Auch im Digital-Paradies China muss selbstverständlich immer noch analog getreten werden, um mit dem Fahrrad vorwärts zu kommen. Doch der Velo-Boom, der das einstige Velo-Königreich seit knapp einem Jahr überflutet, hat seinen Ursprung in einer digitalen Innovation. Vor anderthalb Jahren gründete der ehemalige Uber-General Manager David Wang die Firma Mobike. Grundidee: Mit GPS ausgerüstete Fahrräder können irgendwo gestartet und irgendwo wieder stehen gelassen werden. Mittels QR-Code wird das Fahrradschloss geöffnet oder geschlossen, und damit wird auch von einem Deposit abgezogen bezahlt. Kostenpunkt für den Benutzer pro Stunde 1 Yuan oder umgerechnet nicht ganz 15 Rappen. Angefangen hat Mobike-Wang sein Experiment an Universitäten. Es wurde sofort zu einem durchschlagenden Erfolg.
Darling der Investoren
Im Gegensatz zum Taxi-Dienst Didi Chuxing oder Uber benötigt Mobike jedoch nicht nur innovative Technologie, sondern handfestes Kapital. Der Dienst nämlich funktioniert nur, wenn entsprechende Fahrräder zur Verfügung stehen. Und das kostet Geld. Doch bald stellte sich heraus, dass Mobike und die Konkurrenten Ofo, Bluegogo, HelloBike, Ubike, BeeFly und 24 weitere Anbieter in ganz China zu Darlings der Investoren wurden. Der chinesische IT-Riese Tencent etwa investierte 300 Millionen US-Dollar bei Mobike oder der Handy Hersteller Xiaomi und Taxi-Dienstleister Didi Chuxing beteiligten sich mit 450 Millionen bei der Konkurrenz Ofo. Die Velo-Produzenten freut es. Ein Rad wird für 300 bis 800 Yuan (umgerechnet rund 45 bis 110 Franken) verkauft. Derzeit sind rund zwei Millionen Velos in knapp 40 chinesischen Städten unterwegs. Zahl steil steigend.
Profitabel?
Ob das Geschäft trotz schnell wachsenden Umsatzzahlen auch profitabel betrieben werden kann, steht vorerst noch in den Sternen. Unter den Anbietern nämlich tobt ein gnadenloser Konkurrenzkampf. Derzeit kostet die Minute beispielsweise in Peking bei den meisten Anbietern, zumal bei den grossen Mobike, Ofo oder Bluegogo, kaum je den geforderten einen Yuan pro Stunde. Meist wird gratis und franko pedalt. Vorerst jedenfalls. Die Zahlen zeigen, dass das Angebot grossen Zuspruch findet. Benutzten 2015 in ganz China nur 2,45 Millionen Chinesinnen und Chinesen den Dienst, waren es im vergangenen Jahr bereits 19 Millionen. Im laufenden Jahr wird mit über 50 Millionen gerechnet. Zur Verfügung stehen derzeit nicht ganz zwei Millionen Fahrräder. In wenigen Jahren sollen es dann zwischen zehn und zwanzig Millionen sein.
Grün, praktisch, billig
Fahrräder Teilen ist im Dschungel der umweltverschmutzten Städte Chinas eine hochwillkommene Entwicklung. Velofahren ist grün, praktisch, bequem und billig. Fuhren in den 1980er-Jahren noch mehr als 60 Prozent der Chinesinnen und Chinesen mit dem Velo zur Arbeit, waren es im Jahre 2000 noch 40 Prozent und 2015 nur noch 10 Prozent. Bis ins Jahr 2020 sollen es dann wieder 20 Prozent sein. Um das Ziel zu erreichen, lobt die Regierung dem einzelnen eine Subvention von zehn Prozent beim Kauf eines Fahrrades aus. Doch die meisten kaufen nicht mehr, sondern schaffen sich mit einer Velo-App Zugang zu den überall, vor allem an U-Bahn-Stationen, herumstehenden Fahrrädern. Den Behörden bleibt keine Wahl. Die Auto-Lawine droht die Innenstädte zu überrollen.
