Die Schweiz zählt viele kaum bekannte Bibliotheken. Manche sind in ihrem Bestand bedroht. Eine neue Publikation beleuchtet 84 monastische Büchersammlungen. Im «Handbuch der Schweizer Klosterbibliotheken» öffnet sich eine wahre Fundgrube!
Wer kennt es nicht, das Unesco-Weltkulturerbe in St. Gallen? Die weltberühmte Stiftsbibliothek sei eine «Heilstätte der Seele» oder «Seelen-Apotheke». So heisst es auf einer Kartusche über dem Portal; sie trägt die griechische Inschrift ΨYXHΣ IATPEIONN. Eine träfe Metapher für diesen eindrücklichen Raum, gestaltet im Überschwang des verspielten Rokoko. Der zweigeschossige Lesesaal mit seinen bedeutenden Handschriften und der unendlichen Fülle an wertvollem Wissen wirkt wie ein Magnet: Zehntausende besuchen ihn jedes Jahr. Die Stiftsbibliothek St. Gallen, gegründet 612, zählt zu den ältesten bestehenden Bibliotheken der Welt – neben der Bibliothek des Katharinenklosters auf dem Sinai (um 550). Sie bewahrt rund 400 Codices auf, geschrieben vor dem Jahr 1000.
Über die Klostermauern hinaus bekannt machen
Im neuen Vademecum kommen auch die repräsentativen historischen Bibliotheken alter Benediktinerabteien wie Einsiedeln, Engelberg, Disentis und Fischingen zur Sprache sowie die Handschriften- und Buchbestände der ehemaligen Zisterzienserklöster Muri und Wettingen. Die Publikation dokumentiert den kulturellen Bestand dieser wertvollen Bibliotheken. Sie ist in drei Sprachen erschienen und will «das Wissen (…) für die Zukunft sichern», wie es im Geleitwort heisst.
Diese Intention gilt für alle klösterlichen Büchersammlungen der Schweiz. Und das ist auch die Absicht dieses gewichtigen Kompendiums: Es ist die Frage, «wie das spirituelle Feuer der Mönche und Nonnen in die Zukunft weitergetragen werden kann», ein Feuer, das auch vom Jahrhunderte alten Erbe der Religionskultur zehrt. Denn, so betont das Geleitwort, «in allen Ordensgemeinschaften spielen die Bibliotheken als Orte der religiösen und weltlichen Bildung eine zentrale Rolle. Sie strahlen manchmal weit über die Klostermauern hinaus, sind in vielen Fällen aber kaum bekannt.» Sie bekannter zu machen, auch darin liegt der grosse Wert dieses umfassenden, bebilderten Werkes.
Die Publikationsidee für dieses Grundlagenwerk entstand in der Stiftsbibliothek St. Gallen – inspiriert auch von der Arbeitsgemeinschaft der Schweizer Stiftsbibliothekare. Projektleitung und Redaktion lagen bei der Fachstelle schriftliches Kulturerbe der St. Galler Stiftsbibliothek und ihrem Leiter Albert Hollenstein. Mitgewirkt und akribisch recherchiert haben 26 Bibliothekarinnen und Archivare. Ein spezielles und wichtiges Kapitel widmet sich dem aktuellen Forschungsstand; es verweist auf die Forschungslücke bei den Frauenklöstern.
Die Klosterbibliotheken sind nach Standorten alphabetisch geordnet, vom Kapuzinerinnenkloster Maria Hilf in Altstätten (SG) über die Benediktinerabtei Mariastein und die Benediktinerinnen von Müstair bis zum Frauenkloster Maria Opferung in Zug. Erfasst sind Bestände von Klöstern, die vor 1800 gegründet worden sind und heute noch bestehen. Dazu Bibliotheken von Klöstern, die zwischenzeitlich aufgehoben, aber vom gleichen Orden wieder errichtet wurden, wie beispielsweise das Kapuzinerkloster Delémont. Aufgelistet sind auch jene Klosterbibliotheken, die nach ihrer Aufhebung an anderen Orten aufbewahrt sind, meist in staatlichen Bibliotheken. Dazu gehören u. a. die Bibliotheken der Kartause Ittingen bei Frauenfeld oder der Benediktinerabtei Pfäfers.
