IS versucht gegenwärtig im Süden von Damaskus Fuss zu
fassen. Vorstossversuche in Yarmuk am Südrand der Hauptsstadt und in der Quneitra Provinz an der israelischen Grenze wurden vereitelt.
Bewegungen von IS im Raum südlich von Damaskus werden gemeldet. Sie kamen überraschend, was den Gepflogenheiten von IS entspricht, wenn es darum geht, eine neue Region unter die Herrschaft des «Islamischen Staates» zu bringen. IS hat seine Hauptstadt in Raqqa, im fernen Osten Syriens, und er beherrscht weite Gebiete des Nordostens bis in die Nähe von Aleppo. Einst hatte IS auch eine Gegenwart in den
Provinzen westlich der Hauptachse Syriens, die Damaskus mit Aleppo
verbindet und in Teilen von Aleppo selbst. Doch aus diesen westlichen
Gebieten wurde IS vertrieben, als «der Staat» im Januar 2014 mit
anderen Gruppen des Widerstands gegen Asad blutig zusammenstiess.
Die Gegespieler von IS
Die wichtigsten dieser Gruppen waren die weitgehend «säkulare» FSA
(Freie Syrische Armee), die islamistische Koalition «Ahrar al-Scham», der zahlreiche Gruppen angehören,die alle einen islamischen Staat
in Syrien anstreben, die aber von al-Kaida fern geblieben sind und
schliesslich die Nusra Front, die sich Kaida unterstellt hat. Alle
drei zusammen mit weiteren kleineren Verbündeten wandten sich gegen IS in den Provinzen Idlib, Aleppo, Hama und Homs, nachdem eine lange Zeit der Spannungen und Reibungen vorausgegangen war.
Der Krieg der Milizen im Januar 2014
Ausgelöst wurde der Krieg der Milizen durch eine offen geführte
Gewaltaktion von IS. Seine Kämpfer überfielen am 10.Dezember 2013 den Flecken Maskana in der Provinz Aleppo. Sie war damals in der Hand von Milizen der «Ahrar al-Scham»- Gruppe. IS nahm ihre Anführer gefangen. Unter ihnen befand sich ein weit herum bekannter Arzt und angesehener Kommandant, der sich Abu Rayyan nannte (sein bürgerlicher Namen war Hussain al-Sulaiman). IS folterte ihn zu Tode.
Die Kämpfer von Abu Rayyan waren auch zuständig für den Grenzübergang in die Türkei von Bab al-Hawa. Vermutlich versuchte IS diesen in seine Gewalt zu bringen. Es war diese Untat, nach vielen anderen politischen Morden, die das Fass schliesslich zum Überlaufen brachte. IS wurde aus den westlichen Teilen Nordsyriens vertrieben. Später sammelte der Staat seine Kräfte in Raqqa, erhielt Hilfe aus dem Irak und konsolidierte sein «Staatsgebiet» in Ostsyrien, am Euphrat.
Idlib heute - gänzlich befreit
Die gebirgige Provinz Idlib, die an den türkischen Hatay angrenzt (das
ist das Gebiet von Antiochien, das in das heutige Syrien nördlich von
Lattakya hineinragt), war seit dem Beginn der Aufstandsbewegung gegen Damaskus eine Hochburg des Widerstandes gewesen. Viele Gruppen kämpften dort. Darunter auch IS, doch IS wurde damals aus Idlib vertrieben. Im Verlauf der beiden folgenden Jahre wurde die Nusra
Front in Idlib zur führenden Gruppe. Sie überwand die Aharar al-Scham
in Idlib in einer blutigen Konfronation im Dezember des vergangenen
Jahres. Viele der Kämpfer von Ahrar schlossen sich Nusra an. Im März
dieses Jahres eroberte eine unter der Führung von Nusra vereinigte
Front mehrer Kampfgruppen, die sich «Heer der Eroberung» (Dschaisch al-Fath) nennt, die Hauptstadt von Idlib mit gleichem Namen wie die Provinz, in der sich bisher Truppen Asads gehalten hatten.
