der freiwilligen Organisation neuen Mut und weiteren Aufschwung geben. Hauptziel der Schmetterlinge ist es, Druck auf die Kriminellen auszuüben und den Vergewaltigern und Geschändeten ein neues Selbstwertgefühl zu geben.
Luz sagt es heute so: „Ich bin mir bewusst geworden, dass ich das Geheimnis der Vergewaltigung nicht länger allein in mir tragen konnte. Darüber zu sprechen ist, wie ein Krebsgeschwür aus dem Leib zu reissen. Dank den Schmetterlingen ist dies gelungen“.