Die Krise in der Ukraine bewirkt, dass Syrien vergessen geht. Das Land bleibt sich selbst überlassen.
Nach dem ergebnislosen Ende der Konferenz von Genf II ist es still um Syrien geworden. Die Kämpfe gehen weiter, meist mit kleineren Geländegewinnen der Asad-Truppen. Der Streit zwischen den Rebellengruppen hat eine neue Dimension erreicht: Aus einem politischen Zwist sind tödliche Kämpfe geworden.
Das Verhalten aller Seiten gegenüber der Zivilbevölkerung und gegenüber ihren Kriegsgegnern ist noch brutaler geworden. Je länger die bürgerkriegsähnlichen Zustände dauern, desto weniger sind alle Kampfgruppen bereit, die Rechte von nicht kämpfenden Zivilpersonen zu respektieren.
Geiselnahmen
Es gibt drei Hauptlager: Die Regierung, die syrischen Rebellen und die islamistischen „Internationalisten“ von ISIS. Alle drei betrachten jene, die nicht auf ihrer Seite stehen, als Feinde. Und als Feinde werden sie behandelt, ganz gleich, ob es sich um Bewaffnete oder Zivilisten handelt, um Frauen, Kinder oder Männer.
Immer mehr werden Geiseln genommen. Soeben hat "al-Jazeera" ein Video veröffentlicht, das von "einer der Rebellengruppen stammen" soll. Von welcher, verrät der Sender nicht. Darin werden "mindestens 92" alawitische Zivilisten gezeigt, meist Frauen und Kinder. Sie sollen von der Rebellengruppe aus alawitischen Dörfern rund um Latakia gefangen genommen und verschleppt worden sein. Die Rebellen schlagen vor, die Geiseln gegen 2‘000 Gefangene des Regimes auszutauschen. Diese Gefangene werden seit über einem Jahr ohne Anklage festgehalten. Offenbar will Qatar versuchen, den Austausch zustande zu bringen.
Nonnen von Maalula
Zuvor, am 10. März, waren 150 Frauen und Kinder, die vom Regime festgehalten wurden, gegen Nonnen aus Maalula ausgetauscht worden. Die Nonnen waren von Kämpfern der Nusra-Front seit Dezember gefangen gehalten worden.
Im grossen und ganzen seien sie gut behandelt worden, erklärten sie nach ihrer Freilassung. Berichten nach sollen die Geiselnehmer anfänglich 50 Millionen Dollar gefordert haben. Doch Qatar war nur bereit, 4 Millionen zu bezahlen. Schliesslich sei dann der Austausch zustande gekommen.
Umzingeln, beschiessen, aushungern
Die syrische Armee verfolgt immer die gleiche Taktik, die ihr langsame aber stetige Erfolge einträgt. Sie umzingelt einzelne Nester des Widerstandes, besonders natürlich jene, die von strategischer Bedeutung sind. Diese Nester liegen immer in bewohnten Gebieten. Die Widerstandskämpfer verfügen nicht über Waffen, mit denen sie sich auf freiem Feld gegen die syrische Armee wehren können. Deshalb operieren sie von bewohnten Gebieten aus.
Die syrische Armee beschiesst und bombardiert dann die vom Widerstand gehaltenen Ortschaften und Stadtteile und sucht sie zu isolieren, und zwar so lange, bis den Belagerten die Nahrung ausgeht. Unter Hunger haben in erster Linie wiederum die Zivilisten zu leiden, die sich in den belagerten Ortschaften befinden. Die Kämpfer hingegen beschaffen sich unter Waffendrohung die letzten verfügbaren Vorräte.
Kapitulationen
Dieses Vorgehen hat für die Regierung einen doppelten Vorteil: sie schützt ihre eigenen Soldaten vor Kampfhandlungen. Zudem entstehen Gräben zwischen der Zivilbevölkerung und den Widerstandskämpfern in den belagerten Orten. Solche Belagerungen dauern oft Monate. Nie ist es offenbar den Widerstandskämpfern gelungen, Belagerungsringe der Armee zu sprengen.