Etwas später eroberte die gleiche Allianz Jisr al-Schaghrur, einen Flecken an der Westgrenze der Idlib Provinz. Er ist von strategischer
Bedeutung, weil er die Strasse beherrscht, die Aleppo mit Lattakiya
verbindet. Das heisst, für den Widerstand bietet Jisr al-Schaghur ein
Einfallstor nach der Mittelmeerprovinz Lattakya, das Herzgebiet der
Alawiten und damit Kerngebiet des Regimes. Gegenangriffe der syrischen Regierungsarmee wurden abgeschlagen, und es hat den Anschein als sei Nusra nun in der Lage, sich seinerseits ein eigenes Herrschaftsgebiet in Idlib, Nordwestsyrien, einzurichten, dem Raqqa der IS als Vorbild dient.
IS Ableger im Süden?
All dies ist Voraussetzung dafür, was gegenwärtig geschieht. IS
versucht gegenwärtig, den «Nusra Staat» von Idlib zu
überspringen und im Süden von Damaskus ein zweites eigenes
Herrschafts- oder Einflussgebiet zu errichten. Gelänge dies, könnte IS
die Nusra-Front von zwei Seiten her in die Zange nehmen und sich
zugleich auch noch als der gefährlichste Feind von Damaskus
profilieren. Die südliche Front ist von grosser Bedeutung, weil sie
relativ nahe an der Hauptstadt verläuft.
Ansturm gegen das palästinensische Lager Yarmuk
Beim Versuch, seine Macht nach Süden auszudehnen, geht IS genau so vor, wie er dies 2013 zur Inbesitznahme seiner Kerngebiete in Ostsyrien tat und wie es die neue Veröffentlichung von Christoph Reuter beschreibt. Kämpfer von IS tauchten unversehens in Yarmuk auf. Yarmuk war das grösste Flüchtlingslager der Palästinenser in Syrien. Es lag ursprünglich südlich von Damaskus. Doch es ist über die Jahrzehnte hinweg eine eigene Stadt geworden mit etwa 180 000 palästinensischen Bewohnern, die südlich an den Stadtkörper von Damaskus als Aussenquartier anschliesst.
Die Palästinenser von Yarmuk entschieden
sich, nicht ohne innere Auseinandersetzungen, für den syrischen
Aufstand und gegen die Asad Regierung. Dies trug ihnen eine Belagerung ein mit dem Versuch sie auszuhungern. Was nun schon über zwei Jahre dauert. Die syrische Armee hat die nördlichen Ausgänge des Lagers gesperrt. Im Inneren leisten bewaffnete Palästinenser unterschiedlicher Gruppen Widerstand. Nach Süden und Westen hin gibt es offenbar Schleichwege, die in andere Aussenquartiere von Damaskus führen. Aus ihnen waren die IS Bewaffneten infiltriert.
Einen Augenblick lang schienen sie das ganze Lager in ihre Gewalt
gebracht zu haben. Grosse Mengen der verbliebenen zivilen Bewohner
flohen. Das Asad Regime schlug den Palästinensern vor, die Armee in
das Lager einziehen zu lassen, damit sie ihnen helfen könne, die IS
Leute zu bekämpfen. Doch die Palästinenser lehnten dies ab. Ihre
eigenen Bewaffneten schlugen die IS-Kämpfer zurück. Offenbar waren es weniger als es im ersten Moment der Überraschung geschienen hatte.
Überfall auf die FSA-Kämpfer im Süden
Doch Yarmuk war nur ein erster Versuch, im Süden Fuss zu fassen. Am vergangenen 27. April wurde plötzlich ein Geleitzug von Kämpfern der FSA (Freie Syrische Armee), die im Süden als die stärkste Kampfpartei gilt, überfallen. Ein Hinterhalt auf der Strasse war gegen sie gelegt worden, als ihre Fahrzeugkolonne sich auf die Front zu bewegten. Sechs ihrer Kämpfer, darunter die beiden führenden Offiziere wurden erschossen, 20 gefangen genommen, vier entkamen verwundet.
Die Angreifer stellten ihnen nach aber wurden ihrer nicht habhaft.
Sämtliche Fahrzeuge, darunter solche die mit Munition beladen waren,
blieben im Besitz der Angreifer. Diese gehörten zu einer «Dschihad
Armee», die offiziell nicht IS angehört, jedoch bis hin zu den
Fahnen, in der Ideologie und den Ungläubikeits-Vorwürfen gegenüber
allen anderen Gruppen, dem Vorbild von IS folgt. Bisher hatte die «Dschihad Armee» mit den anderen Gruppen locker zusammengearbeitet. Ihr Zentrum hatte sie in dem Flecken Qahtaniya errichtet, nah an der Grenze zum israelisch besetzten Teil der Quneitra Provinz (der als Golan Höhen bekannt ist).