Die „letzte Meile“
In den meisten Städten ist in den letzten zwanzig Jahren massiv in den öffentlichen Verkehr investiert worden, zumal in U- und S-Bahnsysteme. Zudem sind die Parkplatzkosten in die Höhe geschossen und erreichen mittlerweile Schweizer Niveau (bei weit tieferen Löhnen). Das hat auf die Autofahrer bereits einige Wirkung gezeigt. Freilich fehlte die „letzte Meile“, will sagen der Weg von zu Hause zur Untergrundbahnstation und von der U-Bahn zum Arbeitsplatz. Genau diese Lücke versuchen nun die Fahrradanbieter zu schliessen mit ihren bunten, trendigen, meist leichten Stahl- beziehungsweise Alu-Rössern: Mobike in Orange-Grau, Ofo in grellem Gelb oder Bluegogo in Tiefwasserblau. Untersuchungen zeigen, dass die meisten Nutzer gerade einmal ein bis drei Kilometer pedalen und nur ein knappes Drittel drei bis fünf Kilometer weit radelt.
Diebstahl, Vandalismus, Vorschriften
Mit derzeit fast 800 Millionen Smart-Phone-Nutzern in ganz China ist die Velo-App allgemein zugänglich. Seit neuestem reglementiert die Regierung den Zugang. Ungleich früher kann die App nicht mehr anonym erworben werden, man muss sich unter dem richtigen Namen registrieren. Darüber hinaus muss man Unfall- und haftpflichtversichert und älter als 12 Jahre sein. Auf der App ist auf einer Karte ersichtlich, wo die nächsten Fahrräder stehen. Allerdings hat sich in den letzten Monaten gezeigt, dass Unordnung beim Parkieren sowie Verlust, Diebstahl und Vandalismus Probleme bereiten. Die Velo-Unternehmen reagieren, vor allem aber auch die Lokalregierungen, mit Vorschriften. Bei Haltestellen des öffentlichen Verkehrs etwa müssen neuerdings Fahrräder in die von den Behörden auf den Boden gezeichneten Parkfeldern abgestellt werden. Einige Städte haben Höchstzahlen festgeschrieben, an die sich die Anbieter strikte halten müssen.
Selbstdisziplin
In den meisten Städten sind Elektro-Bikes – der neueste sich abzeichnende Geschäftsboom – rundweg „für eine Weile“ gänzlich verboten worden. Schliesslich hat die Verkehrspolizei alle Hände voll zu tun, die Velo-Flut einigermassen in Schranken zu halten. Ähnlich wie in der Schweiz missachten beispielsweise in Peking Velofahrer und Velofahrerinnen sämtliche Verkehrsregeln, meist ohne gebüsst oder zurechtgewiesen zu werden. Fu Weigang, Professor in Shanghai, verfolgt das Ganze gelassen und rät: „Selbstdisziplin ist wichtig.“ Velo Teilen gelinge, meint Fu, wenn Menschen das „moralische 1-mal-1 kennen und verbessern“, um gleich anzufügen: „Aber auch Strafen könnten hilfreich sein.“
Ihr Korrespondent bewegt sich nur noch selten gemächlich mit seinem schweren, schwarzen und alten Stahlross mit Stängeli-Bremsen durch Peking. Doch die neue Velo-Welle hat, wie der Kommentator der englischsprachigen Regierungszeitung „China Daily“ schreibt, vor allem positive Seiten: „Die Velo-Welle schafft nicht nur eine umweltfreundliche Art, sich in Städten zu bewegen, sondern unterstreicht die kombinierte Rolle von Technologie, Innovation und Marktkräften. Damit werden Ressourcen besser verteilt und die Umweltverschmutzung verringert.“ So ist es.