Oft haben diese Belagerungen dazu geführt, dass die umzingelten Ortschaften kapituliert haben. Die Zivilbevölkerung erhielt dann Nahrungsmittel. Es wurde ihr erlaubt, ihre Wohnstätten zu verlassen. Davon ausgenommen blieben jedoch alle Kämpfer sowie die Männer und Jugendlichen im Militäralter. Diese letzteren wurden festgehalten und von den Sicherheitsdiensten "vernommen". Die meisten wurden darauf frei gelassen. Doch andere blieben gefangen.
Viele der Ortschaften, die kapitulieren mussten, sind heute unbewohnbar. Sie waren von der syrischen Armee oft wochenlang unter Feuer genommen worden. Die meisten Häuser sind zerstört. Ihre Bewohner vermehren das immer grösser werdende Heer der Obdachlosen, die innerhalb oder ausserhalb Syriens leben.
Die Katastrophe in Zahlen
Die Hilfsagenturen rechnen damit, dass Ende nächsten Jahres, dem vierten Kriegsjahr, die Hälfte der syrischen Bevölkerung aus ihren Häusern vertrieben worden sind. Jeder zweite Syrer ist dann innerhalb oder ausserhalb des Landes zum Flüchtling geworden. Schon heute ist das syrische Flüchtlingsdrama das bisher grösste im Nahen Osten.
Die Zahl der Flüchtlinge jenseits der syrischen Grenzen liegt bei 2,5 Millionen. Sie wächst immer weiter. Die Hilfsagenturen befürchten, dass sie bis Ende dieses Jahres 4 Millionen erreichen wird. Zudem gibt es 6,5 Millionen Binnen-Flüchtlinge: Menschen, die aus ihren Häusern vertrieben wurden und im Land selbst irgendwo Zuflucht gefunden haben.
Die Zahl der Hilfsbedürftigen wird auf 9,3 Millionen geschätzt. Gegen 250‘000 Personen befinden sich in "belagerten" Städten oder Stadtteilen und werden dort systematisch ausgehungert. Es gibt Beweise dafür, dass allein in den Gefängnissen von Damaskus mindestens 11‘000 Personen an Hunger und Folter gestorben sind. Syrien hat rund 25 Millionen Einwohner.
Schwere Waffen für den Widerstand?
Ahmed Jarba, der gegenwärtige Präsident der Exilregierung, hat in Istanbul einem Korrespondenten der BBC erklärt, die westlichen Staaten hätten der Exilregierung vor der Genfer Konferenz mehr schwere Waffen versprochen. Dies für den Fall, dass die syrische Regierung sich an der Konferenz nicht kompromissbereit zeige.
Dass solche Versprechen gemacht wurden, als die Europäer und Amerikaner versuchten, die widerstrebenden Exilpolitiker zur Teilnahme an der Konferenz zu bewegen, ist wahrscheinlich. In welcher Form allerdings solche Versprechungen abgegeben wurden, mehr unbestimmt oder eher bindend, ist nicht bekannt.
Jarba sagte, ohne schwere Waffen, besonders Raketen zur Abwehr von Flugzeugen und Tanks, sei es "schwierig" für den Widerstand, die Machtbalance zu seinen Gunsten zu verschieben. Dies aber sei notwendig, um die Regierung zu Kompromissbereitschaft zu zwingen. Das Wort "schwierig" hatte Jarba wohl aus propagandistischen Gründen gewählt. Realistischer wäre wahrscheinlich der Ausdruck "unmöglich" gewesen.
Kompromisslose syrische Regierung
Jarba forderte, dass die "Versprechen" nun eingehalten würden. Denn die wichtigsten Staaten der "Freunde Syriens" hätten eingeräumt, dass die Vertreter der Asad-Regierung in Genf sich keineswegs kompromisswillig gezeigt hätten. In der Tat bestanden sie unverrückbar darauf, dass vor allen anderen Fragen jene "des Terrorismus" angepackt werde. Worunter sie alle Handlungen gegen die eigene Regierung verstehen. Sie lehnten es ab, über irgendwelche Konzessionen seitens des Asad-Regimes zu reden.