Rechtsspruch in Deraa
Deraa, die syrische Grenzstadt nach Jordanien, befindet sich im Besitz
der FSA und verbündeter Milizen. Dort gibt es ein Gericht, das für
die von den Milizen beherrschten Gebiete zuständig ist. Dieses Gericht
liess am nächsten Tag einen Aufruf ergehen an sämtliche Kampfgruppen, welche die «Charta der Südlichen Region» unterzeichnet hatten, mit der Aufforderung die Chefs der «Dschihad Armee» gefangen zu nehmen und vor das Gericht zu bringen. Das Gericht warf ihnen vor, den Überfall auf Mitkämpfer organisiert zu haben und auch, die Mitkämpfer durch "Takfir" (Ungläubigkeitsanklage) zu verleumden.
Zusammenschluss gegen die «Jihad Armee»
Auf diesen Auruf hin versammelten sich Kämpfer von Nusra, Ahrar
al-Scham, FSA, der Yarmuk-Armee, Ahrar Nawa und andrer Gruppen, alle Unterzeichner der oben erwähnten Charta, und begannen am nächsten Tag, dem 28. April, den Kampf gegen die «Jihad Armee» in Qahtaniya und Umgebung, nah an der Trennungslinie zu den Golan-Gebieten. Nach der Website von Ahrar al-Scham dauerten die Kämpfe bis zum Abend des gleichen Tages an. Dutzende von Kämpfern der «Jihad Armee» seien getötet worden, ihr Kommandant, ein gewisser Abu Musab al-Fenoussi sei verwundet worden.
Standartprozeduren des IS
Das Vorgehen der «Jihad Armee » entspricht genau den Gewohnheiten von IS : Zunächst Zusammenarbeit mit den anderen Kampfgruppen, verbunden mit deren Ausspionierung, doch dann überraschend ein möglichst vernichtender Überfall auf sie, mit dem Ziel ihre Kommandostruktur zu zerbrechen und dem Versuch, ihre Kämpfer auf die eigene Seite zu locken.
Von der «Jihad Armee» wissen die anderen Kampfgruppen der Region,
dass sie aus lauter Syrern besteht, ohne fremde Kämpfer. Kleinere
Gruppen, die unter den Namen Saraya Jihad, Jund al-Islam, Mudschahedin al-Scham und ählichen bekannt waren, hätten sich zu der «Jihad Armee» zusammengeschlossen. Diese habe als eine informelle Tochterorganisation von IS gegolten, weil sie deren Ideologie und Methoden übernommen habe.
Gemeinsam gegen IS
Ob diese „Jihad Armee“ nun aufgerieben werden kann, oder ob es ihr
gelingt, sich in den Untergrund zurückzuziehen, bleibt zurzeit
abzuwarten. Personalmässig war sie offenbar der vereinigten
Streitmacht ihrer Gegner unterlegen. Dass die verschiedenen
Widerstandsgruppen trotz ideologischer Unterschiede und Rivalitäten
ihrer Anführer nun gegen IS zusammenarbeiten ist neu. Offenbar haben
auch sie erkannt, dass sie einzeln Gefahr laufen, von IS übermannt und
ausgeschaltet zu werden, jedoch gemeinsam in der Lage sind, IS
abzuwehren.
Zusammenschluss auch in Idlib
Ähnliche Schlüsse haben auch die verschiedenen Milizen von Idlib
gezogen. Auch sie haben einen Zusammenschluss durchgeführt, der unter dem Namen «Armee des Islams» gemeinsam kämpft. Ihm sind die jüngsten Erfolge in Idlib, wie die Einnahme der Provinzhauptstadt und jene von Dschisr al-Schaghur, zu verdanken. Im Augenblick sieht es so aus, als hätten die anderen Kampfgruppen gelernt, auf die Methoden von IS zu reagieren und neuerdings zu vermeiden dem «Staat» vereinzelt und dadurch schwach oder sogar manipulierbar entgegenzutreten.
*Christoph Reuter: Die schwarze Macht. Der «Islamische Staat» und die Strategie des Terrors. Ein Spiegel-Buch, DVA Sachbuch, April 2015, ISBN: 978-3-421-04694-9