Wie mit dem kulturellen Erbe umgehen?
Die Zivilisationsdynamik mit ihrem radikalen Wandel «wird in absehbarer Zeit zur Auflösung zahlreicher religiöser Gemeinschaften in unserem Land führen», schreiben die Autoren nüchtern. Mit dem Verlust eines Klosters ist immer auch der Verlust des kulturellen Erbes verbunden. Das gilt insbesondere für die vielen und kostbaren Bibliotheken des franziskanischen Reform-Bettelordens der Kapuziner.
Dazu zählt ihre «Urbibliothek»; sie steht im ersten und ältesten Kapuzinerkloster auf Schweizer Boden, im Tessiner Kloster Bigorio von 1535. Erwähnt sei auch die Wesemlin-Bibliothek in Luzern als die grösste und wichtigste der Schweizer Kapuziner mit rund 34'000 Titeln und 550 Inkunabeln. *) Was die mittelalterlichen Codices, diese prachtvollen Handschriftenbücher, betrifft, so sticht die «Bibliothèque du couvent des Cordeliers de Fribourg» (Minoriten) hervor. Das Kloster der Franziskaner-Konventualen besteht seit 1256 – ohne einen einzigen Unterbruch.
Einblick in eine reiche Geschichte
Es ist ein Verdienst dieses Handbuches, dass auch die Buchbestände der Frauenklöster minuziös beschrieben werden. Das Kompendium gibt beispielsweise vertieften Einblick in die Bibliothek der Franziskaner-Tertiarinnen von Muotathal; das Minoritinnenkloster St. Josef geht auf das späte 13. Jahrhundert zurück. Zur Sprache kommen auch die vielen Bibliotheken der Kapuzinerinnen. Genannt seien lediglich die Frauenklöster Notkersegg in St. Gallen, St. Klara in Stans und Maria Opferung in Zug.
Wer in dieser wertvollen Publikation liest, wird immer wieder verweilen. Er wird blättern, umblättern, zurückblättern, weiterblättern und dabei unendlich viel Wissenswertes über die alten Klöster und ihre Gründung, ihre wechselvolle Geschichte und ihre Bibliotheken vernehmen. Die klar und konsequent strukturierte Gliederung der Einzelartikel erleichtert eine vergleichende Lektüre: Jeder Beitrag zu den verschiedenen Klöstern besteht aus vier Abschnitten. Den Eckdaten zur Institution folgen der Bestand und ein Kurzbeschrieb der Bibliothek, dazu eine Auswahlbibliographie.
Auch hier wird deutlich: Klöster waren für unsere Kultur prägend, als Orte geistlichen Lebens, als Stätten des Handwerks und der Landwirtschaft, als Raum der Medizin und der Wissenschaft sowie der Kunst und der Bildung. Mittelalterliche Klosterbibliotheken bewahrten den antiken Wissensschatz und hielten zeitgenössische Werke für die Nachwelt fest.
Den Reichtum bestehender und ehemaliger Klosterbibliotheken darzustellen und eine Synopsis zu schaffen, das ist das Verdienst dieses sorgsam edierten Handbuches der Schweizer Klosterbibliotheken. Es ist glücklicherweise rechtzeitig erschienen!
*) Vgl. Hanspeter Betschart: Die Historische Bibliothek und die Nuntien-Galerie im Kapuzinerkloster Wesemlin. Lindenberg: Kunstverlag Josef Fink, 2023.
Handbuch der Schweizer Klosterbibliotheken/Répertoire des bibliothèques conventuelles de Suisse/Repertorio delle biblioteche degli ordini religiosi in Svizzera. Herausgegeben von der Stiftsbibliothek St. Gallen, bearbeitet von Albert Holenstein. Basel, Schwabe Verlag, 2022, 509 S.