Die russische Diplomatie nimmt heute die gleiche Haltung ein wie die Asad-Regierung, obwohl sie 2012 in Genf I einem "Übergangsregime" in Syrien zugestimmt hatte.
In wessen Hände gelangen die Waffen?
Werden die versprochenen schweren Waffen geliefert werden? Für die westlichen Lieferanten liegt eine der Schwierigkeiten darin, dass sie nicht wissen, in wessen Hände diese Waffen schliesslich gelangen. Gegenwärtig herrscht zwar Krieg zwischen ISIS und anderen ebenfalls islamistischen Gruppen, das heisst solchen, die ebenfalls einen "Islamischen Staat" anstreben.
Die Freie Syrische Armee (FSA) kämpft ihrerseits sowohl gegen Asad wie auch gegen ISIS. Ihre wichtigsten Verbündeten sind die vielen islamistischen Gruppen, einschliesslich der Nusra-Front. Sie sind finanziell sowie was die Anzahl der Kämpfer als auch die Ausrüstung betrifft am stärksten. Sie alle stehen ausserhalb ISIS.
Dass schwere Waffen der Freien Syrischen Armee in die Hände ihrer Verbündeten gelangen, ist schwer auszuschliessen. Doch die westlichen Freunde Syriens möchten dies vermeiden. Die Waffen dürften daher wahrscheinlich im besten Fall tröpfchenweise an den syrischen Widerstand gelangen. Asads Truppen dürften weiterhin langsam weiter Gelände gewinnen.
Neuer Kalter Krieg
Die Entwicklungen in der Ukraine drohen zu bewirken, dass der Kalte Krieg in möglicherweise etwas veränderter Form zurückkehrt. Russland ist bemüht, Verbündete und Freunde um sich zu scharen. Das lässt sich, was den Nahen Osten angeht, am Moskau-Besuch des iranischen Präsidenten Rohani ablesen. In Sachen Syrien stehen Russland und Iran vorläufig auf der gleichen Seite, auf jener Asads. Wenn der Westen gegen Russland Sanktionen beschliesst, werden Russland und Iran weiter zusammenrücken.
Vor Rohani wurde in Moskau auch der neue ägyptische Machthaber as-Sissi empfangen. Der von as-Sissi abgesetzte Präsident Mursi stand auf Seiten des syrischen Widerstandes. As-Sissi neigt schon aus diesem Grunde eher dem Asad-Regime zu. Hamas in Gaza wird von as-Sissi wegen der Kämpfe im Sinai als ein bitterer Feind eingestuft. Hamas hatte sich seinerzeit gegen Asad und für den syrischen Widerstand entschieden.
Syrien – eine Nahostkrise wie viele andere
Der wichtigste Effekt der Ukraine-Krise ist jedoch für Damaskus, dass Syrien vergessen wird. Die Ukraine-Krise hat weltpolitische Bedeutung. Dies bewirkt, dass sich alle Staaten und deren Bürger direkt von ihr betroffen sehen. Die syrische Krise ist primär und jedenfalls in ihrem heutigen Stadium eine Nahostkrise, neben vielen anderen. An nahöstliche Krisen hat sich die Welt nachgerade gewöhnt. Sie werden als endemisch gesehen. Sie betreffen primär den Nahen Osten selbst, auch wenn sie in andere Regionen ausstrahlen mögen. Dazu kommt, dass in den letzten Jahren alle Versuche der westlichen Staaten, im Nahen Osten einzugreifen, mit Fehlschlägen endeten: Somalia, Afghanistan, der Irak, Libyen. Als kostspielig haben sie sich auch erwiesen. Der Willen des Westens, es noch einmal zu versuchen, ist dementsprechend gering geworden.